Wie heißt das Propagandaschwein: Schwatzwutz, Squealer, Petzer oder Petzwutz?
Fotos: Ullstein/Getty Images
Am 1. Januar erlosch, knapp 71 Jahre nach George Orwells Tod, die Schutzfrist des Urheberrechts. Dass es dann – zumal bei einem solchen Klassikerautor – zu Neuübersetzungen des Hauptwerks kommt, ist keine Seltenheit. Orwell-Fans waren bislang beim Diogenes Verlag gut aufgehoben, der bis auf 1984 Orwells Gesamtwerk aufgelegt hat. Für die bekannteste Dystopie der Welt besaß Ullstein die Exklusivrechte. Für die legendären Romane Farm der Tiere und 1984 sind die Übertragungen von Michael Walter einschlägig. Die bekommen nun von mehr als einem Dutzend Neuübersetzungen Konkurrenz, wenngleich man bei den Billigausgaben von Nikol und Anaconda nicht allzu viel erwarten darf, bei den Reclam-Ausgaben schon. Zudem erscheint eine Neuübersetzung v
int eine Neuübersetzung von Orwells Debütroman Tage in Burma. Eine wahre Bücherflut, die unmittelbar zur Auseinandersetzung mit der Übersetzungskunst führt.Das N-Wort kommt vorOrwells Romane gelten aufgrund ihrer unzähligen Anschlussmöglichkeiten als zeitlose Klassiker, sind aber vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen entstanden. In Tage in Burma verarbeitete er seine Dienstzeit als Polizeibeamter in Burma und zeichnete ein verheerendes Bild der britischen Kolonialherrschaft. Sein Verleger Victor Gollancz lehnte den Roman aus Angst vor den Behörden erst ab, druckte ihn nach dessen Erfolg in den USA schließlich doch. Diese Erfahrung verlegerischer Feigheit sollte sich für Orwell bei Farm der Tiere wiederholen. In dem Märchen spiegelte Orwell – der als Trotzkist im Spanischen Bürgerkrieg nur knapp den Säuberungen der stalintreuen Geheimpolizei entkam – die Perversion des Kommunismus unter Stalin und zeigte auf, wie eine Revolution erst gelingt und dann gekapert wird. Die „genialste politische Parabel der Weltliteratur“ (Eva Menasse) schrieb er mit 1984 fort, wo nicht nur die „planmäßige Zersetzung und Auslöschung des Wahrheitsbegriffs“ (Mirko Bonné) vorgeführt wird, sondern auch, in welch unmenschliche Selbstzerstörung radikale politische Ideologien führen.Im Mittelpunkt seines Debüts steht der britische Teakholzhändler John Flory, der sich im Gegensatz zu den auftretenden Imperialbeamten für die burmesische Kultur und Lebensweise interessiert. Er würde zwischen Kulturen vermitteln, doch wo er auch auftaucht, wartet schon das Herrenmenschentum der britischen Kolonialisten. „Wichtig war es mir, nichts Unkonventionelles zu glätten“, sagt Manfred Allié über seine Neuübersetzung. Zugeständnisse an den politisch korrekten Zeitgeschmack hat er deshalb nicht gemacht. Wenn Orwell einen britischen Imperialisten verächtlich das N-Wort brüllen lässt, brüllt er das auch bei Allié. So gelingt es dieser Übertragung, die Atmosphäre einer nahezu vergessenen Welt in all ihrer Unmenschlichkeit aufzuzeigen. Dabei entwickelt der deutsche Text einen Sog, wie man ihn von Orwells Klassikern kennt.Die erscheinen gleich mehrfach in neuer Gestalt. Die Unterschiede in der Übertragung der Erzählung vom Aufstand der Tiere auf Mr Jones’ Herrenfarm beginnen schon bei den Namen. Das an den Stalin-Vertrauten Molotow angelehnte Propagandaschwein Squealer hieß bei Michael Walter Schwatzwutz. Lutz-W. Wolff und Hans-Christian Oeser belassen es nun bei „Squealer“, Simone Fischer nennt den Eber sprechend „Petzer“, Ulrich Blumenbach spielerischer „Petzwutz“. Kleinigkeiten, aber der Eindruck, dass es sich manche Übersetzung einfacher macht als andere, manifestiert sich. Oeser und Blumenbach spielen dabei in einer anderen Liga, was besonders sichtbar wird, wenn Orwells Text poetisch abhebt. Etwa bei der Hymne auf