Ich erinnere mich an Rummy, ich erinnere mich sehr gut an ihn. An all die Pressekonferenzen vor dem Einmarsch in den Irak, an eine Zeit, bevor ich mich für die Armee verpflichtete. An all die Pressekonferenzen nach meinem Kampfeinsatz im Irak als Soldat der Infanterie.
Ich war Maschinengewehrschütze. Unser inoffizielles Motto lautete: Punish the deserving, bestrafe die, die es verdienen. Und ich muss sagen, ich liebte diesen Job. Kurz nachdem meine Einheit Ende 2004 heimgekehrt war, saß ich in einer Militärkantine. Im Fernsehen beantwortete Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, mein Boss, Fragen von einem seiner Angestellten. Ob irgendetwas getan würde, um die Panzerung unserer Fahrzeuge zu verstärken, wollte der Soldat wissen. Rumsfeld sage: „Wie Sie wissen, äh, zieht man mit der Armee in den Krieg, die man hat – nicht mit der, die man sich vielleicht wünscht oder später einmal haben möchte. Ein Panzer kann noch so sehr gepanzert sein und trotzdem in die Luft gejagt werden.“
Ich erinnere mich, wie mir in dem Moment schlagartig klar wurde: Den Leuten in Washington ist es scheißegal, ob Soldaten leben oder sterben. Für die sind wir Zahlen. So sieht es aus. Dafür hatte ich mich verpflichtet.
Nebenwirkungen: Suizid
Erst Jahre später, nachdem ich mich ein wenig mit Militärgeschichte befasst hatte, verstand ich besser, was Donald Rumsfeld hatte sagen wollen. Amerikanische Soldaten sind immer mit der Armee in den Krieg gezogen, die sie hatten. Das heißt nicht, dass es so sein muss – denn, ja, das ist übel. Es heißt einfach nur, dass es so wohl immer gewesen ist. Ich frage mich, ob irgendeiner der Soldaten, die im Winter 1776 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg den Delaware River überquerten, zu Herrn Washington gegangen ist und gesagt hat: „Entschuldigen Sie, Sir. Es ist eiskalt, und wir haben keine Schuhe. Ein paar von uns binden sich alte Lumpen um die Füße. Ich wollte bloß fragen, ob dagegen etwas unternommen wird?“ Krieg ist immer die Hölle. Daran wird sich nie etwas ändern.
Was sich ebenso wenig ändern wird: Je mehr ich versuche, den Irak zu vergessen, desto stärker werde ich daran erinnert. Dabei habe ich mir große Mühe gegeben. Als ich im Kino The Unknown Known sah, den neuen Dokumentarfilm von Errol Morris, in dem er Donald Rumsfeld ins Kreuzverhör nimmt, habe ich vor der Vorstellung versucht, jede Unterhaltung um mich herum auszublenden. Ich wollte nur weg. Zu den vielen Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung zählen unter anderem: das Wiedererleben des Ereignisses, Albträume und Flashbacks, das Meiden von Menschenmengen, das Meiden jeder Situation, die einen an das Ereignis erinnern könnte.
Die Vorführung fand in Marina statt, einem schicken Stadtteil von San Francisco. Ein Pärchen in meiner Nähe vertrat einhellig die Meinung, dass George W. Bush und seine Regierung wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gebracht gehörten. Im Gespräch der beiden wurde jedes linke Argument vorgebracht, das man sich vorstellen kann. Und dann dieses andere Paar. Die Frau erklärte ihrem neuen Freund, wie toll sie es finde, dass am Getränkestand Tee serviert werde. Die beiden hielten Händchen. Sie küssten sich. Sie sprachen über ihren Urlaub.
Mir war zum Kotzen. Wer zum Teufel geht bei einem Date in einen Dokumentarfilm, in dem der Architekt des Irakkriegs sich zu verteidigen versucht? Mir kam ein Ratschlag in den Sinn, den mir eine Psychologin in einem Veteranenkrankenhaus gegeben hatte. Sie sagte damals, sie würde den allen Veteranen geben: „Trinken Sie keinen Alkohol, und nehmen Sie keinerlei Drogen. Und sehen Sie sich auf gar keinen Fall die Nachrichten oder irgendwelche Filme an, die Sie an den Krieg erinnern.“
Die Rumsfeld-Doku hatte noch nicht angefangen, da hielt ich es schon nicht mehr aus. Erst recht nach dem Trailer für diesen total lahmen Tom-Cruise-Film namens Edge of Tomorrow, in dem er einen krassen, futuristischen Supersoldaten spielt, der alles kurz und klein schießt. Ich holte die Packung mit den verschreibungspflichtigen Pillen heraus, die mir im Veteranenkrankenhaus für „Angst im Bedarfsfall“ gegeben worden waren. Meinen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Nebenwirkungen: Suizid) hatte ich bereits intus.
