Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten." Knapp 500.000 Einwohner hat Leipzig, 500.000 Mark sollen für die Kultur an der Stadt-Basis im nächsten Jahr gestrichen werden, eine halbe Stunde AWACS über den Wolken kostet vielleicht 500.000 Mark, was sicher irgendwo auch steht. Man weiß es nicht. Aber der Morgen ist schön, die Sonne steht. Oben, das ist zu sehen. Eine Realität für jedermann, sozusagen.
Ich breche auf zur "Basis", zum "Krisentreffen der kulturellen Basisfront", quer durch die Stadt, die vormittags halb zehn zu allgemeiner Staubildung neigt. In den letzten Wochen stehen dazu noch an allen Ecken Polizeiwagen herum, was die Sache nicht besser macht. Und vor dem Amerikahaus langweilen sich Polizisten mit Schnellfeuergewehren.
Vielleicht liegt es daran, dass ich seit Nächten in der Stalin-Biografie des Isaak Deutscher lese - als ich ins Auto steige, komme ich mir jedenfalls vor, als führe ich zu einem konspirativen Treffen. Die Revolutionäre würden um den großen Tisch herum sitzen, Machorka rauchen, illegale Zeitungen verteilen, Wodka saufen und scharfen Auges jeden Eintretenden mustern. Und in den Ecken stünden Molotow-Cocktails. Und Karabiner und Handgranaten mit Stiel. Ich kam an. Die Tür war verschlossen, sie wurde aufgetan. In der Kneipe hing kalter Rauch. Wodka gab es nicht, Handgranaten auch nicht, nur Kaffee und Papier. Die Menschewiken schienen in der Überzahl zu sein.
Da saßen sie also, denen das Wasser bis zum Hals steht, Oberkante Unterlippe, sagt der Volksmund, und warteten wortkarg auf Nachzügler. Ich dachte an den Weg hierher und an die Demo vom vergangenen Montag. Immerhin knapp tausend Menschen waren zusammengekommen, vor der Nikolaikirche, dem schwangeren Boden, hatten Plakate getragen und besorgte Gesichter gemacht, sogar Kerzen angezündet beim Gang durch die Innenstadt. Und getrommelt. "Hörst du denn nicht den Trommler, der beharrlich in dir schlägt ..." Vielleicht ist in Leipzig, in Sachsen, in diesem Land überhaupt einiges an Grenzen angekommen, was sich nicht mehr so recht mit knarriger Stimme übertünchen lassen will. "Hör auf ihn, er sagt dir was, wenn er sich nicht mehr regt, ist das ein Zeichen dafür, dass sich gar nichts mehr bewegt."
Wir saßen jedenfalls, rauchten und tranken Kaffee und jemand erzählte, dass man ein paar Tage vorher die Regionalpresse, respektive das Stadtmagazin, vorsorglich aus der Versammlung geschmissen habe. Worauf der Fotograf des Kreuzer gemault haben soll: "So fotogen seid Ihr auch wieder nicht." Das Hochglanzmagazin mit seiner monatlichen Hofberichterstattung und dem ewigen Wiederkäuen dessen, was es für modern hält, hat seine alternative Herkunft als Beilage der eingegangenen Leipziger DAZ (Die andere Zeitung) aus Wendezeiten längst entsorgt.
Eine halbe Stunde nach zehn waren immer noch nicht alle da, zwölf waren wir und es ging los. Der Zigarettenverbrauch stieg. Schnell wurden Fronten klar. Die einen waren für große "Aktion", die anderen für Bitten im Stadtparlament. Die Diskussion wallte, es wurden kluge Sätze gesprochen. Die jüngeren Leute waren für Bitten. Man traf sich in der Mitte, das Wort Streik tauchte auf, "Basiskulturstreik", Monatsprogramme ohne Programme, weiße Flächen, weißer Januar, leere Seiten, weiß wie Schnee, und im Rathaus würde man sich noch in diesem Jahr auf den blanken Fußboden legen - sollen doch die Parlamentarier über die Basiskultur steigen, sie hinter sich lassen, immer ist es ein Kampf mit Symbolen gegen Symbole. Ich stellte mir vor, wie ein Stadtparlamentsfuß auf einen Basiskulturbauch tritt. Aber vielleicht würden die Sicherheitsleute bei der aktuellen Sicherheitslage die Basiskultur auch einfach sicherheitshalber vor die Tür werfen, was natürlich auch wieder ein symbolischer Akt wäre.
