„Zuerst fixieren wir sie hiermit“

Kongo Große Teile der Bevölkerung haben aufgrund der grausamen Erfahrungen im Krieg mit schweren psychischen Problemen zu kämpfen. Es fehlt aber an Behandlungsmöglichkeiten
Menschen flüchten vor den grausamen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und den Rebellen der Bewegung M23
Menschen flüchten vor den grausamen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und den Rebellen der Bewegung M23

Foto: Junior D. Kannah/ AFP/ Getty Images

In der Stadt Beni, in einer von zwei Einrichtungen zur Behandlung psychischer Erkrankungen, die es im Ostkongo gibt, erläutert ein Psychiater die Behandlung neuer Patienten: "Zuerst fixieren wir sie hiermit", sagt er und holt ein Seil und Ketten hervor. Die meisten der Patienten der Klinik tragen die Narben dieser Behandlung. Der 19jährige John hat offene, rote Wunden an Ellenbogen und Knöcheln, wo bereits seine Familie seine Gliedmaßen zusammengebunden hatte, bevor sie ihn in die Klinik brachte. Tagelang habe er nicht schlafen können, da seine Ellenbogen hinter dem Rücken gefesselt worden seien, berichtet John. Der junge Mann ist traumatisiert, er wurde mehrfach entführt. Fälle wie er sind keine Seltenheit. "Die meisten kommen gefesselt hier an", sagt der Psychiater.

Ein anderer Fall ist Nzenze. Er sitzt vor einer Kirche in Goma auf einem Brocken Vulkangestein und schlägt sich unentwegt selbst. Nachdem sein Vater im ersten Kongokrieg ums Leben kam, redete Nzenze eine Nacht lang nur wirr vor sich hin. Seitdem hat er nur ein einziges Mal wieder gesprochen. Der Junge sei immer gut in der Schule gewesen, sagt seine Mutter. Als sie im vergangenen Jahr seine alten Examenspapiere zum Feuermachen benutzen wollte, habe er das letzte Mal ein Wort gesagt: "Er schrie auf und hielt mich davon ab."

Nzene wurde in diesem Jahr schon viermal vertrieben und haust nun am Rande eines Slums. Jeden Abend nimmt er Beruhigungsmittel und schläft dann auf dem bloßen Vulkangestein. "Es geht ihm immer schlechter", sagt seine Mutter, während Nzenze rhythmisch auf seinen Arm einschlägt.

Zwanzig Jahre nach Ausbruch des Konflikts im Ostkongo sind die unaussprechlichen Akte der Brutalität – das meist wahllose Morden, die weitverbreiteten Vergewaltigungen – recht gut dokumentiert. Weniger weiß man um die psychischen Leiden, die die Jahre der Gewalt bei den Menschen hier ausgelöst haben. Vertreibung, Zwangsrekrutierung, Armut und sexuelle Gewalt haben dazu beigetragen, dass so viele Menschen im Kongo unter psychischen Erkrankungen leiden, dass man von einer Krise sprechen kann.

"Niemand weiß wirklich, was zu tun ist", sagt Lynn Lawry. Der Harvard-Akademiker ist an einer der wenigen qualitativen Untersuchungen der Menschenrechtsverstöße im Osten des Landes beteiligt.

2010 brachte einer seiner Studien zutage, dass die Hälfte der Erwachsenen im Kongo die Kriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung erfüllten. Einer von fünf hatte im vorhergehenden Jahr Selbstmordgedanken gehabt. "Wenn man diese Zahlen hochrechnet, sieht man, dass Millionen betroffen sind", führt Lawry aus.

Man nennt sie "Les fous"

Die nationale Gesundheitsversorgung ist nur schwach ausgebaut. Goma ist die Hauptstadt der Provinz Nord-Kivu und eine der größte Städte des Landes. In der einzigen psychiatrischen Einrichtung der Stadt befreit das Personal die Neuankömmlinge mit Sägen aus ihren Fesseln. Bruder William, der die in katholischer Trägerschaft befindliche Einrichtung leitet, meint, alle Patienten hier hätten ungeachtet ihres Zustands noch Glück. Les fous, die Verrückten, werden oft angekettet zuhause zurückgelassen, wenn ihre Familien fliehen. So sind sie den Rebellen überlassen, die sie erschiessen oder ihnen noch Schlimmeres antun. Über sechzig Prozent der Patienten in der Einrichtung in Goma sind wegen des Kriegs dort. William sagt, man habe zwar die personellen, nicht aber die notwendigen finanziellen Kapazitäten, mehr Patienten aufzunehmen.