Ich sehnte mich zurück nach Hause. Traurigerweise kann mir mein Ministerium, das U.S. Department of Veteran Affairs, dagegen keine Medikamente verschreiben. Wie sagt man in der Armee? Suck it up and drive on! Augen zu und durch. Nach ein paar Somapillen fühlte ich mich langsam besser. Rumsfeld schwafelte derweil in der Anfangsszene dämlich über all die „Bekannten“ und „Unbekannten“.
Ich weiß noch, wie ich feststellte, dass ich keine Ahnung hatte, wovon Donald Rumsfeld sprach. Ich weiß aber nicht, ob ich deshalb so benebelt war, weil ich durch die Medikamente völlig ausgeknockt war, ob es der Nebel des Krieges war oder was auch immer. Aber ich spürte keinerlei negative Gefühle, während Rumsfeld über die Vergangenheit schwadronierte. Keine negativen Gefühle – aber auch sonst nichts. Ich saß einfach vollkommen leer da. Es war eigentlich egal, was Rumsfeld jetzt zu mir sagte. Es waren einfach nur Worte, so wie es schon immer nur Worte gewesen waren.
Der Schwur des Infanteristen
Ich fühlte mich taub, und ich fühlte nichts. So hat der Krieg mich fühlen lassen. Manchmal lächelte, lachte der falkenhafte Rumsfeld während der Befragung durch Morris. Manchmal schüttelten die Pärchen um mich herum ungläubig die Köpfe, lachten spöttisch oder gaben ein verächtliches „Tss, Tss, Tss“ von sich. Aus einem ist es sogar laut herausgeplatzt: „Lügner!“
Ich stand all dem zwiegespalten gegenüber. Ich kannte dieses desinteressierte Gefühl von drüben: Was bedeuten schon all die Worte? Es ist nicht so, dass meine Armeekameraden und ich stundenlang rumgesessen und außenpolitische Entscheidungen analysiert hätten. Wir hatten einen Job zu erledigen. Etwa: „Feindliche Bodentruppen zerstören und abwehren.“
Ich begann, mich zu langweilen und versuchte, aus dem Gedächtnis das Gelöbnis des Infanteristen in die gelbe Memo-App meines Smartphones einzutippen: „Ich bin die Infanterie. Ich bin die Stärke meines Landes im Krieg und seine Abschreckung im Frieden. Ich bin das Herz des Kampfes – überall, jederzeit. (…) Ich lasse mein Land nicht im Stich, nicht meine Mission, nicht meine Kameraden, nicht meine heilige Pflicht. Ich bin unermüdlich. Ich bin immer da, heute und für immer. Ich bin die Infanterie. Folge mir!“ Das brachte es auf den Punkt.
Gegen Ende des Films loggte ich mich bei Facebook ein. Ich bin mit jeder Menge anderer Veteranen befreundet, und es sah so aus, als würde jeder von ihnen gerade eine Presseerklärung zum jüngsten Amoklauf auf einer texanischen Militärbasis aufsetzen. Ich fragte mich, warum der Schütze von Fort Hood nicht die Hotline des Department of Veteran Affairs angerufen hatte. Man braucht Hilfe oder zumindest mehr Medikamente, und sie schicken einen in die Warteschleife. Dort ertönt die immer gleiche automatische Ansage: „Das Department of Veteran Affairs ist für Sie da. Bei einem psychologischen Notfall oder wenn Sie Selbstmordgedanken haben, legen Sie bitte auf und wählen die 911. Wenn Sie daran denken, andere zu verletzen, oder professionelle psychologische Beratung wünschen, legen Sie bitte auf und wählen …“
Danach habe ich mich ein bisschen auf der Bilderpinnwand Pinterest.com herumgetrieben. Das Nächste, woran ich mich erinnern konnte: Der Film war zu Ende. So wie der Krieg. Ich saß da, während all die glücklichen Paare aufstanden und gingen. Ich war allein.
Im Schwur des Infanteristen heißt es auch: „Niemals werde ich das Vertrauen meines Landes enttäuschen. Immer werde ich weiterkämpfen – durch den Feind, bis zum Ziel, bis zum Triumph über alles. (…)Wenn nötig, werde ich kämpfen bis zu meinem Tod.“
Ich stand auf und ging nach Hause.
The Unknown Known Errol Morris USA 2013, 103 Minuten. Deutscher Starttermin: 3. Juli
Colby Buzzell ist Irakkriegsveteran und Autor der Bücher My War: Killing Time in Iraq und Lost in America: A Dead-End Journey
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