Gespräche über Anarchismus Marxismus Emanzipation

Alternative zum Kapitalismus Der Autor und Publizist Philippe Kellermann schreibt und spricht gerne über den Anarchismus. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei dessen Verhältnis zum Marxismus. Wer den Gesprächen folgt, der kann viel lernen. Ein Buchextrakt.

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Philippe Kellermann ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher, die das Verhältnis von Anarchismus und Marxismus beleuchten. Darüber hinaus verantwortet er die seit 2015 halbjährliche erscheinende Zeitschrift „Ne znam“ zur Anarchismusforschung. Eines seiner Bücher ist das im Jahr 2012 erschienene „Anarchismus Marxismus Emanzipation“, das Gespräche über die Geschichte und Gegenwart der sozialistischen Bewegungen beinhaltet und das von seiner Aktualität nichts eingebüßt hat. Philippe Kellermann ist dabei nicht nur Herausgeber, sondern auch Gesprächspartner der fünf im Buch befragten Expert*innen. Sein Anliegen, die Kenntnis über „die Geschichte anarchistischen Denkes und libertärer Praxen“ weiter zu verbreiten und „historisch in ihr Recht“ zu setzen, wird in den Gesprächen durchgehend deutlich. Er hofft, dass den Lesenden „Anregungen für’s eigene Denken und die eigene Praxis vermittelt werden können“. Diese Hoffnung ist vollauf gerechtfertigt.

Die Verbindung von Anarchismus und Kommunismus

Kellermanns erste Gesprächspartnerin ist die Autorin Bini Adamczak, die gleich zu Beginn mit einer Illusion in der Linken aufräumt: immer auf der richtigen Seite zu stehen. Dazu lässt sich noch mehr sagen, denn die Illusion geht weiter. Sie beinhaltet die Überzeugung es besser zu wissen. Der Kapitalismus sei das Übel, es fehle nur die Aufklärung und die befreite Gesellschaft sei das Ziel. Andere Realitäten, Weltsichten, Wertvorstellungen, Wünsche und dass es Menschen gibt, die trotz allem alles anders sehen und haben wollen, haben im linken Bewußtsein weniger Platz.

Im Gespräch geht es um das langfristige Scheitern der russischen Revolution, also um die Diskrepanz zwischen den Träumen der Revolutionärinnen 1917 und der Realität der stalinistischen Sowjetunion. Adamczak betont, dass der Blick dabei vor allem auf die inneren Ursachen gerichtet werden muss, denn das Scheitern sei ihr nicht hauptsächlich und nicht unmittelbar von außen zugestoßen. Interessant sind die Verweise auf die frühe anarchistische Kritik am Bolschewismus, die seinen Mißerfolg voraussagen. Ähnlich prophetisch und dabei präzise äußerte sich Bakunin über den „Staatskommunismus“. Ein Problem, welches Marx nicht gesehen und lapidar beiseite geschoben habe. Historisch falle in der Sowjetunion mit der Verkündung vom Ende der Klassenkämpfe – woraufhin „mit einer Demokratisierung des Staates auch dessen Absterben eingeleitet werden sollte“ – das Einsetzen des Großen Terrors zusammen. „Heute heißt Bakunin Recht zu geben, Marxistin zu sein“, so Adamczak abschließend.

Auf die Frage nach einer Verbindung zwischen dem Marxismus und der bolschewistischen Theorie und Praxis führt Adamczak aus, dass es den Marxismus so gar nicht gebe, sondern „unzählbar mögliche Marxismen“. Sie betont, dass „die Bedeutung von Theorien für Geschichte im allgemeinen und Revolutionen im besonderen“ überschätzt wird – insbesondere von denjenigen, die sich am ausführlichsten damit beschäftigten, nämlich den Theoretikerinnen selbst. Das ist erfrischend und zugleich gut begründet. Sie zitiert Orlando Figes, der darauf verweist, dass der Verlauf von Revolutionen weniger durch abstrakte Ideenkomplexe determiniert sei, als durch die Aneignung der Ideen durch diejenigen, die zum Träger dieser Revolution werden. Was also in der Praxis aus der Theorie wird, ist weitestgehend unklar. Zudem dürfe durch die Theorie nie von den konkreten Umständen abstrahiert werden. Historische Bedingungen und Kämpfe bestimmten letztlich den Verlauf der Geschichte oder wie Adamczak sagt: „Die komplexe historische Situation der Revolution fügt sich eben nicht den Begriffen der Theorie, weder jenen der Kritik, noch jenen der Utopie oder denen der Moral.“

