Die Suche muss ein Ende haben

Alternative zum Kapitalismus Der Linken fehlt es an Kraft und an Klarheit. Vor allem aber fehlt ihr ein Plan und eine Strategie, wie man raus aus dem Kapitalismus und zu etwas Anderem kommt. In der Unbestimmtheit dieses Anderen liegt eines der größten Probleme.

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Jedes unterdrückerische Regime erzeugt Widerstand. Der Kapitalismus zwingt Menschen in Arbeits- und Lebensverhältnisse, die im Widerspruch zu ihren Bedürfnissen stehen. Er unterdrückt, er beutet aus, er versklavt und er tötet. Er raubt die Freiheit und zerstört alles Lebendige – Mensch, Tier und Natur. Dieses System hat keine Zukunft. Doch sowohl sein Ende, wie auch das was danach kommt, bleibt ungewiss. Ein unmittelbarer Ausstieg ist nicht in Sicht. Der Kapitalismus hat sich als äußerst widerstandsfähig und anpassungsfähig erwiesen. Es ist schon oft totgesagt worden und doch nicht verschwunden. Das Gegenteil ist der Fall. Er ist – trotz allem – hegemonial. Und schlimmer noch: Er erscheint alternativlos.

Dabei war der Kampf gegen den Kapitalismus lange hoffnungsvoll und der Widerstand stark. Immer wieder gab es Aufstände, große Bewegungen und Revolutionen. Eine existenzielle Bedrohung des Kapitalismus ist dabei allerdings bestenfalls punktuell und immer nur für einen kurzen Zeitraum entstanden. Mit dem Sozialismus und Kommunismus gab es aber immerhin etwas, das als Alternative – als ein Ziel – Orientierung bot und die Träume von einer anderen Welt am Leben halten konnte, auch wenn das System als ganzes kaum zu kippen drohte.

Auch im Angesicht eines autoritären Staatssozialismus blieben diese Träume, in abgewandelter Form und in kritischer Auseinandersetzung mit den bestehenden sozialistischen Gesellschaften, erhalten. Spätestens mit dem Ende der Sowjetunion endete diese Hoffnung, die jedoch schon zuvor mehr und mehr entschwunden war. Der real existierende Sozialismus hatte die Ideen von einer egalitären Gesellschaft gründlich entzaubert und der utopische Moment verschwand fast gänzlich. Seither ringt die Linke in einer andauernden Suchbewegung um Ideen und Strategien, wie der Kapitalismus überwunden werden kann. Fündig geworden ist sie noch nicht.

Zwischen Hoffnungslosigkeit und Mut

Ein Teil der Linken und radikalen Linken in Deutschland, aus den Bewegungen und dem außerparlamentarischen Bereich und aus dem erweiterten Umfeld der Partei DIE LINKE, hat sich in jüngster Vergangenheit zusammengefunden und rege debattiert: im Oktober letzten Jahres zuerst auf der Vergesellschaftungskonferenz in Berlin, unmittelbar danach auf dem „System Change Kongress“ des SDS in Leipzig und zuletzt beim „MARX IS’ MUSS“-Kongress, der vom 26. - 29. Mai ebenfalls in Berlin stattgefunden hat. Gesprochen wird dabei über vieles. Über den Kapitalismus, über soziale Bewegungen und aktuelle Kämpfe, über historische Erfahrungen und nicht zuletzt über Strategien, wie man die eigene Wirkmächtigkeit erhöhen und Kämpfe gewinnen kann. Nicht zuletzt geht es immer wieder auch um die Frage, wie der Kapitalismus beendet und zu etwas Besserem geführt werden kann.

