Er macht sein Ding

Theater René Pollesch stellt die Volksbühne selbst in den Fokus seiner dritten Premiere als Intendant. Was lehrt uns dieser Abend?
Ausgabe 46/2021

Der berühmte Theaterbau selbst steht – zunächst als Kulisse – im Fokus: die Frontseite der Berliner Volksbühne, leicht verfremdet mit aus der Fassade herausgerückten Säulen. Aha, Selbstthematisierung – und vielleicht ein Kommentar, wie dem einst meist diskutierten und viel umstrittenen Theater unter der neuen Intendanz von René Pollesch der Start gelungen ist? Das Banner oben zeigt den Stücktitel der vorherigen Premiere: Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer, auch das eine Pollesch-Inszenierung wie diese neueste Produktion mit dem ebenfalls auf Brecht anspielenden Titel Herr Puntila und das Riesending in Mitte. Das Riesending wird zunächst als Theater „zum Angeben“ angesprochen, von den SchauspielerInnen Astrid Meyerfeldt und Franz Beil. Beide sind zurück an diesem Haus. So wie andere, die zu Polleschs Ensemble gefunden haben, standen auch sie bereits während der Ägide von Frank Castorf hier auf der Bühne und haben schon damals mit René Pollesch gearbeitet. Diese Rückkehrbewegung ist charakteristisch für den Neuaufbau des Ensembles, und sie wurde im Prinzip von allen erwartet, als die Intendanz nach dem krachenden Abgang von Chris Dercon vor etwas mehr als zwei Jahren vom Berliner Kultursenator Klaus Lederer neu berufen wurde.

Mit den ersten Inszenierungen kehrte neben der Schauspielerin Kathrin Angerer auch Martin Wuttke zurück, und demnächst wird Sophie Rois noch folgen. Für die jüngste Premiere kamen Inga Busch und Christine Groß dazu: Zwei Partisaninnen Polleschs aus seinen frühen Tagen, als noch längst nicht gewiss war, dass aus diesem Mann, der für jede seiner Inszenierungen ein neues Stück schreibt, einmal einer der wichtigsten Theatermacher unserer Zeit werden würde.

Die Riesenerwartungen für die Volksbühne hat Pollesch erfüllt und zugleich erfolgreich unterlaufen. Er hat sogar ein Wort dafür erfunden, „trotzfrigide“, das auch in seiner neuesten Arbeit verballhornt vorkommt. Will heißen: Ich mache hier mein Ding, und ich werde euch nicht enttäuschen! Zur Konsolidierung gehört in diesem Fall auch, dass die Pollesch-Maschine ständig neue Themen aufgreift oder alte weiterentwickelt wie in einer riesigen Serie, die beim Rückgriff auf Brechts Theaterexperimente anfängt und etwa über Heiner Müller oder Donna Haraway zum immer neuesten Pollesch führt, der stets im Programmzettel die Literaturhinweise zum vertiefenden Selbststudium angibt. Verschleiß war an der Pollesch-Maschine bislang nicht festzustellen, allenfalls ein paar Wiederholungen von Themenkomplexen, die wohl noch nicht genügend bearbeitet schienen. Für die neue Produktion hat sich die Kritik vorschnell auf das Phänomen der „Selbstreferenzialität“ eingeschossen – wobei diese dem Theater ohnehin eigen ist und nur von Pollesch thematisiert wird.

Karl Marx darf nicht fehlen

Im Riesending geht es unter anderem – von einer echten Handlung kann keine Rede sein – um das Lehrstück Brechts, wie es von Heiner Müller in den 1970ern verabschiedet wurde, mit einem Brief an den Lehrstück-Forscher Reiner Steinweg, der in den kurvenreichen Dialogen zitiert wird. Dabei geht es aber nicht um schlaue Theatertheorie, sondern um eines von Polleschs Lieblingsthemen: die Frage, wie Arbeitsteilung im Theater funktioniert, Schauspieler also etwas machen und Regisseure anderes, was nicht immer gut zusammen geht. Im Lehrstück lernen ja eigentlich nur die Spielenden, das war hier nie richtig klar.

