Wer sich den Kinofilm Operation Walküre angesehen hat, wurde Zeuge der Bearbeitung eines der größten deutschen Mythen: Preußen. Die Verschwörung um eine Gruppe von Claus Schenk Graf von Stauffenberg war der letzte Versuch der preußischen Generalität, sich gegen das nationalsozialistische Regime zu wenden. Dabei ging es vor allem um die Ehrenrettung der nationalkonservativen Kräfte.
Nur wegen dieses Akts kann dieser Mythos heute in der Bundesrepublik immer wieder reüssieren. Sei es bei der alljährlichen Gedenkfeier für die Attentäter des 20. Juli im Bendler-Block des Verteidgungsministeriums in Berlin. Sei es mit der 2007 vom Deutschen Bundestag beschlossenen Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses. Immerhin wird mit dessen voraussichtlicher Fertigstellung 2015 die einstige preußische Parademeile Unter den Linden komplettiert.
Doch brauchen die Deutschen heute noch Mythen – mehr als 90 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und 70 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen? Hat die mit Mythen beschwerte Identität der Deutschen nicht eher ins Verderben geführt?
Geschickte Handwerker
Die Bundesrepublik feiert in diesem Jahr das 60. Jubiläum des Grundgesetzes und zum 20. Mal die Wiedervereinigung. Waren dies nicht völlig mythenfreie Ereignisse? Welche Funktion haben Mythen in einer Welt, die durch die Aufklärung längst entzaubert ist? Und ist die Befriedigung Deutschlands nach der Erfahrung der mythischen Versessenheit im Dritten Reich nicht das beste Argument für eine Distanzierung vom Mythos?
Schon Ernst Cassirer warnte vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus vor den neuen politischen Mythen. Diese würden „von sehr geschickten und schlauen Handwerkern“ gemacht, schrieb der deutsch-jüdische Philosoph 1946 in seinem Spätwerk Der Mythus des Staates. Seine Warnung vor der Verbindung des Mythos mit der Technik hatte Cassirer der Herrschaft des Nationalsozialismus abgeschaut, sie wirkt aber heute plötzlich wieder beklemmend aktuell.
In Deutschland spielten Mythen immer eine besondere Rolle. Ob Barbarossalegende oder Faustsaga, der Gang nach Canossa oder die Varusschlacht – diese legendenumrankten Stationen begleiteten die Deutschen in ihrer Geschichte und insbesondere den Aufstieg Preußens zu deutschen Zentralmacht ab der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Diese „zeitweilige Mythenversessenheit“ der Deutschen, wie es der Berliner Politologe Herfried Münkler in seinem neuen Buch Die Deutschen und ihre Mythen nennt, brachte auch jene Mentalität hervor, der Heinrich Mann in seinem Roman Der Untertan ein literarisches Zeugnis aufsetzte. Die preußische Armee fungierte im Deutschen Kaiserreich als „Schule der Nation“ und trug damit zur Militarisierung der preußischen Gesellschaft bei, wie der amerikanische Historiker James Sheehan in seinem Buch Kontinent der Gewalt schreibt.
Das Trauma des Versailler Vertrags, die Deklassierung des Kleinbürgertums und die massive Militarisierung führten in den Abgrund des Nationalsozialismus, der die Tradition der preußisch-wilhelminischen Ära und der altdeutschen Mythen geschickt zu verknüpfen wusste. Dieser „Rückschritt in eine neue Form der Barbarei“, wie ihn Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung bezeichneten, hat die Instrumentalisierung deutscher Legenden in Gesellschaft und Politik unmöglich gemacht. Mythos und Revisionismus sind heute in Deutschland noch immer Synonyme.
Dieser gängigen Ablehnung des Mythos schließt sich Münkler, unter anderem durch seine umstrittene Analyse der „Neuen Kriege“ (Freitag 15/2003) bekannt geworden, bezeichnenderweise nicht an. Der Politikwissenschaftler erkennt im Mythos ein durchaus probates politisches Mittel, denn er ist in seinen Augen grundsätzlich als politisch neutral einzuordnen.
Den politischen Mythos begreift er als positiven, weil Halt gebenden Bezugspunkt, der insbesondere in Umbruchsituationen von entscheidender Bedeutung sei. In Anlehnung an den Philosophen Hans Blumenberg schreibt Münker dem Mythos eine positiv-emanzipatorische Funktion in Krisen zu: „Mythen versichern dann, dass die zu meisternden Aufgaben bewältigt werden können, weil das damals auch gelungen ist“, schreibt er in der Einleitung.
Dieser denkwürdige Versuch, den Mythos und seine Funktion zu retten, kulminiert in Münklers Feststellung, dass Mythen „das Selbstbewusstsein des politischen Verbandes“ zum Ausdruck brächten.