Die Stimmung schwankt dabei zwischen Verzweiflung und Mut, zwischen Ohnmacht und dem Willen zur Veränderung, zwischen Resignation und Aufbruchsstimmung. Die Linke ist sich ihrer eigenen Schwäche bewußt. Sie blickt zurück auf zwei Jahrzehnte voller Bewegung und Widerstand, auf Revolten und Aufstände, von den Gipfelprotesten Anfang der 2000er Jahre über den arabischen Frühling und die Platzbesetzungen bis hin zu den bunten Protesten gegen Rassismus und Ausgrenzung, für bezahlbaren Wohnraum und Vergesellschaftung und den vielfältigen Kämpfen gegen den Klimawandel und für Klimagerechtigkeit. Die Erfolgsbilanz ist dabei sehr ernüchternd. Im Grunde wurde kaum etwas erreicht. Exemplarisch steht dafür die nahezu autokratische Durchsetzung der Rentenreform durch Macron in Frankreich als jüngstes und zugleich sehr drastisches Beispiel.

Eine größere, linke Bewegung ist aus all dem bisher nicht entstanden. Im Gegenteil findet sich die Linke in einer Position der Schwäche wieder. Hinzu kommt, dass die Partei DIE LINKE vor einer Zerreißprobe steht und ihr der Fall in die Bedeutungslosigkeit droht.

Diskussionen um Strategie

Auch auf dem vom parteinahen Netzwerk marx21 veranstalteten „MARX IS’ MUSS“-Kongress, wurde, wenn auch weniger umfangreich als auf den beiden Konferenzen im Oktober 2022, erneut über Strategien für die radikale Linke diskutiert. Die Diskussionen um politische Theorien und um Strategien gibt es im Grunde immer schon. Sie entwickeln sich dabei stets in einem Wechselspiel zwischen sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen und einer widerständigen politischen Praxis. Die Ausgangslage ist nie gleich. Manche Überlegungen, dass etwa über den Klassenkampf die Revolution herbeigeführt und anschließend der Sozialismus sukzessive erst im Prozess gefunden werden kann, überdauern dabei die Zeit.

Viele einzelne Überlegungen sind dabei direkt zustimmungsfähig und fast schon common sense. Aus dem Kapitalismus kann man sich nicht herausreformieren. Es braucht starke soziale Bewegungen, im Grunde eine gesamtgesellschaftliche Bewegung oder anders gesagt kann die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter*innen selbst sein. Es ist wichtig mit Menschen in den persönlichen Kontakt zu treten und es braucht die persönliche Betroffenheit. Aus kleinen Kreisen von Aktiven kann eine große Bewegung entstehen. Die gesteckten Ziele müssen dabei erreichbar sein. Aus einer kämpferischen Praxis ensteht die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, die dem Gefühl der Ohnmacht entgegenwirkt. Im besten Fall stößt man bis zu einer Systemkritik vor.

Das Organizing und die Verbindung gewerkschaftlicher und aktivistischer Kämpfe, etwa zwischen den Beschäftigten im ÖPNV, in der Automobilindustrie oder im Tagebau auf der einen Seite und den Klimaaktivisten auf der anderen Seite, erscheint als vielversprechender Ansatz. Kämpfe zusammenführen und dies auch konkret zu machen, um die Arbeiterklasse zu revitalisieren und um in diesem Prozess auch die Gewerkschaften und die Partei DIE LINKE aufzubrechen, neu zu gestalten und zu demokratisieren, sind überzeugend. Kritisch ließe sich dabei anmerken, dass selbst diese vergleichsweise bescheiden Ziele schon deutlich zu hoch gesteckt sein könnten. Hinzu kommt die internationale Perspektive, die bei all dem nicht vernachlässigt werden darf. An die Notwendigkeit einer gewissen Gleichzeitigkeit bei einer globalen revolutionären Umwälzung ist hierbei noch gar nicht gedacht. Es sind ziviler Ungehorsam und gewerkschaftliche Kämpfe die das aktivistische Bild der Gegenwart prägen. Doch die Kämpfe bleiben fragmentiert – von einer internationalen Verbindung ganz zu schweigen.