Hier im Kongo, einem Land von der Größe Westeuropas und mit einer Bevölkerung von 68 Millionen Einwohnern, gibt es laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation eine Ambulanz und sechs Kliniken für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es gibt keine nationalen Daten zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen und nur um die vierzig niedergelassene Psychiater, von denen beinahe alle in der Hauptstadt praktizieren.

Im Munzenze-Zentralgefängnis in Goma stellt ein älterer Mann sich als Oberst Alphonso vor. Früher sei er Polizeioberst gewesen, sagt er. Heute führe er eine politische Bewegung an. Der Oberst trägt ein Hochzeitskleid. In der chaotischen Umgebung des Gefängnisses hält er eine schwarze Bomberjacke hoch, auf der mit weißer Farbe M29 geschrieben steht. Das ist die "Bewegung für die Verteidigung der Rechte von Minderheiten", erklärt er. Es handelt sich um eine tragische Nachahmung der Guerillagruppe M23, die sich in den zurückliegenden zwei Jahren als stärkste der gegen die Regierung kämpfenden Gruppen herauskristallisierte, inzwischen aber kurz vor der Kapitulation steht.

Eine Matratze neben Rebellen

Alphonso und drei weitere psychisch kranke Häftlinge teilen sich eine einzige Matratze neben Rebellen, Kleinkriminellen und Sexverbrechern. Man wüsste nicht, wohin sonst mit ihnen, sagt ein Mitarbeiter des Gefängnisses.

Nichtregierungsorganisationen wie das Internationale Rettungskomitte (IRC) haben sich der Problematik angenommen und kümmern sich etwa um Menschen, die sexuelle Gewalt überlebt haben. Doch das Problem sei "zu groß", sagt ein hochrangiger Berater in humanitären Fragen. Deshalb könne man sich nur "mit bestimmten Teilbereichen befassen".

Auf die Frage, welche Versorgungsmöglichkeiten für junge, von Gewalt oder Vertreibung traumatisierten Männer bestünden, zuckt er mit den Schultern: "Selbst wenn es Orte gäbe, in die man diese Menschen weiterleiten könnte, würde ich es vorziehen, sie blieben in ihren Familien." Die Behandlung psychiatrischer Störungen erfordert ausgebildetes Personal und Medikamente. Die notwendigen Kapazitäten seien aber einfach nicht vorhanden, sagt er.

In der psychiatrischen Klinik in Goma grüßt eine hochgewachsene Frau die Besucher. Ihre Augen sind halb geschlossen, sie gibt ein leises und bebendes Weinen von sich. Die Haut in ihrem Nacken und auf ihrer Brust ist voller Narben. Traditionelle Heiler haben sie eingeschnitten, um dort Pflanzenextrakte einbringen zu können. Im Kongo werden Geisteskrankheiten häufig als spirituelles Problem betrachtet, der Hexenglaube ist weit verbreitet. Eine ehemalige Rebellin, die sich mit dem Pseudonym Colonel Mama vorstellt, berichtet, viele ehemalige Kämpfer trügen die Narben dieser invasiven Behandlung durch traditionelle Hexenärzte: "Viele haben den Verstand verloren."

Lawry sagt, es sei gar nicht notwendig, weitere Untersuchungen darüber anzustellen, wie stark verbreitet Geisteskrankheiten im Kongo seien: "Wir wissen, dass sie weit verbreitet sind. Was wir brauchen sind wirksame Programme."

Der hochrangige humanitäre Berater in Goma streckt die Handflächen gen Himmel: "Was können wir tun?" Die Herausforderung sei, das Sterben zu beenden.

"Das grundlegende Problem ist die Sicherheitslage. Wenn die besser ist, wird sich das direkt auf die psychische Gesundheit der Menschen auswirken."

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Jessica Hatcher | The Guardian

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