Von Arminius bis Benedikt
Dieses funktionale Mythenbild führt nun zu der fragwürdigen These, das aktuelle Defizit politischer Mythen sei für den in Deutschland herrschenden Reformpessimismus verantwortlich: „Mangel an politischen Mythen und struktureller Konservatismus gehen offenbar Hand in Hand“ schreibt Münkler.
Ausgerechnet in seinem Fachgebiet erliegt der Berliner Politologe einem folgenschweren Irrtum. Denn nichts weist darauf hin, dass eine mythenfreie Politik zwangsweise zu gesellschaftlicher Reformmüdigkeit führt. Nur weil beide Erscheinungen zeitgleich auftreten, ist die seltsame These noch nicht bewiesen. Andere Anhaltspunkte für diese Kausalität liefert er nicht.
Die Hartz-IV-Reformen wären wohl kaum auf mehr Verständnis oder gar Wohlwollen gestoßen, wenn man sie politisch in eine Reihe deutscher Schicksale eingeordnet hätte. Die ebenso abstrakten wie komplexen Realitäten der (Post-)Moderne lassen sich nicht mehr im traditionell-mythischen Rahmen fassen.
Hier stellt sich nun zwangsläufig die Frage, warum der Berliner Professor so nonchalant über die Folgen hinweggeht, die die politische Legitimation durch Mythen in der jüngeren deutschen Geschichte hervorgerufen hat. Denn von nichts anderem schreibt er auf mehr als 600 Seiten.
Die Deutschen und ihre Mythen ist eine Reise durch Raum und Zeit an die kollektiven deutschen Erinnerungsorte, an die „Lieux de Mémoire“, wie der französische Historiker Pierre Nora diese von ihrer objektiven Geschichte losgelösten Elemente der kollektiven Erinnerung bezeichnete. Vor allem dieser Leistung ist es wohl zu verdanken, dass Münkler für sein Buch im März den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch erhielt. In dieser Funktion ist es auch durchaus lesenswert.
Münkler macht zunächst mit der Beschreibung der wichtigsten historischen Fakten den Blick der Leser auf die prägenden Großereignisse der deutschen Geschichte frei. Anschließend betrachtet er die Reflexion und Verwendung, Deutung und Umdeutung der mythischen Orte, Personen und Ereignisse in einer Unmenge deutscher Gedichten und Sagen.
So macht er den Lesenden nicht nur diesen soziokulturellen Fundus zugänglich, sondern die Mythen auch in ihrer historischen Folge verständlich. Am Ende dieser Umdeutungsketten stehen in den meisten Fällen die Berufungen auf die historischen Mythen insbesondere in den sich herausbildenden deutschen Nationalstaaten seit 1871.
Es ist spannend zu lesen, wie sich die diversen Mythen und Legenden, von Arminius bis Papst Benedikt, ständig verwandeln und neu formen. So wie Münkler historische Fakten mit ihrer kulturellen Verarbeitung verbindet, gelingt es ihm, aufzuzeigen, wie es trotz Aufklärung und deutscher Hochkultur im 17. und 18. Jahrhundert zu den Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten kommen konnte.
Goethes Weimar konnte Hitlers Auschwitz ebenso wenig verhindern wie die zarten Klänge der Loreley das deutsche Gebrüll vom totalen Krieg. Stattdessen versuchten die Nationalsozialisten, sich bruchlos in die lange Reihe deutschen Mythen einzureihen. Anders wäre ein Vernichtungsfeldzug wie das „Unternehmen Barbarossa“ wohl nicht möglich gewesen.
Du bist Deutschland
Die deutschen Legenden und Sagen wurden im Dritten Reich als „Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ missbraucht, und das deutsche Bildungsbürgertum hat untätig dabei zugeschaut.
Münkler schließt sein Buch mit der Feststellung, dass die mythische Erzählung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahezu verschwunden sei. Mit dem Einzug der Moderne hätten die deutschen Mythen einen Großteil ihrer Wirkung verloren. An ihre Stelle seien im positiven Sinne das Grundgesetz und die politisch-gesellschaftliche Emanzipation getreten, im negativen Sinne die über vierzig Jahre andauernde Realität der Teilung des Landes.
Nach der Wiedervereinigung sei es dann nicht mehr zu einer Wiederbelebung der deutschen Mythen gekommen. Diese seien stattdessen von Schlagzeilen wie „Wir sind Papst“ und „Du bist Deutschland“ abgelöst worden.
Herfried Münkler ist ein spannendes Geschichtsbuch gelungen. Vor dem Hintergrund seiner eigenen historischen Analyse ist sein Plädoyer für die Neubelebung der politischen Funktion der Mythen jedoch nicht nachzuvollziehen. Ebenso wenig seine Berufung auf die emanzipatorische Funktion der Mythen und die Notwendigkeit einer „gründungsmythischen Neufundierung der Republik“. Bräuchten wir gerade heute nicht eine von Mythen gründlich befreite Politik?
Die Deutschen und ihre MythenHerfried Münkler, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2009. 606 S., 24,90
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