Obwohl es viele gute Ansätze gibt, bleibt am Ende ein ernüchterndes Gefühl. Die Überzeugung, dass derart der Kapitalismus überwunden werden kann, mag sich nicht so recht einstellen. In diesem Sinne sind die Diskussionen über eine Strategie für die radikale Linke wenig fruchtbar. Am überzeugendsten wurde auf dem jüngsten Kongress – mit dem „Heimvorteil“ vielleicht auch wenig verwunderlich – die marx21-eigene Position vorgetragen, die den Klassenkampf durch die Selbstemanzipation der Arbeiter*innen im Verbund mit einer in den Betrieben verankerten revolutionären Massenpartei führen will, um am Ende die sozialistische Gesellschaft zu erreichen. Dieses gedankliche Konstrukt ist zumindest nachvollziehbar und voraus gedacht, auch wenn es nicht unwidersprochen bleiben muss. Gerade die Revolution selbst und das was danach kommt, erscheint kritikwürdig, wobei der erste Kritikpunkt wäre, dass es so viel gar nicht gibt, was einer Kritik überhaupt unterzogen werden könnte.

Die Diskussion auf der Vergesellschaftskonferenz im Jahr zuvor umfasste ein breiteres Spektrum an alternativen Modellen und Denkansätzen, das von marktwirtschaftlichen über planwirtschaftliche bis hin zu rein bedürfnisorientierten und vollständig zwangsfreien Formen reichte. Das präfigurative Element etwa, das die neue Gesellschaft schon in Keimformen im Hier und Jetzt als wesentlichen Baustein zu einer Veränderung denkt, fehlt in einer Konzeption, die alleine durch marxistische Kategorien geprägt ist. Der Ansatz, die Strategien von Reform, Revolution und Keimform zu verbinden, klingt dabei durchaus plausibel. Die Kritik, dass es zu wenig Raum für die strategische Debatte und zu wenig Orte gibt, an denen man gemeinsam zusammen kommt, um zu diskutieren, wurde wiederholt in den Publikumsbeiträgen geäußert. Es brauche mehr grundsätzliche Diskussion, mehr Kontroverse und – auch das kam wiederholt – eine glaubwürdige Alternative zum Kapitalismus. Zugleich muss festgestellt werden, dass die Stimmen, die nach Alternativen, gar nach konkreteren Vorstellungen fragten, in der Diskussion um Strategien auf dem jüngsten Kongress, kaum mehr als Zwischenrufe waren – hörbar am ehesten für diejenigen, die Ähnliches denken.

Fehlende Alternative zum Kapitalismus

Die Diagnose wurde in der Podiumsdiskussion „Welche Strategie braucht die radikale Linke?“ am zweiten Veranstaltungstag klar gestellt und blieb unwidersprochen. Es fehle eine Alternative zum Kapitalismus. Der Kapitalismus erscheine gleichermaßen als natürlich. Die Zukunft, so kann man hinzufügen, können wir uns nur als verlängerte Version der Gegenwart vorstellen. Wie es grundsätzlich anders sein könnte, wie etwa eine nicht-warenförmige Gesellschaft ausschauen könnte, davon hätten wir keine Vorstellung. Die fehlende Fantasie sei bei Marx ein Problem, kommentierte ein Teilnehmer an anderer Stelle. Dabei könne gerade diese für die Herrschenden besonders gefährlich sein und müsse daher stets eingehegt bleiben. Diese Alternativlosigkeit sei ein großes Problem, mit dem alle linken Gruppen, die versuchen Menschen zu organisieren, früher oder später konfrontiert seien.

