In einem halb verfallenen Kuhstall hat alles begonnen. Der Gemeinderat des jütländischen Städtchens Holstebro übergab das alte Gehöft zusammen mit einem Stipendium in Höhe eines Hilfsarbeiterjahresgehalts an den jungen, noch kaum bekannten Theatermann aus Italien. Mitte der sechziger Jahre gab es noch keinen Begriff von Kultur als Standortfaktor, wie das heute heißt, und was aus Eugenio Barba einmal werden würde, konnte in Holstebro damals keiner wirklich einschätzen.
Heute rüstet man sich auf dem ehemaligen Bauernhof für die Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum des Odin Teatret, die im Juni dort wahrscheinlich mit allen Ausschweifungen der Mittsommernacht ausgerichtet werden. Im mittlerweile hochmodern ausgebauten Kuhstall hängen in langen Reihen die Theaterplakate aus fünf Jahrzehnten. Das Neueste ist von Peter Bysted entworfen, einem Holstebroer Künstler, der als Architekt einen Teil der Ställe und Schuppen samt Silo zu Probe- und Aufführungsräumen umgebaut hat. Im Bibliothekssaal verabschiedet sich gerade eine japanische Mitarbeiterin auf Zeit mit selbst gemachtem Sushi von ihren Odin-Kollegen, die um einen langen Tisch sitzen und in mindestens fünf verschiedenen Sprachen scherzen. Die Stimmung ist gut, obwohl man eigentlich auch gern bei dem Gastspiel im 100 Kilometer östlich gelegenen Aarhus mit dabei wäre. Dort tritt gerade die Kerntruppe um Eugenio Barba auf, als Auftakt der Feierlichkeiten in der Stadt, die dem Odin Teatret immer eng verbunden war und deren Universität mit der Theaterwissenschaft der wichtigste akademische Partner im Land ist.
Der 77-jährige Barba läuft bei winterlichen Temperaturen barfuß in Sandalen über den Aarhuser Campus, der aus einer Kaserne aus dem 19. Jahrhundert entstanden ist. Das passt zur Geschichte des Odin, benannt nach dem nordischen Kriegsgott, das als Theater sich aber ganz den Hoffnungen nach den großen Kriegen widmete. Als ein erstes internationalistisches Projekt beschäftigte das Odin Teatret sich dabei auch mit den archaischen Formen des Theaters in verschiedenen Kulturen. Barba nennt das die anthropologischen Grundlagen des Theaters und hat darüber mehrere Bücher geschrieben. Dass er immer auch Forscher und Lehrer geblieben ist, hört man bei fast allem, was er sagt. Spricht er Dänisch, klingt seine italienische Herkunft durch in Melodie und Rhythmus. Den deutschen Gast fragt er sofort auf Englisch nach Theaterneuigkeiten aus und erzählt zwischendurch von den Schwierigkeiten, die er mit Helene Weigel hatte, weil die absolut nicht nachvollziehen konnte, warum ein Italiener in Skandinavien Brecht mit dessen Antipoden Antonin Artaud und Jerzy Grotowski zusammendenken und in eigenen Projekten danach spielen wollte. Barbas Kosmos ist in der Tat weit. Was bei anderen fein säuberlich getrennt bleibt, scheint ihm mühelos ineinander zu fließen.
Prä-Erasmus-Europa
1954 kam er nach Oslo, um norwegische Literatur und Religionsgeschichte zu studieren, ein höchst ungewöhnlicher Entschluss im Prä-Erasmus-Europa. Er unterbrach das Studium und reiste das erste Mal nach Indien, zehn Jahre vor den Beatles. Danach zog es ihn durch den Eisernen Vorhang nach Warschau, wo er Theaterregisseur werden wollte, schließlich Jerzy Grotowski traf und an dessen allmählich entstehendem Theaterlaboratorium Assistent wurde. Grotowskis Impuls war, das Theater dadurch zu erneuern, dass man es aus seinem schnell laufenden Repertoirebetrieb herauszieht, mit der Konzentration auf den reinen Schauspieler intensiviert und auch mit Erfahrungen und Techniken aus anderen Theaterkulturen anreichert. Wieder zurück in Oslo gründete Barba 1964 das Odin Teatret, das nach einem Jahr Vorbereitung das Stück Ornitofilene (Die Vogelliebhaber) des norwegischen Schriftstellers Jens Bjørneboe in einem Luftschutzbunker zur Aufführung bringt. Einen eigenen Theaterraum hat diese Odin-Truppe nicht, und der geradezu befremdliche Spielort erregt allein schon deshalb Aufsehen. Barbas erste Inszenierung wird trotzdem ein kleiner Erfolg und in mehrere Städte Skandinaviens eingeladen.
