Zehn Monate für zehn Sekunden

Großbritannien Die 19-jährige Danielle Corns hat während der London Riots ein Paar Schuhe in einem Geschäft aufgehoben und auf die Straße gestellt. Dafür soll sie nun ins Gefängnis

Vor zwei Wochen wurde Danielle Corns zu einer Haftstrafe von zehn Monaten verurteilt, weil sie während der August-Unruhen in Wolverhampton zwei linke Turnschuhe aus einem bereits vollständig geplünderten Geschäft auf die Straße mitgenommen und dort auf dem Bürgersteig stehengelassen hatte. Während der Urteilsverkündung begann ihre Mutter Sharon den Richter von der Empore herab anzuschreien: „Sie zerstören das Leben eines unschuldigen Mädchens! Wie können Sie das jemandem antun?“ Während die Mutter schrie, begann ihre Tochter zu weinen. Sharon wurde schließlich vom Sicherheitspersonal aus dem Gerichtssaal entfernt.

Am Abend jenes Tages, als sie darauf wartete zu erfahren, in welches Gefängnis Danielle gebracht worden war, habe sie gedacht, ihre Tochter würde eine solche Haftzeit nicht überstehen. „Sie wird diese Erfahrung nie aus ihrem Bewusstsein tilgen können – sie ist keine Kriminelle.“

Im tiefsten Herbst sind die Hitze und das Chaos dieses Sommers bereits zu einer weit entfernten Erinnerung geworden. Doch für die Familien der jungen Briten, die während jener fünf anarchischen Tage im August verhaftet wurden, werfen sie lange Schatten. Jene, die noch nie zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren und nur flüchtig mit der ganzen Sache zu tun hatten, sind von der Härte schockiert, mit der sie behandelt werden. Die Richter rechtfertigen ungewöhnlich hohe Strafen mit erwünschter Abschreckung. So wurden zwei junge Männer allein deshalb zu vier Jahren Haft verurteilt, weil sie eine Facebook-Seite eingerichtet hatten, auf der zu Randale aufgerufen wurde, an der sich die Betreffenden nie selbst beteiligt haben. In der gleichen Atmosphäre wurde eine junge Mutter, die während der Unruhen in ihrem Bett lag und schlief, zu fünf Monaten verurteilt, weil sie von einer Mitbewohnerin ein Paar gestohlene Shorts angenommen hatte. Die Strafe wurde erst nach einem Berufungsverfahren in gemeinnützige Arbeit umgewandelt.

Dahinter stecken politische Signale, die unmittelbar nach den Riots sehr deutlich wurden. Premier David Cameron gab zu verstehen, es sei sehr wichtig, dass die Richter eine „eindeutige Botschaft“ aussenden. Und der Lord Oberrichter verteidigte einige der härtesten Entscheidungen mit den Worten: „In Anbetracht der fürchterlichen Dinge, die sich im Lande abspielten, mussten diese Strafen hoch ausfallen.“ In Fällen wie dem von Danielle Corns führt dies zu befremdlichen Entscheidungen, deren Sinn sich nicht erschließt.

Zwei Wochen bevor Danielle ihre Haft antreten muss, treffe ich sie und ihre Mutter – eine Altenpflegerin – in ihrem Haus am Rande von Wolverhampton. Danielle ist modisch gekleidet und hat strahlend blondes Haar. Doch bringt sie kaum mehr als einzelne Worte über die Lippen – so tief sitzt die Depression. Am Nachmittag des 9. August sei sie zusammen mit ihrer Mutter in der Stadt gewesen, um etwas für den 18. Geburtstag ihrer Cousine zu kaufen. Nach einer Stunde wollte ihre Mutter nach Hause gehen – Danielle bummelt allein weiter. Sie sieht, wie Gruppen von Jugendlichen in Kapuzenpullis damit anfangen, Schaufensterscheiben einzuwerfen. Als die Polizei versucht, den Hauptplatz zu räumen, wird die Menge in eine Seitenstraße abgedrängt und Danielle im allgemeinen Durcheinander mitgerissen.

In Skihandschuhen

In einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchung über die Motivation der jungen Randalierer ist von Party-Atmosphäre unter den Beteiligten die Rede, von Adrenalin und Lust am Spektakel. Danielle sagt, die Gewalt habe sie sehr beunruhigt. Sie habe ihre Mutter angerufen und ihr unter Tränen berichtet, was vor sich gehe. „Ich hatte noch nie zuvor so etwas gesehen. Es war furchtbar“, erzählt sie.

Dann jedoch erscheint ein Foto von ihr in der örtlichen Tageszeitung, auf dem zu sehen ist, wie sie, offensichtlich lächelnd, in hellen Sommerkleidern zwischen den Kapuzen tragenden Männern steht – mit ihren langen, blonden Haaren ist sie leicht zu identifizieren. Sie winkt mit Händen, die in Skihandschuhen stecken. Eine Freundin habe sie vom Bürgersteig aufgehoben, wo jede Menge geplünderter Sachen herumlagen, beteuert Danielle. Sie habe nur herumgealbert. Wenn es ihr darum gegangen wäre, keine Fingerabdrücke zu hinterlasssen, wie ihr die Richter unterstellen, hätte sie wohl auch ihr Gesicht bedeckt.