Gerade das wurde aber gefordert. Es brauche eine ideologische Antwort auf die grundlegenden Fragen. Man könne nicht allein von gewerkschaftlichen Kämpfen und Organizing sprechen, wenn die Menschen verzweifelt sind und ihnen das Geld zum Leben fehlt. Es fehle in den Kämpfen auch an einer Perspektive, wie man vom Streik hin zu einer Gegenmacht und dann zu einer sozialistischen Gesellschaft kommt. Dass das Problem der Kapitalismus sei, verstehe jeder, das müsse man nicht mehr erklären. Es fehle hingegen an einer Programmatik und an einer Lösung, die man anbieten kann. Etwas, worüber man vor Ort im Betrieb mit den Leuten diskutieren könne. Hier weiterhin eine Suchbewegung zu Bejahen, wie es in einer Position auf dem Podium vertreten wurde, sei wenig verständlich. Diese Suchbewegung erscheint teilweise so diffus, dass nicht einmal klar ist, was überhaupt gesucht werden soll. Irgendwie geht es um Strategie, um richtige Ansätze und um Wirkmächtigkeit.

Ein klares Nein zur Suchbewegung

Die stete Diskussion um eine linksradikale Strategie hat auch zuletzt das von den Freiheitskämpfer*innen in Chiapas hervorgebrachte „fragende Voranschreiten“ und damit die Unbestimmbarkeit von Ziel und Weg gestärkt. Eine zukünftige Gesellschaft, den Kommunismus als die befreite und klassenlose Gesellschaft, könne man genauso wenig beschreiben, wie den Sozialismus, der sich nach Marx erst durch eine demokratische Auseinandersetzung innerhalb einer sich entwickelnden revolutionären Bewegung herausbilden kann. Wie der Sozialismus ausschaut, können wir demnach erst bei seinem Aufbau herausfinden. Was Marx formuliert hat, setzt sich mit dem „fragenden Voranschreiten“ und der steten Suchbewegung in der radikalen Linken fort. Bisher hat diese Suche wenig zu Tage gefördert und sie droht weiterhin dort zu landen, wo sie jetzt steht: vor dem Nichts.

Wir Menschen seien in vielem zu unterschiedlich. Unsere Werte und unsere Vorstellungen, unsere Kulturen und Umgebungen, die Art und Weise, wie wir uns reproduzieren und wie wir Gesellschaften bilden, was unsere Bedürfnisse und unsere Fähigkeiten sind – alles das kann und darf nicht vorherbestimmt sein. Dieser Pluralismus menschlichen Lebens kann nur bedeuten, dass wir uns unsere eigenen Welten nur selbstbestimmt formen können. Dies könne nicht mit einer Blaupause vollzogen werden. Wir reden also nicht von einer besseren Welt, sondern von vielen besseren Welten. Es braucht gewiss kein in Stein gemeißeltes Konzept, aber eine Kritik alleine am System ist deutlich zu wenig. Das ist noch kein Angebot. Der Widerspruch zwischen einer geteilten Vision und selbstbestimmten mannigfaltigen Formen menschlichen Zusammenlebens lässt sich auflösen, wenn das erdachte Ziel nur einen Rahmen darstellt, der alle Freiheiten lässt. Anderseits kommen wir, da wir nun einmal gemeinschaftlich auf diesem Planeten leben und die Welt eine globalisierte geworden ist, nicht umhin, zu fragen auf welcher Basis wir global zusammenleben wollen. Gibt es universelle Werte und eine Vorstellung von Gerechtigkeit und Freiheit, die wir teilen können?

Es ist gerade der Kapitalismus, der sich unserer vielfältigen Selbstentfaltung als erstes in den Weg stellt. Und gleichzeitig werden die Rufe nach einem Plan, nach einer Strategie und nach einem Ziel langsam lauter. Vision ist ein passender Begriff, der hier und da zu hören ist. Steckt in der Formulierung eines gemeinsamen Ziels und in der Beschreibung eines Weges ein Widerspruch zur Selbstemanzipation und zur Befreiung der Arbeiter*innen durch sich selbst? Oder braucht es nicht gerade ein Ziel, das wie eine Klammer über alle Kämpfe hinweg fungiert und Orientierung bietet? Ist es nicht letztlich vielleicht nur eine Frage der Detaillierung? Die Suchbewegung hat zu nicht viel geführt. Gerade vor dem Hintergrund düsterer Zukunftsaussichten und der Dominanz apokalyptischer Bilder, ist es Zeit eine positive Vision zu entwickeln. Sie ist ein essentieller Baustein – das fehlende Puzzlestück – auf dem Weg in eine andere Welt.