Dass ein Italiener mit norwegischen Schauspielern durch verschiedene Länder zieht, kann als die Geburtsstunde des internationalen Theaters in Europa gelten, denn Theater wurde damals vor allem in nationalen Kategorien gedacht und entsprechend behandelt. Insofern ist Barba ein Pionier dessen, was heute in Deutschland mit ausgefeilt kuratierten Festivals, internationalen Programmen und nicht zuletzt interkulturellem Theater als Praxis schon eine längere Gegenwart hat. Als der Bürgermeister von Holstebro, Kai Nielsen, im Frühjahr 1966 den leer stehenden Bauernhof für die Gründung eines Laboratoriumtheaters an Barba übergibt, findet das Odin Teatret eine Heimstatt. Die Einheimischen wundern sich zwar, dass dort nicht jeden Abend gespielt wird, wenn es doch ein Theater sein soll, aber allmählich akzeptiert man, dass ein Labor kein Kino ist, und schon ein paar Jahre später staunen die Bürger darüber, dass ihr jütländisches Kaff angeblich in der Theaterwelt ein besonderer Ort sei.
Der Weg aus der Stadt zum Odin ist heute von einem Gewerbepark zugebaut. Firmen für Kamine oder Auto-Auspuffe, eine Tankstelle, alles trostlos. Ulrik Skeel, der als junger, langhaariger Schauspieler 1969 auf die Holstebro-Farm kam und in den wichtigsten Produktionen seitdem mitgespielt hat, sieht das ohne großes Entsetzen. Die Stadt sei eben an das Theater herangewachsen. Man könne es ja auch so sehen: Was vor fast 50 Jahren die bewusst gewählte Peripherie Theater-Europas war – und damals das Experiment Odin ermöglichte – gehört in seiner Veränderung eben absolut dazu, Tanke-Shop und Billig-Kamine inklusive. Zur frühen Zeit mit halb abgebrochenen Ställen und einem Schlammweg zum Anwesen will keiner zurück.
Aus Ruinen
The Chronic Life, die 2012 fertiggestellte aktuelle Produktion des Odin, ist in Aarhus an fünf Abenden im Bora-Bora-Kulturzentrum fast ausverkauft. Das Stück entwirft ein pessimistisches Bild von Europa im Jahr 2031, nach einem dritten Bürgerkrieg. In der durch Musik und Gesang verbundenen Collage treten die Witwe eines katalanischen Offiziers, ein ziemlich bekloppter isländischer Rockmusiker und ein dänischer Immobilienspekulant auf, dazu ein blinder Junge, der nach den Verschwundenen der Diktaturen Lateinamerikas sucht. Im Grunde ist das kein Stück, sondern ein szenisches Poem zum Zustand der Welt, den Barba mit seinen engsten Vertrauten auf einem kleinen Laufsteg zwischen Himmel und Hölle inszeniert hat. Das sind Mikroszenen von Wucht und wahnsinniger Folklore, die Leonard Cohens Everybody Knows zum Menetekel Europas werden lassen. Mit einer jungen Teufelsgeigerin, die Barba aus dem vom Erdbeben erschütterten L’Aquila und dem daraus folgenden Zusammenbruch des dortigen Stadtorchesters in sein Allesspieler-Ensemble eingefügt hat. Elena Floris stand vor dem Nichts, jetzt reist sie mit The Chronic Life um die Welt. Es ist eine dieser Geschichten, die ausgesprochen typisch sind für Eugenio Barbas’ Vorstellung dessen, was Theater kann und sein soll.
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