Napoleon, die im Original dem Rhythmus der Internationale folgt. Allein Blumenbach und Oeser finden Lösungen, um dies im deutschen Text nachzubilden. Unter den acht 1984-Übersetzungen ragt Frank Heiberts Text heraus, auch weil er als Einziger die Handlung radikal in die Gegenwart holt. Insgesamt suchen alle Übersetzenden mit Wortwahl, Satzbau oder sprachlichen Markierungen eine eigene Version. Nicht allen gelingt das. Vor allem fällt die Inkonsistenz bei den Ausgaben von Manesse und Reclam ins Auge. Wo Blumenbach und Oeser übersetzen, sitzen Gisbert Haefs und Holger Hanowell so manche Herausforderung aus. Ihre Übersetzungen bewegen sich, wie auch beide Übersetzungen des ehemaligen DuMont-Verlegers Wolff, syntaktisch und lexikalisch nah am Original. Den bekanntesten Satz des Romans, „Big Brother is watching you“, tastet neben Wolff auch Karsten Singelmann nicht an, die Zielgruppe seiner als Jugendbuch erscheinenden Übertragung wird das nicht stören. Bei Haefs und Eike Schönfeld hingegen „beobachtet dich“ der Große Bruder oder „hat dich im Blick“. Alle Texte eint, dass der oberste Genosse drohend vom Plakat duzt. Warum Fischer, Hanowell und Haefs – wie schon Michael Walter – die Genossen dennoch siezen lassen, erklärt sich nicht einmal mit Doppeldenk.Auch beim Neusprech setzt jede Übersetzung eigene Akzente. Allerdings passen sprechende Begriffe wie „Gesichtsverbrechen“ (für „facecrime“) oder „Eigenleben“ (für „ownlife“) für das inhaltsleere Neusprech weniger als Heiberts „Mimkrim“ oder „Egoleb“. Bei den Neusprech-Wörtern „müssen Kürze und Verständlichkeit funktionieren und ein bewusster Mangel an Anmut gegeben sein“, findet Heibert. Je tiefer man in die Texte einsteigt, desto auffälliger wird das Gefälle der Übersetzungen. Die „tremendous show“, die für die Hasswoche organisiert werden soll, wird als „richtige“, „riesige“ oder „gigantische“ Show übersetzt. Alles nicht falsch. Aber erst Heiberts „Wahnsinnsspektakel“ vermittelt den Druck des Regimes. Orwell ließ die „proles“ – je nach Übersetzung Prolls, Prolos oder Proleten – zudem Cockney sprechen. Schönfeld ignoriert diese Markierung völlig, alle anderen versuchen – mehr oder weniger – mit Soziolekten Schwung in den Text zu bringen. Fischer lässt die Prolls berlinern, Heibert greift zum Ruhrpott-Sound. Letztlich hält nur er seine Markierung durch und findet auch bei Reimschemen großartige Lösungen.Reinhard Kleist illustriertWenngleich 1984 eine ungeheure Anschaulichkeit hat, stammen die Bilder im Kopf von Michael Radfords bedrückender Verfilmung. Zwei Comics sowie Reinhard Kleists Illustration von Heiberts Übersetzung versuchen das zu ändern. Der Berliner Kleist liefert mit seinen rauen Zeichnungen visuelle Ideen, wo der Roman vage bleibt. Seine bedrückenden Illustrationen deuten an, was die Neunte Kunst mit Orwells Visionen machen könnte. Enttäuschend ist die Adaption der beiden Franzosen Jean-Christophe Derrien und Rémi Torregrossa. Für das Szenario hat Derrien den Roman zum Steinbruch gemacht, Torregrossa zeichnet brav und glatt. Das für Mai angekündigte Album von Sybille Titeux de la Croix und Amazing Ameziane ist zwar recht textlastig, aber Amezianes Zeichnungen sind stilistisch vielfältiger. Die postapokalyptische Kälte liegt hier als blaugrüner Schimmer in der Luft, das allgegenwärtige Misstrauen ist den grimmigen Gesichtern eingeschrieben, und der unstete Rhythmus der Zeichnungen gibt der ständigen Bedrohung Gestalt.Die größte Bildgewalt entfaltet aber immer noch Orwells Werk selbst. Und es sind die Übertragungen von Allié, Blumenbach und Heibert, die dies im Deutschen am besten erfahrbar machen.Placeholder infobox-1
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