Warum es bisher keine Revolution gegeben hat

Das kapitalistische System ist verheerend und wird, wenn auch oft nicht grundsätzlich, so doch weithin kritisiert. Warum genügt eine weit verbreitete Kritik und warum genügt die Armut und die Not so vieler Menschen nicht, um sich gemeinschaftlich zu erheben? Die ausbleibende Revolution ist auch Gegenstand eines gemeinsamen Gesprächs des Literaturwissenschaflters Clemens Pornschlegel und des Jesuiten Dominik Finkelde im einem Podcast aus der Zündfunk-Generator-Reihe des Radiosenders Bayern 2 aus dem Jahr 2009. Pornschlegel, der zum Verhältnis von Politik und Literatur forscht, und Finkelde, der die linke politische Philosophie der Gegenwart untersucht, betrachten in ihrem Gespräch die Entwicklung linker Theorie seit dem Beginn der 2000er Jahre. Ihr Befund, warum es bisher keine Revolution gegeben hat, gilt im Jahr 2023 unverändert.

Pornschlegel und Finkelde sind sich einig. Was fehle, so Pornschlegel, sei eine konsistente Aktion. Diese könne nur durch eine Organisation oder Institution oder durch eine gemeinsame Vision kommen und beides sehe er nicht. Finkelde meint, dass wir noch kein Alternativmodell entwickelt hätten. Das sei bei anderen Generationen nicht so gewesen. Diese hätten noch wirklich Visionen gehabt. Und anscheindend brauche es solche Modelle, solche Fantasmen, damit sich Menschen bewegen. Insgesamt machen Pornschlegel und Finkelde drei Punkte aus, die der Revolution im Wege stehen. Der erste ist die fehlende Organisierung in Verbindung mit einer Vision. Beides sei für eine Veränderung wichtig. Der zweite Punkt ist, dass es „kein Elend in den Straßen“ gebe. Der Hunger, die Arbeitslosen und das Elend seien historisch immer ein entscheidender Punkt gewesen. Unsere Sozialsysteme funktionierten immer noch gut und würden den Ärger kanalisieren. Drittens wirkt das, was Adorno den „Verblendungszusammenhang“ genannt hat. Das Glücksversprechen der Medien, die Orientierung auf Stars, auf Unterhaltung und Konsum lenkt ab und narkotisiert. Das Bewußtsein, dass es vielleicht doch nicht so gut ist, sei auch nicht so richtig vorhanden. Ergänzend ließe sich hinzufügen, dass grundsätzliche Fragen gleichzeitig ausgeblendet und gar nicht erst thematisiert werden.