Interessant sind auch Adamczaks Gedanken zum Charakter der Revolution im allgemeinen. Der komplexe revolutionäre Prozess könne als singuläres Ereignis – etwa in der Metapher des Bruchs – nur unzureichend verstanden werden. Das gelte so auch für die Identifikation von Revolution als einer Eroberung der Staatsmacht. Mit Blick auf die russische Revolution spricht sie von einem „Ensemble von Mikrorevolutionen, die häufig unkoordiniert und nicht selten widersprüchlich in- und zueinander verlaufen, die von verschiedenen und gegensätzlichen Träumen motiviert werden und diese zugleich motivieren.“

Das Schlußwort von Bini Adamczak ist im wahrsten Sinne versöhnlich und schafft eine Perspektive, wie die beiden großen Strömungen der sozialistischen Bewegungen zueinander finden können, die sich vor allem durch den Weg zum Ziel unterscheiden: „Wenn Kommunistinnen die von 1921/1936 verlangte historische Verantwortung annehmen und aus dieser heraus eine radikale Kritik des autoritativen, parteizentrierten, produktivkraftfixierten, staatsorganisierten Weges leisten, fällt diese historisch konsituierte Differenz zwischen Anarchismus und Kommunismus zusammen.“

Von Selbstorganisation und Selbstermächtigung

Das zweite Gespräch im Buch führt Kellermann mit Jochen Gester, der als Verleger bei der Buchmacherei, zugleich den kurzen Gesprächsband mitproduziert hat. Auf Kellermanns erste Frage, die sich bei fast allen Gesprächen im Buch um die fehlende Rezeption anarchisitscher Theorie, Tradition und Literatur dreht, antwortet Gester, dass genau dieses in marxistisch geprägten Kreisen eher schwach ausgeprägt war und ist. In den 1960er und 1970er Jahren sei es zudem eher unwahrscheinlich gewesen, einem Libertären über den Weg zu laufen. Man habe sich im Zweifel eher nach starken Gruppen umgeschaut, von denen man sich auch eine Wirkung erhofft habe und sei dann auch erst einmal dabei geblieben. Den Anarchismus und andere politische Strömungen habe man in den marxistischen Gruppen nur über „apologetische Sekundärliteratur“ der eigenen Partei rezipiert.

Mit Blick auf den eigenen Verlag und dessen Anliegen leitet Gester zu einem zentralen Diskussionsgegenstand über. „Der schwierige Prozess von Selbstorganisation und Selbstermächtigung“ sei die sich durchziehende Idee in denen von ihnen gemachten Büchern. Wie zuvor Adamczak, so betont auch Gester, die eingeschränkte Wirksamkeit von Theorie. Die Realität lasse sich mit dieser nur begrenzt erfassen und verändern. Soziale Veränderungen, so Gester, basierten vor allem auf der Bereitschaft und der Fähigkeit von Menschen zu gemeinsamen Handeln. Theorie könne dann nützlich sein, wenn sie einen solchen Prozess befördere, wobei die Ergebnisse dann oft trotzdem in kein Lehrbuch passten. Nicht nur in diesem Punkt lässt sich eine Übereinstimmung mit den Inhalten aus dem vorherigen Gespräch feststellen.

Auch Gester befürwortet eine Synthese von Anarchismus und Marxismus, wobei er warnend anmerkt, dass „scholastische Debatten“ so etwas zerstören könnten, wenn das Renomme einzelner Gruppen oder wortführender Intellektueller im Vordergrund stehe. Er sagt, dass es im realen Leben in erster Linie darauf ankommen, „dass die Menschen beginnen selbstständig zu denken und zu handeln und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Dies mit Rat und Tat zu begleiten, ohne ihnen ständig zu sagen, was sie zu denken haben,“ sei „revolutionäre emanzipative Politik.“ Undogmatische AnarchistInnen und kritische MarxistInnen könnten dieses gleichermaßen praktizieren, so Gester abschließend. Bereits zuvor erfolgte der mahnende Hinweis auf die stete Gefahr mit der linke Strukturen zu tun haben, die zu Streit und zu Zerfall führen können: die mangelnde Fähigkeit bestehende Differenzen auszuhalten und zu respektieren. Die aktuelle Friedensbewegung bietet eine erneute Bewährungsprobe.

