Wo bleibt Karzai?

Afghanistan Amtsinhaber Hamid Karzai hält sich aus dem Präsidentschaftswahlkampf in Afghanistan raus, auch ein TV-Duell hat er abgesagt. Dabei hat er am meisten zu verlieren

Morgen werden aller Erwartung nach Millionen Afghanen an Fernsehgeräten und Radios die erste Übertragung einer Debatte zwischen den Hauptrivalen der im August stattfindenden Präsidentschaftswahlen verfolgen. Die Organisatoren hatten sich für die an amerikanische Wahlkampf-TV-Duelle angelehnte Debatte einen Schlagabtausch zwischen Amtsinhaber Hamid Karzai und seinen zwei größten Rivalen erhofft – bei diesen handelt es sich um seinen ehemaligen Finanzminister Ashraf Ghani und seinen ehemaligen Außenminister Abdullah Abdullah. Doch nun hat Karzai, dessen eher traditioneller Wahlkampf darauf abzielt, bei Hinterzimmer-Deals die Strippenzieher der verschiedenen Ethnien und Stämme zu gewinnen, sich entschieden, keinen Nixon-Moment zu riskieren.

Der Präsident ziehe seine Teilnahme zurück, hieß es nur 24 Stunden vor dem angesetzten Beginn der Debatte nach Tagen der Unsicherheit aus Karzais Team. Der Präsident wird also Zuschauer bleiben, wenn seine beiden größten Rivalen zwei Stunden Prime-Time im Fernsehen für einen Auftritt nutzen.

Leerer Platz auf dem Podium

Die Produzenten der Show, die mit den drei Wahlkampfteams langwierige Verhandlungen über das Format und die Diskussionsthemen geführt haben, kündigten an, Karzais Sitzplatz werde leer auf dem Podium stehen bleiben – wovon sich wiederum Karzais Helfer entrüstet zeigten. Ein Sprecher Karzais sagte, der Präsident könne nur an der Debatte teilnehmen, wenn sie auf allen afghanischen Fernsehsendern übertragen würde. Außerdem sei der enorm beliebte Sender Tolo TV, der das Duell austrägt, dem Präsidenten gegenüber voreingenommen.

Der im Westen ausgebildete Kandidat Ghani, einst als UN-Generalsekretär im Gespräch, sprach gestern von einem "weiteren gebrochenen Versprechen" von Seiten des Präsidenten. "Erstmals in der Geschichte kommen wir tatsächlich zusammen, um zu zeigen, was unsere potentiellen Präsidenten zu bieten haben. Doch er will nicht debattieren, weil er nichts vorzuweisen hat." Wie bei jeder Wahl hat der amtierende Amtsinhaber bei einer Debatte, in der seine Herausforderer seine Bilanz angreifen können, am meisten zu verlieren.

Der unabhängig ausgerichtete, persisch-sprachige Kabuler Kanal Tolo will so viele Zuschauer wie möglich zum Einschalten bewegen. Die Debatte wird zeitgleich auf seinem paschtunischen Schwesterkanal, sowie seinem landesweit sendenden Radiokanal übertragen.

Wirkung der Debatte ungewiss

Moderator Mujahid Kakar ist als einziger afghanischer Journalist, der im vergangenen Jahr von den Präsidentschaftswahlen in den USA berichtet hat, gut vorbereitet: "Ich habe von allen Debatten berichtet, weiß also, wie wichtig solche Veranstaltungen sein können." Doch angesichts der Tatsache, dass das afghanische Experiment mit direkten, demokratischen Wahlen gerade einmal fünf Jahre jung ist, weiß niemand, ob die Debatte ähnliche Wirkung zeigen wird, wie man es aus Amerika kennt.

Skeptiker meinen, das Land habe sich noch nicht vom Einfluss mächtiger Führer der verschiedenen Ethnien und Stämme über die weitenteils aus Analphabeten bestehende und traditionell eingestellte Bevölkerung befreien können. Tolo-TV-Mitbesitzer Jahid Mohseni hingegen glaubt, der Boom der unabhängigen Medien, den Afghanistan in den jüngsten Jahren erlebte, habe dazu beigetragen, Hürden zu beseitigen und eine modernere Form der Politik zu begünstigen. "Stammes- oder ethnische Zugehörigkeit sind sehr viel weniger wichtig, als in der Vergangenheit. Besonders in den Städten. Zudem helfen Debatten wie diese, die Führer dazu zu zwingen, über die Politik zu reden, mit der wir alle dann die nächsten fünf Jahre leben müssen."

Wahlkampf des 21. Jahrhunderts

Ghani hofft, unabhängig denkende Wähler gewinnen zu können. Er hat einen "Wahlkampf des 21. Jahrhunderts" geführt, wie ein westlicher Diplomat es ausdrückt. Sein Team trumpft mit einer Website à la Obama und gibt per E-Mail mehrere Pressemitteilungen am Tag heraus. Zudem hat er die Gunst einiger wichtiger politischer Akteure innerhalb des demokratischen Establishments der USA erlangen können. Zu diesen zählt auch der führende Kopf der ersten Präsidentschaftskandidatur Bill Clintons.