Im Gespräch der beiden Wissenschaftler über die linke Theorie taucht ein weiterer Aspekt auf, der in der gegenwärtigen strategischen Debatte ebenfalls keine prominente Rolle spielt. In den Überlegungen der linken Philosophen Alain Badiou, Slavoj Žižekund Giorgio Agamben wird der Apostel Paulus zu einer zentralen Figur. Badiou ist von Paulus als Gründer einer mächtigen und univeralen Bewegung fasziniert, einem selbstsicheren Subjekt, das nicht alles hinterfragt, sondern einen universellen Wahrheitsanspruch formuliert. Er schreibe damit vor allem auch gegen den Postrukturalismus an, der das Subjekt bis zur Bewegungsunfähigkeit dekonstruiert habe, interpretieren die Podcast-Autor*innen. Agamben betont einen anderen Aspekt. Seine „kommenden Gemeinschaften“ haben Anknüpfungspunkte zu dem, was heute als Keimformen diskutiert wird. In diesem Zusammenhang erscheint dabei aber vor allem die Orientierung von Paulus auf das Eigene und auf das Neue interessant. Er greife nicht das damalige Rechtssystem, nicht den römischen Staat oder die römischen Soldaten an. Es sei viel schlimmer, meint Pornschlegel. Er baue eine Gemeinde und dann viele Gemeinden und er sagt, dass diese ganze Politik, alles was gilt, unwichtig sei, es sei außer Kraft gesetzt. Unser Königreich, so Paulus, sei nicht von dieser Welt. Übersetzt in die Gegenwart, könnte dies ein interessanter strategischer Ansatz sein, der nicht alleine und ausschließlich verfolgt werden müsste, der aber eine bedeutsame, vielleicht sogar entscheidende Rolle spielen kann: ein radikaler Ausstieg aus dem Kapitalismus und ein Bruch mit allem und stattdessen eine Orientierung auf eine neue Gesellschaftsform, die – ein wesentlicher Punkt – nicht als Flucht und Insellösung, sondern als Teil eines Systemwechsels gedacht wird.

Weiter voran schreiten

Wenn die Einschätzung geteilt wird, dass die fehlende Alternative zum Kapitalismus ein zentrales Problem ist und wenn ferner die von Pornschlegel und Finkelde genannten Punkte, warum die Revolution bisher ausgeblieben ist, geteilt werden, dann liegt im Grunde auf der Hand, was zu tun ist. Es ist an der Zeit, Fragen zu beantworten und die nächsten Schritte zu machen.

Pornschlegel ergänzt noch einmal und fragt, warum die Menschen das Wagnis einer Revolution eingehen sollten, wenn sie gar nicht wüssten warum, wofür und wohin und ob es unter diesen Umständen dann gut sei, eine Revolution zu machen.

Die Frage nach der ausbleibenden Revolution und dem angestrebten Systemwechsel lässt sich auch anders fassen. Die eigentliche Frage ist, wie man acht Milliarden Menschen organisieren kann. Natürlich müssen es so viele nicht sein. Ein Bruchteil genügt. Aber für eine gesamtgesellschaftliche, gar eine globale Bewegung, werden es nicht wenige sein müssen. Die Fragestellung ändert sich dadurch nicht. Hinzu kommt, dass es eine gewisse globale Gleichzeitigkeit braucht. Kann dies anders gelingen als mit einer geteilten Idee?

Eine Vision entwickeln

Die Bedeutung von Organisierung ist sowohl im Kreis von marx21 klar erkannt und durch die starken gewerkschaftlichen Bewegungen aus den vergangenen Jahren evident geworden. Die Perspektive dabei muss aber der System Change und die Organisierung noch viel weitreichender werden. Hier ist dann nicht das Wort, sondern die Tat, also die Aktion entscheidend. Was noch fehlt, ist die Vision. Diese gilt es in einem Maße auszuformulieren, dass sie begreiflich wird. Dafür muss das Bilderverbot ad acta gelegt werden. Selbst Adorno, der an dieser Stelle oft als Kronzeuge gehandelt wird, hat kein ausschließliches solches Verbot ausgesprochen, sondern nur Vorstellungen von einer absoluten Utopie zurückgewiesen. Die konkrete Utopie im Sinne dessen was möglich ist, was – nach dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte – sein könnte, das sei sagbar. Dies sei betont: Gerade weil es den Realsozialismus gegeben hat, genügen vage Vorstellungen nicht mehr.

Es braucht also erstens eine Vorstellung davon wie eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus ausschauen kann. Es ist nötig, die Geschichte vom Ende her zu denken, um ausgehend davon, den Weg zu beschreiben. Wer eine Alternative zum Kapitalismus anbieten will, der muss sagen, wie diese Alternative ausschaut und – nicht weniger wichtig – wie er dort hinkommen will. Die Antworten müssen so konkret sein, dass sie überzeugen. Die Sozialist*innen selbst müssen von ihrer Vorstellung überzeugt sein. Es geht dabei nicht „um in Stein gemeißelte“ Visionen und detailliert ausgemalte Bilder, sondern um eine konsistente Vorstellung, die durchaus flexibel und änderbar ist.

