Hilfen, die nicht helfen

Corona Warum die Überbrückungsprogramme für Selbstständige zum Desaster geraten
Ausgabe 31/2021

Kurz vor den Sommerferien ließ das nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerium die Katze aus dem Sack. Der Zeitpunkt schien günstig, die Inzidenzwerte waren auf einem Tiefpunkt angelangt. Die Empfängerinnen der „NRW-Soforthilfe“, allein im größten Bundesland sind das 430.000 Kleinstbetriebe mit maximal fünf Beschäftigten, wurden aufgefordert, bis Ende Oktober ihren „tatsächlichen Liquiditätsengpass zu ermitteln“. Hinter der bürokratischen Formulierung verbirgt sich ein sozialpolitischer Sprengsatz: Weil sie kaum „Fixkosten“ haben, muss ein großer Teil der Betroffenen die 2020 überwiesenen 9.000 Euro zurückzahlen – trotz fehlender Einnahmen. Nur wer vor dem 1. April 2020 einen Antrag gestellt hat, dem bleiben 2.000 Euro „Unternehmerlohn“ für den laufenden Lebensunterhalt. Ein schwacher Trost nach anderthalb Jahren Pandemie mit faktischem Berufsverbot etwa für Künstler und andere Mitarbeiterinnen der Veranstaltungsbranche: Entgegen offiziellen Verlautbarungen handelt es sich um eine „Hilfe“, die nicht hilft.

Das Beispiel aus NRW steht für einen ganzen Flickenteppich aus Bundes- und Landesprogrammen. In der Corona-Krise wurde klar: Von den Bedingungen, unter denen die einst massiv beworbenen „Ich-AGs“ ihre Existenz bestreiten, haben die gut abgesicherten Beamten in den zuständigen Verwaltungen meist keine Ahnung. Die „Interessengemeinschaft NRW-Soforthilfe“, in der sich nun Einzelunternehmen zwecks einer Klage gegen die Rückzahlung zusammengetan haben, spricht von einem „Ausmaß an Tücke, das man vielleicht Behörden in Bananenrepubliken zutrauen würde, aber bestimmt nicht dem Bundesland, dessen Ministerpräsident für das Amt des Bundeskanzlers kandidiert“.

Vollmundige Ankündigungen aus der Politik begleiteten das ständige Auf und Ab an Lockdowns und Lockerungen von Anfang an. Man sei bereit, betroffene Betriebe für ihre Verluste großzügig zu entschädigen, betonten Finanzminister Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier immer wieder. Doch nur ein gutes Drittel der im laufenden Haushalt eingeplanten Gelder ist bisher angekommen – das ergab Anfang Juli eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion an die Bundesregierung. Für 2021 waren ursprünglich 39,5 Milliarden Euro vorgesehen, Ende März erhöhte das Kabinett den Betrag um zusätzliche 25,5 Milliarden. Von der Gesamtsumme von 65 Milliarden wurden in der ersten Jahreshälfte nur 23 Milliarden an die Länder transferiert oder direkt an die Antragsteller ausgezahlt.

Bei der „Überbrückungshilfe“ zeigt sich für 2020 ein noch blamableres Bild: Von den veranschlagten knapp 25 Milliarden wurden nur 3,7 Milliarden Euro genutzt. Die gravierende Differenz liegt teils darin begründet, dass die Programmierung der Antragssoftware lange dauerte und das Geld erst verspätet 2021 überwiesen wurde. Wirkung zeigten aber auch die schlechten Erfahrungen der Betroffenen mit der „Soforthilfe“: Per Mail kündigten die Behörden früh an, man werde die Ansprüche gründlich prüfen, um Subventionsbetrug auf die Schliche zu kommen. „Schwarze Schafe“ gab es in Einzelfällen, sie fielen aber quantitativ kaum ins Gewicht. Umso besser eignete sich das Mediengeraune über kriminelle Machenschaften, um tatsächlich bedürftige Kleinstunternehmen abzuschrecken. Als Folge verzichteten viele der bundesweit rund 2,2 Millionen Soloselbstständigen von vornherein auf weitere Anträge.

Die Interessengemeinschaft Soforthilfe hat jetzt Verwaltungsjuristen eingeschaltet, um das Prozedere rechtlich zu klären. Ein zentrales Argument lautet, dass es sich bei den regelmäßig versandten Nachrichten an die Zahlungsempfänger „nicht um einfache Mitteilungen handelt“, man habe vielmehr „zuvor nicht geltende Änderungen an den Bewilligungsbescheiden“ vorgenommen. Als Beleg für Ungereimtheiten dient auch eine Pressemitteilung von Olaf Scholz nach Inkrafttreten des ersten Lockdowns: „Wir geben einen Zuschuss, es geht nicht um einen Kredit. Es muss also nichts zurückgezahlt werden“, schrieb er am 23. März 2020. Sein großspuriges Versprechen hat sich als heiße Luft entpuppt.