Die Reden wurden hitziger, die Argumente schärfer. Wenn ich nicht einen Tag vorher gehört hätte, dass einige Vereine zur ersten Versammlung in der Moritzbastei ihre Vertreter nur schickten, um herumzuhorchen, wer denn woher Fördergelder bezieht, hätte dieser Tisch in dieser Kneipe tatsächlich etwas von einer konspirativen Sitzung im vorrevolutionären Russland haben können. Aber nix konspirativ. Oder doch. Wie man will. Die Kneipentür war jedenfalls unverschlossen geblieben. Und ging es hier nicht eigentlich um die vielbeschrieenen Futtertöpfe? Die hier saßen, rangelten sie nicht eigentlich nur um ihre Jobs? Genau als ich das dachte, purzelte das Selbstverständnis der Basiskultur auf den Tisch, Selbstverständnis und Selbstverwirklichung, vom Bürger immer beargwöhnt und immer im Rechtfertigungszwang - ein Gedicht kann man nicht essen oder so. Die ideologischen Debatten zwischen Lenin und Trotzki fielen mir ein, und die langweiligen Auszüge aus Stalins Schriften, Wort und Macht, die einen hatten die Macht der Wörter, die anderen nahmen ihnen die Macht im Lauf der Zeit ab. Kultur ist auch Macht, dachte ich. Wer der Basis den Hahn abdreht, schafft sich Macht vom Hals. Ich nickte. Niemand bemerkte es. Um Symbole geht es. Die Selbstmörder in den Flugzeugen haben nicht die Freiheitsstatue attakiert. Vielleicht sollten die Leute hier auf den Montagsdemos mitmarschieren. Krieg und Kultur schließen sich weitgehend aus.
Dann stürzte ein Fahrradkurier herein und schaute verwirrt. Sein gerötetes Gesicht war augenscheinlich keine revolutionäre Eile. Ich sollte vielleicht nicht so viel Isaak Deutscher lesen. Der Fahrradkurier wurde wieder weggeschickt. Die Tür fiel zu. Draußen schien immer noch die Sonne. Straßenbahnen rumpelten vorbei, ein Vater mit Tochter trödelte mit Eis in der Hand, ein Hund pinkelte gegen die Hauswand, die Versammlung näherte sich dem Ende, eine Nachzüglerin kam und setzte sich in eine Ecke. Man beschloss den Druck eines Info-Blattes, das Wort Streikzeitung wurde verworfen, der Jüngste ging, nachdem er auf seine Uhr geschaut hatte, fast unbemerkt. Die Kaffeetassen standen etwas überflüssig auf dem Tisch herum. Es schien, als hätte der Van Veensche Trommler seine Stöcke aus den Händen gelegt. Eine dieser Pausen trat ein, die schwer auszuhalten sind. Es ist eine Leistung, sich zusammentun zu wollen, für den Ameisenhaufen Basiskultur erst recht. Die Debatte gewann wieder Fahrt, das Boot auf stürmischer See, wild rudernde Mannschaft. Eine Podiumsdiskussion wurde beschlossen. Politiker reagieren auf Masse. Das Info-Blatt mit ein paar Wahrheiten könnte eine Sache mit Wirkungsgrad werden. Die SPD-Regierung dieser Stadt bekäme sozusagen einen Druck vor den Bug und die CDU-Landesregierung in Dresden gleich mit, vielleicht.
Wir gingen auseinander, hoffnungsvoll. Schon allein darin, dass hier Leute über einem gemeinsamen Ding gesessen, geredet, geplant, gestritten hatten, steckte Kraft. Basiskultur als Lebensform. Träumer, Spinner, Frauen mit rauen Stimmen, Pulloverträger mit grauen Stellen auf dem Igelkopf waren dabei, sich bei den Händen zu fassen. Ein bisschen fühlte es sich wie "We shall over come" an.
Auf der Rückfahrt war wieder Stau, die Glieder des Blechwurms hoppelten wie unentschlossene Hasen, auf den Wegen links und rechts überholten grinsende Radfahrer. Aber am Himmel schwammen ein paar Wattewolken und einzelne Bäume leuchteten so gelb und rot, dass man die Augen zusammenkneifen musste. Ich schaltete das Radio ein. Amerika sagte, dass es doch noch nicht die Lufthoheit über Afghanistan habe. Ich drehte den Sender weg. In meinem Bauch schlug der Trommler.
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