Karzai hingegen scheint darauf zu setzen, dass alles weiterläuft wie bisher, und hat sich bislang weder die Mühe gemacht, ein Wahlprogramm zu veröffentlichen, noch mehr als eine große öffentliche Wahlkampfveranstaltung abzuhalten. "Er hält sich immer noch nicht für einen Kandidaten!", sagt der Augenspezialist Abdullah, der in den achtziger und neunziger Jahren Prominenz erlangte, als er dem Widerstandsführer Ahmed Shah Massoud als Berater bei dessen Kämpfen gegen die Russen und die Taliban zur Seite stand. "Nachdem er eine goldene Gelegenheit abgelehnt hat, zur Nation zu sprechen, kann er meiner Meinung nach nicht mehr erwarten, dass die Leute ihm noch zuhören werden."

Jobs und Posten versprochen

Der Präsident hat Treffen mit Stammeschefs und Führern der wichtigsten ethnischen Gruppen abgehalten, bei denen er sich um ihre Unterstützung bemühte, indem er ihnen für den Fall seiner Wahl Jobs und Unterstützung versprach. Dabei scheut er sich nicht, auch die windigsten afghanischen Power Broker zu umgarnen. Marschal Fahim zum Beispiel, einen ehemaligen Warlord, den er zu seinem Vizekandidaten erwählt hat. Berichten zufolge hat Karzai Kabinettsposten, Gouverneursämter und sogar die Schaffung neuer Provinzen als Gegenleistung für die Unterstützung der einflussreichen Männer versprochen. Weiterhin ist bekannt geworden, dass er fünf Heroin-Schmuggler begnadigt hat, von denen einer mit dem Kopf seines Wahlkampfteams verwand ist. Karzai streitet allerdings ab, das diese Entscheidung in irgendeinem Zusammenhang mit den anstehenden Wahlen stünde.

Westliche Diplomaten fürchten derweil, solche zu Wahlkampfzwecken gemachten Deals könnten Bemühungen zur Bekämpfung der Korruption und zur Verbesserung der Effektivität der Regierung behindern. Diese wiederum wird als entscheidend betrachtet, um die breite Unterstützung für die Aufständischen der Taliban in andere Bahnen zu lenken.

Karzais Aura bröckelt

Manch einer glaubt aber auch, Karzai habe sich übernommen. "Karzai zählt auf die Warlords, aber ich glaube, er hat die Mehrzahl der Wähler falsch eingeschätzt", meint ein westlicher Experte. "Die Leute sehen nicht auf die Zeit des Dschihad zurück und betrachten Dostum (einen Usbeken, dem Kriegsverbrechen vorgeworfen werden) und Fahim als Helden – sie werden von der Bevölkerung ziemlich verachtet. Einer der Gründe für die Rückkehr der Taliban ist die Herrschaft der Warlords."

Ghani glaubt, die Aura der Unschlagbarkeit, die den Präsidenten umgeben hatte, sei durch Treffen des US-Botschafters Karl Eikkenberry Treffen mit führenden Oppositionskandidaten zerstört worden. In den Augen vieler Afghanen gingen die Amerikaner damit auf Distanz zu Karzai, dessen Büro die Treffen als "direkte Einmischung" der USA in die afghanische Politik bezeichnete. "Außerdem hat er Probleme im Süden und Osten, wo echte Wut über den Präsidenten herrscht", erläutert Ghani in Bezug auf die aufstandsgeplagten Paschtunengebiete, die eigentlich Karzais Hochburgen sein sollten.

Andere sehen die Gründe für das Bröckeln der Position Karzais in seinem glanzlos geführten Wahlkampf: "Er führt Wahlkampf, wie er die Regierung führt", findet ein afghanischer Geschäftsmann. "Überall um ihn herum versuchen die Leute Geld zu stehlen. Sogar die Poster waren von niederer Qualität und der Kleber löst sich in wenigen Nanosekunden."

Stichwahl nicht ausgeschlossen

Als größte Bedrohung für Karzais Aussichten auf eine Wiederwahl gilt Abdullah, der den mächtigen Ustad Atta Mohammad Noor auf seine Seite ziehen konnte. Noor ist Gouverneur der nördlichen Provinz Balkh, die als Leuchtfeuer des Wohlstandes und der Sicherheit gilt.

Ein UN-Beamter erläutert, Karzai sei in ernster Gefahr, wenn es ihm nicht gelänge, 50 Prozent der Wählerstimmen für sich zu vereinen. Dann würde es zu einer Stichwahl kommen. "Es wird immer wahrscheinlicher, dass es in eine zweite Runde gehen könnte. Dann bestünde für Abdullah und Ghani die Möglichkeit ihn zu überbieten. Wenn sie sich untereinander einigen können, haben sie das Potenzial ihn abzusetzen."

Der digitale Freitag

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Jon Boone, The Guardian | The Guardian

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