Schwierig für Anarchistinnen ist die Organisationsfrage. Das Bewußtsein für die Notwendigkeit einer Organisierung ist dabei auch schon seit den Zeiten Bakunins in der anarchisitischen Bewegung vorhanden und Diskussionsgegenstand. Gester stellt dabei zunächst fest, dass jegliche Form von politischer Organisierung stark abgenommen habe. Dies sei Schwäche und Chance zugleich. Letztere begründet sich vor allem darin, dass die Bürokratie von Partei und Gewerkschaft oft wie ein Bremsklotz gewirkt habe und damit eine fortschreitende Emanzipation verhindert habe. Um Vergleichbares in der Gegenwart zu finden, genügt ein Blick auf die gewerkschaftlichen Kämpfe im Jahr 2023 – etwa in Frankreich oder Deutschland. Eine Entwicklung hin zu Massenorganisationen wie Ende des 19. Jahrhunderts seien derzeit ohnehin abwegig. Die aktuelle gesamtgesellschafltiche Situation gleiche eher der „Frühpase der ArbeitInnenbewegung, in der ihre aktiven Kräfte unter Beweis stellen mussten, dass sie in einer feindlichen Umgebung überleben und sich reorganisieren können.“

Auch dass sich Menschenmassen in Millionenstärke ins politische Geschehen stürzen, seien eher historische Ausnahmesituationen. Nach einem kurzen Anschwellen würden sich die Menschen der (Selbst-)Organisation wieder entziehen. Dieser Umstand darf nicht übersehen werden. Sozialemanzipatorische Bewegungen müssten dann stärker auf Repräsentation setzen, obwohl dies den Prozess der Emanzipation kaum voranbringe und nicht selten gefährde. Es sei zentral, wie die aktive Minderheit agiere, wie sie den Kontakt zu den Passiven halte und in wie weit es gelinge, diese aktiv einzubeziehen.

Für die Organisierung der lohnabhängigen gesellschaftlichen Mehrheit müsse eine neue Kollektivität entwickelt werden, so Gester. Diese dürfe nicht erzwungen sein, sondern könne nur freiwillig geschehen. Dabei müsse ein Konsens über gemeinsame Interessen erzielt und eine Einheit bei Wahrung der Vielfalt hergestellt werden. Zur Organisierung gehörten aber auch die vielen kleinen Schritte. Nichts stelle sich von alleine her: „Es bedarf tätiger, organisierender Kerne.“ Auch bei der Organisierung – bei der Entwicklung neuer Formen von Kooperation und Gemeinschaftlichkeit – lägen die Schwierigkeiten in den Mühen der Ebene. Die individuelle und kollektive Entwicklung müsse dabei möglich sein, ohne zu bevormunden.

Eine klare Absage erteilt Gester einem Avantgarde-Denken, wie er es noch immer bei vielen marxistisch-leninistisch geprägten Linken ausmacht. Die Emanzipation der Arbeiterklasse müsse die Sache der Arbeiterklasse sein. Emanzipation und Selbstbefreiung geschähen vor allem auf einer individuellen Ebene, auch wenn man es gemeinsam tue. Es braucht also niemanden der vorangeht und den Weg, den er auszumachen geglaubt habt, weist. Auch Bakunin pflichtet bei: Die These, dass das Denken dem Leben und die abstrakte Theorie der gesellschaftlichen Praxis vorausgehe, sei völlig falsch. Dieses Denken führe nur dazu, dass sich Einzelne dazu berufen fühlten, anzuführen und das Volk zu leiten. Organisierung einer gesellschaftlichen Mehrheit und die vielfache Existenz „tätiger, organisierender Kerne“ muss kein Widerspruch sein, zu einer Bewegung die ohne Anführer und eine Avantgarde auskommt.

Auch Jochen Gester macht den utopischen Moment stark, indem er sagt, dass „eine Bewegung, die den Kapitalismus überwinden will, (...) zuerst die Aufgabe lösen [müsse], Organisations- und Kommunikationsformen zu entwickeln, die in den Grundzügen die Utopie der neuen Gesellschaft vorwegnehmen.“ Die Marxistinnen hätten das weniger ernst genommen und darauf verwiesen, dass erst die Regierung und die Macht erobert werden müsse. Damit gelte es zu brechen. Was das Verhältnis von AnarchistInnen und MarxistInnen angehe, so sei Gelassenheit im Umgang miteinander wohl das einzig Sinnvolle. Die Zukunft der gesamten sozialistischen Bewegung hänge davon ab, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen in Bezug auf die Gesamtgesellschaft realistisch einzuschätzen. Gerade hier seien Linke oft TraumtänzerInnen gewesen.