Nun ist es zugleich so etwas wie eine Selbstaussage, denn an diesem Thema, wie die Schauspieler gegen die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse im Theater beteiligt werden können, arbeitet die neue Volksbühne. Das Riesending – den Puntila-Bezug kann man getrost vergessen – ist natürlich ein großes Vergnügen. Die SchauspielerInnen treten in Kostümen mit ihren grafisch verstreuten Namen darauf auf (ein schönes Ding von Tabea Braun), die Volksbühnenfassade Nina von Mechows dreht sich auch ein paar Mal zu ihrer kargen Rückseite und der neunköpfige Chor – von Pollesch immer wieder neu in seiner Funktion ausprobiert – gerät hier sogar zur Souffleuse für das Spielerquartett. Am Ende der anderthalb Stunden, die Pollesch-Standardlänge, ist man wie immer gut amüsiert und trotzdem leicht überfordert: Was war das jetzt alles? Ein wortwörtliches Zitat von Karl Marx aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 als Vision gegen die Entfremdung durch Arbeitsteilung? Im Theater?

Was sich über Polleschs Intendanz mal abgesehen von seinen eigenen Inszenierungen sagen lässt: Als Regisseurin passt die einzige Hauptkraft neben ihm, die Performancekünstlerin Florentina Holzinger, auf ihre ganz eigene Weise in die neue Volksbühne. Holzingers Dante-Performance A Divine Comedy wurde zwar bei der Ruhrtriennale uraufgeführt, aber sie funktioniert so richtig erst im Kontext der Volksbühne, zumindest was den Umgang mit Zitaten aus dem Wiener Aktionismus der 1960er-Jahre angeht – als Parallele zu Arbeiten Christoph Schlingensiefs an der Volksbühne. Die Tänzerin Beatrice Cordua hat den für Dante passenden Vornamen und war auch das Zentrum von Holzingers vorhergehenden Arbeit Tanz. Eine sylphidische Träumerei in Stunts – ausgestattet mit der Biografie einer gefeierten John-Neumeier-Solistin, die später das Konzept „Nacktheit als Kostüm“ zum Begriff machte. Auch für Cordua ist es, man sollte es kaum glauben, eine Rückkehr, denn sie arbeitete hier schon mit Johann Kresnik, als Castorfs Volksbühne dessen Tanztheater im Programm hatte. Das Inferno, das die über Jahre vor allem vom Tanzquartier Wien künstlerisch geförderte Holzinger zwei Stunden lang mit zwanzig nackten Performerinnen um diese so beziehungsreich wie geheimnisvoll auftretende Frau bis zu deren Orgasmus-Paradies inszeniert, ist wie bei Dante eine Abfolge einzelner Nummern mit hohem Schauwert aus dem Extrembereich. Baumstämme werden mit größter körperlicher Anstrengung zersägt und zerhackt. Aus der Sphäre der Stunts, um die Holzinger den Tanz erweitert hat, werden meterhohe Absprung- und Treppensturz-Choreografien zu einer riskant die Szene durchpflügenden Bikerin geboten. Als Gegenstück zu diesen mechanisch ausgeführten Totentanzfiguren folgt ein kollektives Bodypainting, bei dem Körper, Farbe und Leinwand beinahe ineinander fließen. Überraschend aufschlussreich darin einige Parallelen zu Julia Ducournaus in Cannes ausgezeichnetem Film Titane (der Freitag 40/2021), der das Thema der weiblichen Sexualität als Auto-Körper-Verbindungsfetisch zeigt. Auch ein Riesending.

Herr Puntila und das Riesending in Mitte Regie: René Pollesch, Berliner Volksbühne

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