Der Investor platzt in eine musiktherapeutische Patientenrunde hinein. Die Abteilung für Demenzkranke ist die letzte Station der psychiatrischen Klinik, die der forsche Bartonek noch vertreiben muss, um in dem Altbau ein Webcam-Erotikcenter im großen Stil einzurichten. Der leitende Arzt wird mit einem Job in einer Schweizer Schönheitsklinik geködert, Schwester Dóra würde für ihre Komplizenschaft mit einer Stellung vor der Anmach-Kamera belohnt. Es ist ein grausames Spiel, das in dem auf demolierte Details versessenen Bühnenbild von Márton Ágh nach mehreren filmreifen Wendungen im kollektiven Selbstmord endet. Aufgewühlt wie seinerzeit nach dem Film Einer flog über das Kuckucksnest verlassen die Zuschauer die Berliner Premiere von Dementia, or the Day of My Great Happiness. Die Inszenierung von Kornél Mundruczó und seinem Proton Theater eröffnete am vergangenen Sonntag das einwöchige Ungarn-Festival „Leaving is not an Option?“ im Hebbel am Ufer. Der 1975 geborene Regisseur gehört zu den ungarischen Theaterkünstlern – international beachteter Filmregisseur ist er außerdem –, auf deren neueste Arbeit mittlerweile Kenner und Fans auch im Ausland warten.
Demenz als Metapher
Sein krasses Demenzstück spricht für sich selbst und kann überall verstanden werden, wo Umbau, Transformation oder TINA-Agenden eine degenerierte Politik der Rücksichtslosigkeit gegen Schwächere bemänteln. Nur einmal erklärt der Arzt, mit einem herausfordernden Augenaufschlag ins Publikum, Demenz sei wie Ungarn – keine Vergangenheit und keine Zukunft. Davon abgesehen macht Kornél Mundruczó kein Statement-Theater. In Interviews ist er äußerst zurückhaltend, was manche ihm freilich schon als allzu große Vorsicht ausgelegt haben. Besser sollen seine Arbeiten mit all ihrer Verstörung in die Tiefe wirken, wie 2012 schon Schande als Adaption des Romans von J.M.Coetzee mit der Analogie Südafrikas nach der Apartheid zu post-sozialistischen Verhältnissen in Ungarn zu verstehen war.
Als Viktor Orbáns Partei Fidesz vor vier Jahren an die Macht gewählt wurde, kündigte sie einen grundlegenden Umbau der ungarischen Gesellschaft an. Mit der systematischen Neubesetzung von leitenden Posten in Medien, Universitäten und kulturellen Institutionen – eben auch den staatlichen und städtischen Theatern – hielt sich die Partei nicht nur ihre Kritiker vom Hals, sondern schuf einen Überbau der ungarischen Gesellschaft ganz aus dem Geiste von Fidesz.
In diesen ersten Jahren nach 2010 sprach man deshalb von einem Kulturkampf, in dem es ja nicht nur um den Zugang zu den Institutionen geht, sondern nachhaltig auch um Geschichtsbilder und Erinnerungspolitik, mit denen der Wert der Gegenwart abgewogen wird.
Schon in dieser Phase spielte die freie Theaterszene in Ungarn aus mehreren Gründen eine besondere Rolle. Truppen wie Árpád Schillings Krétakör und Béla Pintérs Company waren längst für ihre kreative Arbeit international bekannt und repräsentierten praktisch das neue ungarische Theater, was den Vorstellungen einer Partei mit gelenkten Institutionen kaum entsprach. Ein Theatergesetz, das der freien Szene zehn Prozent aller öffentlichen Ausgaben für Theater zugesichert hätte, wurde gekippt. Es folgten Debatten darüber, ob diese freien Gruppen mit ihren gesellschaftskritischen Inszenierungen das ungarische Theater überhaupt repräsentieren können. Aus der Sicht der heutigen Funktionäre ganz sicher nicht.
Als vor einem Jahr in Budapest der Kritikerverband in einem Showcase für internationale Kritiker und Festivalmacher die Arbeit von Pintér, Schilling und Mundruczó, aber auch Inszenierungen der hauptstädtischen Katona- und Örkény-Theater vorstellte, meldete sich prompt der von Orbán favorisierte heutige Intendant des Nationaltheaters, Attila Vidnyánszky, mit einem Protestbrief gegen diese keinesfalls repräsentative Auswahl, die das Bild der Budapester Szene verzerre.