Zwischen Ideologien und Ideen in Bewegung bleiben

Kellermanns dritter Gesprächspartner ist der Publizist Gerhard Hanloser. Auf die erste obligatorische Frage nach Hanlosers Zugang zum Anarchismus, antwortet dieser, dass er als einen Weg versucht habe die anarchistische Literatur als Revolutionstheorien zu lesen und sie mit den Marxschen und marxistischen Versuchen zu vergleichen. So stellt Hanloser fest, dass beispielsweise Bakunins „Staat und Anarchie“ eine Revolutionstheorie enthalte, die der Marxschen diametral entgegengesetzt sei: Willensmetaphysik, Moral und das Setzen auf den wilden und gerechten Instinkt des Volkes, welches eine Vorstellung sei, die fast schon religiöse Züge aufweise, kennzeichnten demnach diese spezielle anarchistische Variante. Auch die spanischen Anarchisten des Jahres 1936 seien von einem quasi-religiösen Glauben an die Revolution beseelt gewesen.

Dieser quasi-religiöse Glaube taucht später im Gespräch in abgewandelter Form als ein „Spirit“ wieder auf, den Hanloser nicht nur bei den spanischen Anarchisten, sondern auch bei den Revolutionären der Münchener Räterepublik und dann später in der Häuserbesetzungsszene, der globalisierungskritischen Bewegung und auch bei den Platzbesetzungen im Jahr 2011 in verschiedenen Ausprägungen wiederfindet. Hanloser spricht von einer „Einübung ins Kollektive und Gemeinsame, die teilweise in einem romantizistischen Antikapitalismus wurzelten, in quasi-religiösen Gemeinschaftsritualen und der Jugend- und Wandervogelbewegung enstammten.“ Hanloser verschweigt nicht die teilweise Adaaption durch völkische und faschistische Kreise. Ungeachtet dessen findet er diesen „Spirit“ als die Formen eines Gemeinschaftsgeistes zur Konstitution nach-kapitalistischer Kollektive – Hanloser stellt eine lose Verbindung zu Ernst Blochs „Wärmestrom“ her – „enorm wichtig“.

Anderseits spart Hanloser nicht mit Kritik, weder an anarchistischen noch an marxistischen Vorstellungen. Bei einzelnen der anarchistischen Klassikern erkennt er nur wenig an Relvanz für die heutige Zeit. Der klassische Anarchismus sei zu sehr ein Kind des 19. Jahrhunderts. Wenig Einträgliches mißt er auch den „marxistischen Linken mit ihrem starren Blick und ihrer agitarorischen Zeitschrift in der Hand“ bei. Hanloser beschreibt sie „als Fremdkörper“ in den jüngeren Bewegungen der Globalisierungskritiker und Platzbesetzter. Die von „ihnen »wahrhaft sozialistische Erziehung der Arbeiterklasse« sei doch vollkommen überholt“. Umgekehrt würdigt er die Marx’sche Kritik zur politischen Ökonomie ausdrücklich und bescheinigt ihr eine ungebrochene Aktualität. Auch von einem Vorschnellen Verabschieden der modernen Klassenkampfideen halte er nichts.

Hanloser, der Soziologie, Geschichte und Pädagogik studiert hat, vermittelt wiederholt, wie wichtig stets die historische Kontextualisierung ist. Zudem könne man „an Vorstellungen, die sich historisch überlebt haben, nur um den Preis des Ideologisch-Werdens festhalten“. Ideologisches Denken sei für ihn vor allem unhistorisches Denken. Ideologien können aber nicht nur aus der Vergangenheit in die Gegenwart, sondern auch in die Zukunft getragen werden. Wenn aus einer Gesellschaftskritik heraus Vorschläge und Utopieentwürfe entstehen, liefen diese Gefahr ideologisch zu werden, sofern es ihnen nicht gelingt, anzuerkennen, dass der erdachte Raum vollkommen unbekanntes Terrain ist und gleichzeitig das eigene Wollen und die eigene Interessen kritisch hinterfragt werden. Zu stark ausgemalte Visionen von der Zukunft unterlägen einer solchen Gefahr.

Spannender als die Ideologien und ohnehin bedeutsamer ist die emazipatorische Praxis. So hätten sowohl die spanischen Revolutionäre, wie auch die kommunistische Bewegung und die Bewegungen, die sich auf Marx bezogen haben, die Ideologien ihrer eigenen Bewegungen oftmals überschritten. Die wirkliche Bewegung sei demnach viel radikaler gewesen als ihre zugehörigen Ideologien. Dieser Punkt, der schon in den zuvor geführten Gesprächen auftaucht, zeigt, dass die Aneignung von Ideen durch die Bewegung einer ganz eigenen und unvorhersehbaren Entwicklung folgt. „Es ist allein die fact-to-face Verbindung, die Vernetzung, die Verknüpfung und Beziehung von Aufbrechenden, die etwas Neues schafft.“, so Hanloser im weiteren Verlauf des Gesprächs.

