Dieser Präsident schade dem Land durch einen verantwortungslosen Umgang mit der Pandemie, ist Brasiliens früherer Staatschef Inácio Lula da Silva überzeugt. In einem leidenschaftlichen Interview mit dem Guardian, das zustande kam, als die Zahl der Todesopfer von Covid-19 bei mehr als 2.000 lag, meinte Lula: Indem er den gebotenen Abstand zwischen Menschen für überflüssig halte, riskiere Bolsonaro, dass sich in Brasilien die verheerenden Szenen aus Ecuador wiederholen. Dort legten Familien die Leichen verstorbener Angehöriger auf die Straße, weil sie kein Gesundheitsdienst und kein Bestatter mehr abholte. Leider sei zu befürchten, „dass wegen der Rücksichtslosigkeit Bolsonaros auch bei uns derart schreckliche Bilder möglich sind, wie wir sie aus Guayaquil kennen“, meinte der 74-jährige Lula.
Bolsonaro, ein homophober ehemaliger Armeeoffizier, der kein Hehl aus einem feindseligen Verhältnis zu Umweltpolitik und sozialer Gerechtigkeit macht, hat Warnungen vor dem Virus wiederholt als „Hysterie“ verspottet und von „ein bisschen Erkältung“ gesprochen. „Wir können einen Präsidenten nicht nur deshalb stürzen wollen, weil wir ihn nicht mögen“, so Lula. „Aber wenn Bolsonaro weiter versucht, der Gesellschaft Schaden zuzufügen, sollten die Institutionen handeln. Dies bedeutet, dass eine Amtsenthebung zu erwägen ist.“
Seit die Weltgesundheitsorganisation Covid-19 am 11. März zur Pandemie erklärt hat, zeigt Bolsonaro seine Verachtung für Social Distancing, indem er provozierend an Pro-Bolsonaro-Märschen teilnimmt, demonstrativ Bäckereien, Supermärkte sowie Apotheken besucht und zum Besten gibt: „Niemand beschneidet mein Recht, zu kommen und zu gehen, wie ich will.“ Die Brasilianer bräuchten sich wegen des Virus nicht zu sorgen. Sie könnten in Fäkalien baden „und nichts passiert“. Diese Haltung bescherte dem Präsidenten einen handfesten Konflikt mit Gesundheitsminister Henrique Mandetta, vor der politischen Karriere ein anerkannter Arzt. Als er seine Kritik an Bolsonaro nicht widerrufen wollte, wurde Mandetta Mitte April entlassen.
Mann ohne Ohren
In manchen Städten protestiert die Bevölkerung mit abendlichem Topf-Trommeln gegen Bolsonaro. Zudem wird Hohn aus dem gesamten politischen und medialen Spektrum laut. „Das Coronavirus muss sich totlachen“, schreibt die Kolumnistin Eliane Cantanhede in der konservativen Zeitung O Estado de S. Paulo zu Bolsonaros Kapriolen. Der Gouverneur von São Paulo, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat, teilt mit, das Land stehe nicht nur im Kampf gegen das Coronavirus, auch gegen das „Bolsonaro-Virus“.
Ex-Präsident Lula, der Brasilien von 2003 bis 2010 regiert hat, ist der Ansicht, es sei normal, „dass ein Teil der Gesellschaft nicht versteht, wie notwendig es ist, zu Hause zu bleiben“. Aber die Lage sei eben deshalb so ernst, „weil der Präsident der Republik ein Höhlenmensch ist, der behauptet, es handle sich nur um ein kleine Grippe“. Lula selbst begab sich nach der Rückkehr von einer Europa-Tour in der Stadt São Bernardo do Campo umgehend in eine freiwillige Selbstisolation.
Was Bolsonaro umtreibt, ist die Furcht, die Pandemie könnte sich „zu einem echten Job-Fleischwolf“ entwickeln. „Ich weiß, Leben hat keinen Preis, aber die Wirtschaft muss wieder zum Normalzustand zurückkehren“, verkündet er.
Lula, der in ländlicher Armut aufwuchs und international viel Anerkennung für seine Bekämpfung des Hungers erhalten hat, kann es nicht ernst nehmen, dass sich Bolsonaro als Vertreter des Volkswillens inszeniert. „Alles, was diesen Präsidenten interessiert, das ist er selbst, das sind seine Kinder, ein paar konservative Generäle und paramilitärische Freunde“, sagt Lula, der damit auf den Vorwurf anspielt, die Präsidentenfamilie unterhalte Kontakte zur Mafia in Rio de Janeiro. „Er spricht nicht mit der Gesellschaft. Bolsonaro hat keine Ohren, mit denen er zuhören könnte. Er hat nur einen Mund, um Unsinn zu reden.“
Wie realistisch ist ein Amtsenthebungsverfahren, seit es ein Richter des Obersten Gerichts genehmigt hat, Bolsonaro unter die Lupe zu nehmen? Immerhin wird ihm vorgeworfen, er habe Ermittlungen der Bundespolizei gegen drei seiner Söhne verhindern wollen. Sie stehen unter Verdacht, in kriminelle Affären verstrickt zu sein. Das kann, muss aber nicht in ein Impeachment münden. Im Unterschied zu 2016, als Lulas linke Nachfolgerin Dilma Rousseff auf diese Weise aus dem Amt gestoßen wurde, scheint der Kongress bisher kaum interessiert. Viele Abgeordnete, von rechts außen bis zur Mitte, halten es für besser, nur zuzuschauen, wie Bolsonaro die Chance für eine Wiederwahl 2022 verspielt. Doch gilt er ihnen weiter als kleineres Übel, verglichen mit Lula, dem Neuwahlen zur Rückkehr ins höchste Staatsamt verhelfen können.
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