Nachdem sie das Bild gesehen hat, geht Danielle zur Polizei, um auszusagen, sie sei zwar dort gewesen, habe aber sonst nichts getan. Die Polizisten bestärken sie: „Wir sehen, dass du nichts Verbotenes unternommen hast. Man wird sich mit dir in ein paar Monaten in Verbindung setzen. Im Augenblick haben wir Wichtigeres zu tun.“

Doch in der folgenden Nacht wird die Wohnung von einem halben Dutzend Polizisten in Kampfmontur durchsucht, die zwar nichts finden, aber Danielle Corns trotzdem verhaften. Ihr wird vorgeworfen, sie sei in ein Juweliergeschäft (aus dem an jenem Tag Waren im Wert von 50.000 Pfund entwendet wurden), einen Handy- und einen Kleiderladen eingebrochen.

Zwei der Klagen werden wieder fallen gelassen – eine genauere Untersuchung der Aufnahmen der Überwachungskameras ergab, dass es sich bei der blonden Frau im Juweliergeschäft nicht um Danielle handelte. Allerdings gibt es eine Aufnahme, auf der zu sehen ist, wie Danielle in ein bereits vollständig geplündertes Bekleidungsgeschäft geht, nach zehn Sekunden mit zwei nicht zusammenpassenden Turnschuhen herauskommt und diese einen Moment später auf dem Bürgersteig vor dem Laden abstellt. Danach geht sie zum Bus und fährt nach Hause, um rechtzeitig im Pizza-Bistro zu sein, in dem sie gelegentlich arbeitet.

Ihr Verteidiger versucht zu erklären, dass Danielles Rolle bei den gewaltsamen Unruhen minimal war: „Sie hat sich in keiner Weise an Gewalttaten beteiligt und selbst nichts zerstört, um in das Geschäft zu gelangen.“ Der Richter freilich ist der Auffassung, zehn Monate seien die Mindeststrafe, die er gegen sie verhängen könne. „Die Taten, zu denen Sie beigetragen haben, verursachten zusammengenommen Schäden in Höhe von mehreren Tausend Pfund“, sagt er der Angeklagten.

Natürlich hat sich Danielle dumm verhalten, aber sie nun für zehn Monate ins Gefängnis zu schicken, kostet den Steuerzahler mindestens 40.000 Pfund – der Schaden für ihre Berufsaussichten dürfte weit höher ausfallen. Sie hat bereits elf Prüfungen abgelegt und gute Ergebnisse erzielt. Im Herbst wollte sie mit der Schule weitermachen, um im Januar die Prüfung zur Aufnahme in die Royal Air Force (RAF) zu wiederholen. Ende August erhielt sie die Mitteilung ihrer Schule, dass sie wegen der gegen sie erhobenen Vorwürfe nicht mehr willkommen sei. Nicht weiter verwunderlich, dass ihre Mutter Angst hat, die Gefängnisstrafe könnte Danielles Aussichten auf eine Aufnahme in die RAF zunichtemachen und schwerwiegende berufliche Folgen haben. Bereits vor ihrer Verurteilung bekam Danielle Schlaftabletten verschrieben und war wegen einer schweren Depression in ärztlicher Behandlung. Die Nachbarn in Wolverhampton schneiden die Familie seit dem Vorfall im August.

Vom Gefängnis gezeichnet

Als Danielle die sechs Tage ihrer Untersuchungshaft im August beschreibt, bricht sie in Tränen aus, weil sie immer wieder an die Angst denken muss, die sie erfasst hat, als sie im Gefängnis auf Frauen traf, die wegen schwerer Körperverletzung oder versuchten Mordes inhaftiert waren. Auch erinnert sie sich an ihr Erstaunen, als man ihr Drogen anbot.

Andrew Neilson, Vorsitzender der Kampagne für eine Strafrechtsreform bei der Howard League, ist tief besorgt über die Art und Weise, wie nach den August-Unruhen die Strafen erhöht wurden. Er stellt die Abschreckungslogik und die Gefängniszeit für junge Menschen infrage, die noch nie zuvor straffällig geworden sind. Er hat die Erfahrung, dass ungefähr drei Viertel der Jugendlichen, die zu weniger als einem Jahr Haft verurteilt worden sind, stets erneut straffällig werden. „Das Haft­erlebnis an sich ist kriminogen – das heißt, rückfallfördernd“, erläutert er. „Man verbringt viel Zeit mit anderen Straftätern. Man wird von positiven Einflüssen wie Familie oder Arbeit abgeschnitten, die einen von der Kriminalität fernhalten. Für jemanden, der im Gefängnis war, ist es viel schwieriger, wieder einen Job zu finden. Ein Gefängnisaufenthalt stellt eine psychische Belastung dar, und wir wissen, dass viele ohne Drogenproblem ins Gefängnis gehen und als Drogenabhängige wieder herauskommen.“

Sharon Corns kann nicht verstehen, warum ihre Tochter zu zehn Monaten verdonnert worden ist, wenn Leute, die „tatsächlich Plasma-Fernseher und Supermarktkassen geklaut haben, davongekommen sind. Zehn Monate dafür, dass sie Turnschuhe angefasst hat, die sie noch nicht einmal mit nach Hause brachte? Sie hat sich verhalten wie ein neugieriger Teenager. Ich bin wütend auf das Justizsystem.“ Sharon klingt dabei eher erschöpft als wütend. „Ich werde an den Premierminister schreiben und ihm mitteilen, dass er sich einmal ein paar der Gerichtsverhandlungen ansehen sollte, um zu erfahren, weswegen einige der Kinder verurteilt werden. Kinder, die zuvor noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind.“ Sie ist fest entschlossen, in Berufung zu gehen.

Amelia Gentleman schreibt für den Guardian über soziale Themen. Sie gewann mit ihren Reportagen 2011 mehrere Preise

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Amelia Gentleman | The Guardian

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