Konkret schließt er daran die Frage an – das Gespräch ist aus dem Jahr 2011 – ob sich die Occupy-Bewegung, die Streikenden und die Plünderer aus den englischen Städten miteinander verbünden können und fragt weiter, ob „es gelingen kann, nicht nur zentrale Plätze anzueignen, sondern den gesamten produktiven Gesellschaftskomplex, um diesen neu, jenseits von Staat, Geld und Lohnarbeit zu organisieren?“ Bekanntermaßen hat eine solche Verbindung weder in England noch anderswo stattgefunden und sie ist auch heutzutage kaum – allenfalls in Ansätzen – zu erkennen. Die Frage hat aber weiterhin eine grundsätzliche Bedeutung. Es wäre wichtig über Möglichkeiten nachzudenken, sie positiv zu beantworten.

Einen Hinweis zu einer möglichen Antwort liefert Kellermanns Befund zur Novemberrevolution in Deutschland im Vergleich mit dem Spanischen Bürgerkrieg: In der deutschen Novemberrevolution konnte eine grundlegende Transformation nicht einmal ansatzweise eingeleitet werden, weil es keine Vorstellung davon gab, wie dies hätte geschehen können. Man war stattdessen auf den Parlamentarismus, den Trade-Unionismus und die Parteienhierarchie fokussiert. Anders sei dies in der Spanischen Revolution gewesen. Während in anderen Revolutionen immer nur die Kritik im Vordergrund stand, wurden bei den Spaniern immer wieder die Ziele und konstruktiven Ideen wiederholt.

Noch mehr Gespräche und ein Fazit

Das Buch von Kellermann beinhaltet noch zwei weitere Gespräche mit den Politikwissenschaftlern Joachim Hirsch und Hendrik Wallat, die ebenfalls noch viel Interessantes zu bieten haben. In der Hoffnung keinen Unmut zu erzeugen, sei der geneigten Leserin die eigenständige Lektüre, auch ohne weitere Hinweise zu den Gesprächsinhalten, nahegelegt.

Das Buch von Kellermann zu Anarchismus, Marxismus und Emanzipation liefert viele anregende Gedanken. Die Betrachtung und Diskussion der Vergangenheit, der sozialistischen Strömungen und ihrer Beziehungen untereinander, von sozialen Bewegungen und ihren Kämpfen ist lohnend und beinhaltet viel, was für gegenwärtige Diskussionen und Kämpfe fruchtbar gemacht werden kann. Eine konkrete Anregung in diesem Sinne liefert Jonathan Eibisch in seinem Text „Bewegungslinke, Anarchismus und (Anti-)Politik“, indem er den Vorschlag unterbreitet, die von Sutterlütti und Meretz formulierte Keimformtheorie, die er als anarchistische Transformationsstrategie bennent, mithilfe anarchistischer Theorie und Praxis weiterzuentwickeln.

Für das Fazit ließen sich mehrere Punkte herausnehmen. Weil dann hier doch die Theorie so stark im Vordergrund steht, soll es am Ende die Praxis sein, denn fast durchweg wird betont, dass letzlich sie es ist, die entscheidet. Das heißt nicht, dass auf die Theorie verzichtet werden kann. Was aber in der Bewegung daraus wird, entscheidet sich erst in der Bewegung.

Und an eines muss dabei auch gedacht werden: Es geht um die Vermittlung zwischen den theoretischen Räumen und den Trägerinnen der Transformation. Die intellektuellen und exklusiven Zirkel scheinen oft nur um sich selbst zu kreisen. Inwieweit ihre Diskussionen Relevanz besitzen, ist unklar. Das Spektrum dürfte dabei fast vollständig sein und von der absoluten Nichtigkeit bis hin zur Möglichkeit einer geschichtsverändernden Triebkraft reichen. Von der „anderen Seite“ aus betrachtet wird es dann spannend. Die spanische Revolution liefert dafür ein schönes Beispiel. Viele spanische Anarchisten waren Analphabetinnen. Wie haben sie ihre Vorstellungen von Revolution und Freiheit entwickelt und wie schaute ihre Übersetzung in eine emanzipatorische Praxis aus?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thiemo Kirmse

schreibt über Utopie und Transformation unter https://room-with-a-view.net/

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