Jetzt, vier Wochen vor den nächsten Parlamentswahlen, für die ein Fidesz-Sieg als sicher vorausgesagt werden kann, redet niemand mehr von Kulturkampf in Ungarn. Die Sache ist entschieden, die Verhältnisse verfestigt, der Umbau erfolgt. Der kollektive Selbstmord am Ende von Demenz lässt sich in diesem Kontext deuten. Der aufgeklärte, aber schon ein wenig zynisch gewordene Arzt ist nicht wie 500.000 seiner Landsleute ins Ausland gegangen, sondern trotz dieses erst recht zynischen Bartoneks da geblieben. Obwohl ihm die Schweiz offengestanden hätte.
Das ist das eigentliche Thema jetzt – Gehen oder Bleiben. „Leaving is not an Option?“, mit dem Titel rückt das Ungarn-Programm am HAU die hier bislang wenig beachtete Massenemigration in die Theateraufmerksamkeit. Eine halbe Million Ungarn haben das Land verlassen, mehr als nach der Niederschlagung des Aufstands von 1956. Dieser Exodus wird Ungarn noch lange beschäftigen und stellt schon jetzt einen starken Einbruch in seiner demografischen Entwicklung dar, der letztlich auch in die Kultur hineinwirkt.
Gehen oder Bleiben
Die freie Szene kann sich dennoch behaupten, wenngleich es sich mit Mundruczó, Pintér und Schilling um die international bekannte Spitze eines Eisbergs handelt, unter der schon fast alles weggeschmolzen ist und kaum etwas nachkommen wird, wie es die Budapester Kritikerin und Schriftstellerin Andrea Tompa in der Festivalzeitung formuliert. Diese Regisseure arbeiten regelmäßig im Ausland, nehmen manchmal sogar Schauspieler aus ihren Truppen mit, und zeigen ihre Produktionen auf Festivals. Sie erhalten Koproduktionsgelder und finanzieren damit ihre Arbeit in Ungarn, das sie nicht verlassen wollen, erläutert bei einem Publikumsgespräch Mundruczó, der ohnehin der Arbeit wegen die Hälfte des Jahres außerhalb der Heimat verbringt.
Von solcher Anerkennung ist der jetzige Intendant des Nationaltheaters weit entfernt. Hier wird auf anderer Ebene gepoltert. Ein Gastspiel in Straßburg sagte Vidnyánszky im vergangenen Jahr ab, als man ihm einen Auftritt an der dortigen Theaterakademie verwehrte, was er in Budapest als ignorante Ausladung des ganzen Theaters darstellte. Dann sagte das Wiener Burgtheater beim Nationaltheater ab, Vidnyánszky im Februar nun diesem als Retourkutsche, angeblich um nicht in den dortigen Budget-Skandal hineinzugeraten. Es ist eigentlich mehr von Absagen als von Kunst oder Dialog die Rede im Moment. Als sich Vidnyánszky im Dezember zu einem öffentlichen Gespräch mit Árpád Schilling in Berlin überreden ließ, um mit ihm über das Verhältnis zur freien Szene in Budapest zu reden, sah man ihm an, wie gern er auch das abgesagt hätte, als er gefragt wurde, warum er als Intendant in einer Kommission sitzt, die über die Subventionen der freien Theater entscheidet.
In den damals noch nicht sichtbaren Spalt in der ungarischen Kultur zurückzublicken, darum geht es in Béla Pintérs Stück Our Secrets über ein Budapester Tanzhaus der achtziger Jahre, das an diesem Wochenende erstmals in Deutschland gezeigt wird. Pintér, dessen Wurzeln in der Folklore und im Laienspiel liegen, hat über die Jahre eine Art kritisches Volkstheater entwickelt. Er bringt es so auf den Punkt: „Früher gab es Geld für die Kultur, jetzt gibt es Arbeitsmaterial.“
Leaving is not an option? Aktuelle künstlerische Positionen aus Ungarn Hebbel am Ufer , Berlin, bis 16. März 2014
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