„Die Bedingungen für Hilfezahlungen waren zum Teil unklar und unpräzise, sie wurden im Nachhinein uminterpretiert“, kritisiert Christoph Schmitz, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand. Viele der Rückforderungen hält er deshalb für „fragwürdig“. Die Dienstleistungsgewerkschaft unterhält ein kleines Service-Referat für selbstständig tätige Mitglieder, leider verfügt es in der riesigen Organisation nur über marginalen Einfluss. Die engagierte Leiterin Veronika Mirschel rät Betroffenen, „erst mal abzuwarten“, sie verweist auf den individuell gewährten Rechtsschutz. Erst nach Zahlungsbescheiden wollen die DGB-Juristen aktiv werden. Die zögerliche gewerkschaftliche Haltung steht in Kontrast zur bereits 7.000 Köpfe zählenden Selbsthilfegruppe Soforthilfe. Diese kooperiert inzwischen auch mit dem Hotel- und Gaststättenverband, durch ihren kämpferischen Auftritt füllt sie ein politisches Vakuum.

Peinlich für die FDP

Die Umgang mit Kleinunternehmern in der Corona-Krise zeigt, wie wenig die Sozialdemokratie und ihr gewerkschaftliches Umfeld die Prekarisierung der Erwerbswelt im Blick haben. SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil verweist stolz auf Aufstockung und Verlängerung des Kurzarbeitergelds, sogar die Sozialabgaben der Betroffenen übernimmt zeitweise der Staat. Festangestellte werden gut versorgt, kleine Selbstständige dagegen mit Zusagen abgespeist, die später gebrochen werden. Das ist ein Rückfall in altes Denken, jede Art von freiberuflicher Tätigkeit wird pauschal dem Arbeitgeberlager zugerechnet.

Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die entlarvenden Daten zum Stand der Auszahlung durch die FDP-Bundestagsfraktion offengelegt wurden. Die Vorgänge in NRW allerdings sind peinlich für den liberalen Ressortchef Andreas Pinkwart. Wie Parteifreunde bemüht er in Sonntagsreden gerne das Credo des freien Unternehmertums. Seine Pressestelle bejubelt das „größte Hilfsprogramm in der Geschichte des Landes“, faktisch ruiniert die Behörde mit ihrer Rückzahlungsaufforderung gerade viele Existenzen. Nicht einmal eine gemeinsame Veranlagung der Geschäftsjahre 2020 und 2021 bei den Finanzämtern ist möglich, ergab eine Nachfrage im Ministerium: Die Empfängerinnen zahlen also Steuern auf Fördergelder, die ihnen der Staat danach wieder wegnimmt.

Kein Wunder, dass der Mut zur „Ich-AG“ rapide schwindet. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung warnt in einer Studie, die Pandemiebekämpfung zwinge immer mehr Selbstständige zur Aufgabe. Ein Viertel der freiberuflich Tätigen sei bereits ausgestiegen, elf Prozent suchten eine feste Stelle, 15 Prozent seien „inaktiv“, vor allem Frauen. Rund 130.000 Betroffene haben sich neu bei den Jobcentern gemeldet, sie beziehen seither Hartz IV. Eine Umfrage der Kreditauskunft Schufa zeigt, dass 70 Prozent der Selbstständigen wegen Corona von Einkommensverlusten betroffen sind, im Durchschnitt sind es nur 38 Prozent.

Wirklich geholfen haben die Rettungsprogramme Kleinbetrieben, die hohe Mieten für Läden und Büros schultern mussten oder teure Leasingverträge abgeschlossen hatten. Im Gegensatz zu Künstlern und anderen Heimarbeiterinnen konnten sie ihre Ausgaben relativ einfach geltend machen und sich trotz Schließungen über Wasser halten. Ein kaum beachteter Effekt der Berechnungsmodalitäten war, dass gewerbliche Vermieter und kreditgebende Banken so mit zuverlässigen Zahlungseingängen rechnen konnten. Mithin größte Nutznießer der Sofort- und Überbrückungshilfen sind also große Immobilienfirmen und Versicherungskonzerne, denen die meisten teuren Objekte in den Innenstädten gehören. Deren Profite wurden dauerhaft gesichert, die Freiberufler ohne „Fixkosten“ im Regen stehen gelassen.

Der Vertrauensverlust in die Politik ist enorm. Auch ein Folgeprogramm wie die gerade bis September verlängerte „Neustarthilfe Plus“ sieht keinen „Unternehmerlohn“ als befristetes Grundeinkommen für Soloselbstständige vor. Der erzielte Umsatz wird zwar in die Berechnung einbezogen, Geld fließt aber nur, wenn er weniger als die Hälfte der Summe aus den Zeiten vor der Pandemie ausmacht. Dass Betroffene mit 55 oder 60 Prozent ihrer früheren Einnahmen kaum überleben können, kommt Politikern oder Sachbearbeiterinnen nicht in den Sinn. Die Aussichten bleiben düster: In der Veranstaltungswirtschaft etwa ist jenseits der Fußball-Bundesliga weitgehend unklar, was stattfinden darf und was nicht. „Im kommenden Herbst und Winter nur digital“, bekommen Künstlerinnen oder Messebauer bei Verhandlungen derzeit zu hören. Großereignisse wie Musikfestivals haben lange Planungshorizonte, die Termine im Sommer 2022 stehen schon jetzt unter Vorbehalt.

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