Ob dies tatsächlich der Ökosozialismus der LINKEN sein kann, ist ungewiss. Er klingt so sehr nach dem, was man schon so oft gehört und was doch nie umgesetzt wurde: Vergesellschaftung, Reduktion der Arbeitszeit, Schutz der Natur, Umverteilung. All das ist nicht falsch und doch klingt es mehr nach Markt und Lohnarbeit und eher nach einem Reformprogramm als nach Revolution. Der Geruch von Freiheit und einem neuen Morgen umweht ihn nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass der Ökosozialismus – zumal für Deutschland – im Umfeld einer Partei diskutiert wird, die vom Parlamentarismus zerfressen vor dem Zerfall steht, die ein eigenes Profil und klare Aussagen vermissen lässt und die kaum revolutionär erscheint. Es fehlt die Glaubwürdigkeit. Die Partei DIE LINKE bräuchte eine radikale Grunderneuerung aus den Bewegungen heraus. Der Weg zu einer nicht angepassten Partei, zu einem „enfant terrible“ und einer revolutionären Partei ist sehr weit.

Der Ökosozialismus selbst ist dabei als utopische Alternative zu würdigen. Wie der Philosoph, Utopieforscher und Politische Theoretiker Alexander Neupert-Doppler in seinem Buch „Ökosozialismus“ aus dem Jahe 2022 darlegt, hat der Ökosozialismus eine jahrzehntelange Geschichte, die bis in die 1970er Jahre hineinreicht, und umfasst vielgestaltige Ausformulierungen. Neupert-Doppler unterscheidet mit der anarchistischen, der demokratischen und der autoritären drei ökosozialistische Hauptströmungen und stellt ihre Entwicklung im Zeitverlauf dar. So betrachtet ist und bleibt der Ökosozialismus eine Alternative, die zurück in die Diskussion geholt werden muss. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass nicht auch andere Modelle dagegengehalten werden können, die vielleicht ganz anders gedacht sind. Das Problem an der Stelle ist, dass wir viel zu wenig über Alternativen diskutieren.

Wie auch immer eine Vision ausschaut, in der Vermittlung derselbigen müssten ohnehin andere Dinge als konkrete Antworten im Vordergrund stehen. Man überzeugt nicht mit einer technischen Skizze. Auch Lillian Chicheria vermisst eine Vision als Alternative zum Kapitalismus. Die junge Philosophin von der Freien Universität Berlin ist auch beim Auftaktpodium am Freitagabend in Berlin dabei. Was wir dabei bräuchten – sie wiederholt diesen Punkt in ihrem einleitenden Beitrag – sei eine universelle Botschaft. Gemeint sind universelle Normen und Werte und eine überzeugende Idee von Gerechtigkeit. Lillian spricht von einem moralischen Universalismus und einer sozialistischen Konzeption von Gerechtigkeit. Es geht, so sagt sie, um freie Zeit, Respekt, das Wohl aller, um Gleichheit und – so ließe sich vielleicht ergänzen – um Selbstbestimmung. Letztlich geht es um Freiheit. Es sei an uns zu zeigen, dass die Menschen etwas Reicheres und Wärmeres von einer Konzeption menschlicher Freiheit erwarten können und sollten, als das, was der Kapitalismus ihnen bietet.

Wer vom Sozialismus spricht, der muss ein Feuer entfachen, der muss mitreißen können. Es muss glaubwürdig sein, wünschenswert erscheinen und begeistern. Oder um es mit den Worten von Lillian Chicheria zu sagen, könnte ein universelles Versprechen von Gerechtigkeit und Freiheit, einen solchen Dienst leisten. Wenn sich Menschen auf ein existenzielles Wagnis einlassen sollen, dann brauchen sie gute Gründe, um das zu tun. Wenn es einer sozialisitschen Konzeption nicht einmal gelingt, die Sozialist*innen zu überzeugen, dann fehlt etwas Entscheidendes.

