"Wir sind wie alle anderen"

Soziale Medien Die Türkei hat den Zugang zu Twitter blockiert. Kurz zuvor hatte Premierminister Recep Tayyip Erdoğan gedroht, das Netzwerk und seine "Roboter-Lobby" auszurotten
"Wir sind wie alle anderen"

Quelle: https://twitter.com/AEMazlumoglu/status/443165716682784768

Glaubt man dem türkischen Premierminister Recip Tayyib Erdogan, werden Plattformen wie Facebook , Twitter und YouTube in der Türkei für alle möglichen „unmoralischen“ Dinge und „Spionage“ benutzt. Im vergangenen Sommer ging der Premier sogar so weit, besagte soziale Medien als „schlimmste Bedrohung für die Gesellschaft“ der islamischen säkularen Republik mit ihren 74 Millionen Einwohnern, von denen zwischen fünfzig und sechzig Prozent unter dreißig Jahre als sind, zu bezeichnen. Erdogan klagte, eine aus „ruchlosen Kräften bestehende „Roboter-Lobby“ versuche, seine Regierung mit Tweets zu stürzen (sein eigenes Twitter-Profil hat 4,16 Millionen Follower und wird, nehme ich einmal an, von einem Presseteam unterhalten).

Selbst Erdogans Frau schaltete sich ein und brachte ihre Besorgnis über das Thema „Techniksucht“ zum Ausdruck. Soziale Medien, so Emine Erdogan, seien schlimmer als Alkohol, Drogen und Glücksspiel.

Am vergangenen Wochenende wurde Berkin Elvan beerdigt. Der 15jährige verstarb neun Monate nachdem er während der Gezi Park-Proteste von einem Tränengasgeschoss der Polizei getroffen wurde. Sein Tod löste eine neue Protestwelle aus. Erdogan kam kein Wort des Beileids über die Lippen. Ironischerweise betonte er stattdessen seine Technikaffinität: Seine Rolle sei, „Kindern Tablet-Computer zu geben“, statt sie mit „Moltowcocktails, Steinen oder Zwillen auszustatten“, verkündete er.

Doch wer sind diese mächtigen Roboter, die auf Twitter „Hashtag-Kriege“ lancieren? Man denkt an Kampfstern Galactica. Ist meine Schwester Soldatin in dieser Roboter-Lobby?Werden ihre Augen sich in Laser verwandeln, die unser Essen am familiären Mittagstisch verkohlen lassen werden?

Vielleicht ist was dran an dem, was die Erdogans sagen – sind wir wirklich eine Generation der narzisstischen Millenials? In der vergangenen Woche nahmen zwei junge Männer sogar während einer Polizeirazzia ein Selfie von sich selbst auf und verbreiteten es über Twitter. Das Bild, das an das berühmte Oscar-Selfie der amerikanischen Komikerin Ellen Degenres angelehnt ist, zeigt trotzig grinsende Demonstranten, die in einem Polizeitransporter verfrachtet werden. Als ein „Ellen Selfie“ fand es virale Verbreitung.

Engin Önder ist einer diese „Techniksüchtigen“, die die Offline-Ruhe des Premiers stören. Önder gehört zu den Gründern des beliebten türkischen Bürgerjournalismus-Netzwerks 140journos. Er und seine Freunde verbreiten seit Anfang 2012 Nachrichten über Twitter. Sie habe inbrünstig von linken, konservativen und LGBTQ-Protesten getwittert, aber auch aus Gerichtssälen, zu denen akkreditierte Journalisten keinen Zugang hatten. Önder kommt mir nun wirklich nicht vor wie ein Mitglied irgendeiner Roboterarmee – dennoch bleibe ich skeptisch.

"Vor 140journos war ich nur auf einer einzigen Demo gewesen", erzählt er - im Juni 2011 habe er an einer "Don't touch my Internet"-Demonstration teilgenommen. Wenn diese Twens sich also nicht gegen die Regierung verschwören, was sind dann ihre Absichten? Sein Mitgründer Cem Aydogdu etwa wollte Bürgernachrichten bringen, weil sein Vater ihn Zuhause rausgeworfen hatte, weil er alternative Zeitungen las. "Cem wollte seinen Eltern eins auswischen und seinen Vaters umstimmen“, sagt Önder.

Als die Gezi Park-Proteste losgingen, wuchs das 140journos-Netzwerk beinahe über Nacht um das Sechsfache. Seine Timeline spiegelte die Sorgen und Nöte junger Menschen aus der ganzen Türkei. Die 140journos-Mitarbeiter waren so sehr damit beschäftigt, rund um die Uhr tausende von Tweets zu verifizieren und zu kuratieren, dass sie Önders kleine Wohnung in Istanbul tagelang nicht verließen.

Für die türkische Generation Y, die mit dem Internet aufgewachsen ist, wird die Verteidigung der Freiheit, online Informationen teilen zu können, zu einem äußerst wichtigen – wenn nicht gar dem wichtigsten – politischen Thema. Fast die Hälfte von ihnen ist jeden Tag online. Oftmals sind sie bereit, sich persönlichen Risiken auszusetzen, um Bilder von der vordersten Front der Proteste machen zu können.

Viele versuchen, sich einen Weg aus der politischen Krise zu bahnen, die sich um sie herum immer weiter zuspitzt. Die sich verschärfende Polarisierung wird durch die kriegerische Rhetorik Erdogans noch vertieft. Die Generation Y twittert sich durch Tränengasschwaden, um zu zeigen, wie absurd die reduzierenden Narrative der politischen Eliten sind. Sie machen sich lustig über die abwertende Sprache der Regierungsvertreter. Und sie nehmen die Mainstream-Medien auf die Schippe, von denen sie so falsch dargestellt werden.

Die jungen türkischen Demonstranten dokumentieren ihren Kampf nicht auf Twitter, weil sie so eitel wären. Ja, sie wollen gesehen werden – aber nicht, um „Likes“, „Stupser“ oder „Freunde“ zu sammeln. Sie dokumentieren ihren Widerstand, um ein soziales Mitgefühl für alle zu etablieren. Sie sind nicht auf Selbstbestätigung aus und stecken den Kopf in den Sand, wenn andere von Gewalt betroffen sind. Sie wissen, dass ein gefährliches Gegeneinander entstehen kann, wenn sie nur zu den Jungen und bereits Konvertierten predigen und die übrige türkische Gesellschaft in der analogen Kälte außen vor lassen. Sie wollen nicht mit spaltenden Begriffen beschrieben werden, die Differenzen zementieren.

Cems Vater etwa, der früher nur eine einzige Zeitung las, hat sich zu einem Aktivisten gewandelt, der junge Menschen ermutigt, ihre Berichte an 140jounos zu schicken.

"Wir sind genau wie alle anderen," sagt Ali Emre Mazlumogl. Er ist einer der 13 Demonstranten, die auf dem „Ellen Selfie“ aus dem Polizeiwagen zu sehen sind. „Was uns aber inmitten all des Drucks und der Gewalt besonders macht, ist, dass wir dabei noch lachen.“ Während ihr Premierminister politische Satire oder Karikaturen nicht ausstehen kann und meint, Passanten, die ihm den Mittelfinger zeigen, gehörten ins Gefängnis, klammern junge Türken sich an ihre Mobiltelefone – und an ihren eigenen Sinn für Humor.

Daran wird auch die von Premier Erdogan verhängte Sperre von Twitter nichts ändern. Es werden sich immer Wege finden lassen.

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Burcu Baykurt | The Guardian

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