Eine geteilte Vision kann zudem als Klammer über alle Kämpfe fungieren, die doch ein gemeinsames Ziel haben und die im Kapitalismus nie zufriedenstellend gelöst werden können. Die soziale Frage, der Kampf für den Erhalt der Biosphäre und für Klimagerechtigkeit, das Bemühen um Frieden und alle anderen sozialen Kämpfe, etwa für preiswerten Wohnraum, für die Rechte von Migranten und Geflüchteten und gegen Rassismus und Ausgrenzung gehören zusammen. Eine Vision, die etwas anderes als den Kapitalismus in Aussicht stellt, kann als verbindendes Element Orientierung bieten und gleichzeitig Hoffnung vermitteln. Hinzu kommt, dass das effektivste Mittel gegen den Aufstieg der Rechten ein überzeugendes Angebot von Links ist oder in Anlehnung an Ernst Bloch: eine allzu abstrakte (nämlich zurückgebliebene) Linke darf nicht erneut die Massenphantasie unterernähren.

Ist die Vision gefunden, kann auch eine Antwort auf die anderen Punkte, die die ausbleibende Revolution erklären, gegeben werden. Mit einer Vision vor Augen und einer Organisierung von Menschen ist die Auseinandersetzung mit dem „Verblendungszusammenhang“ unausweichlich. Das Vorantreiben des einen löst das andere mehr und mehr auf, gleichwohl das weder automatisch noch von alleine geschehen wird. Der Kapitalismus ist nicht nur sehr anpassungsfähig, sondern selbst hochgradig widerständig, wenn er herausgefordert wird. Um den zweiten Punkt, also „das Elend in den Straßen“ kümmert sich der Kapitalismus schon ganz von alleine. Ohnehin kann man kaum wünschen, dass sich erst das Elend ausweiten möge, damit der Kapitalismus fällt. Es ist eher andersherum: Auch dann, wenn das Elend reduziert wird, darf der Kampf gegen das bestehende System nicht aufhören, denn wirklich lösen kann der Kapitalismus keines der Probleme, welche er maßgeblich verursacht oder mitverursacht hat. Eine Lehre aus den gescheiterten Versuchen emanzipatorischer Bewegungen, die nicht weniger als die Überwindung des Systems vor Augen hatten – gedacht sei hier an die ursprünglichen bundesdeutschen Grünen - ist auch, dass die Utopie nicht aus dem Blick geraten und vergessen werden darf. Der System Change muss immer das Ziel bleiben.

Diskussion aufnehmen

Die Forderung nach mehr Raum und nach gemeinsamen Orten für die strategische Debatte ist wichtig. Die Vergesellschaftskonferenz ist dafür ein gutes Vorbild, weil sie verschiedene Denkrichtungen zusammengebracht und einen Austausch ermöglicht hat. Kritisch wurde angemerkt, dass sie noch zu wenig international ausgerichtet war. Eine geteilte Vision entsteht nicht am Reißbrett und nicht im stillen Kämmerlein, sondern in einer gemeinschaftlichen Diskussion. Ein erster wichtiger Schritt wäre, dieses mehr an Raum für die strategische Debatte zu schaffen. Dort könnte nicht nur über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Vorausdenkens von Alternativen zum Kapitalismus gesprochen werden, sondern es müsste auch schon Platz sein, den zweiten vor dem ersten Schritt zu tun und Alternativen samt der möglichen Pfade zum Ziel in den Blick zu nehmen. Ein gewagter Schritt nach vorne erscheint weitaus besser als noch mehr vorsichtiges Herumtapsen im Dunkeln.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thiemo Kirmse

schreibt über Utopie und Transformation unter https://room-with-a-view.net/

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