Manfred Karge hat alles, was ich nicht habe - Talent auf vielen Gebieten, Bühnenpräsenz und treue Fans, volles Haar, breite Schultern, Trinkfestigkeit, die Fähigkeit zu schweigen. Eines hat er nicht - Eltern. Der gebürtige Brandenburger verlor sie früh. Die Mutter im Wochenbett, der Vater, Putzmacher, nahm sieben Jahre später seinen Hut und machte den Sohn zum Vollwaisen. Später, nach kurzem Volontariat bei verschiedenen Provinzzeitungen, schrieb der ehrgeizige Knabe sich an der Berliner Schauspielschule ein und wurde nach dem Diplom gleich von Helene Weigel ans BE engagiert. Dort war es üblich, dass Anfänger zuerst als Regieassistent mit Spielverpflichtung die Methode erlernen, mit der Brechts "Versuche" dialektisch fort-gesetzt, beziehungsweise didaktisch konserviert wurden.
Der Bau der Berliner Mauer 1961 war für Karge ein Glücksfall. Kaum engagiert, musste er für mehrere Brecht-Mimen einspringen, die im Westteil wohnten und partout nicht in die "bessere" Berliner Hälfte ziehen wollten. Es debütierte der 23-Jährige als Ansager im Arturo Ui und als Pawel in der Mutter. 1963 kam dann die erste Regiearbeit im Duett mit Matthias Langhoff, der wie Karge Assistent und Schauspieler am BE war. Gemeinsam erfanden sie am Schiffbauerdamm eine neue, später recht populäre Form des epischen Theaters, die szenisch-lyrischen Brecht-Abende. Dann folgten mit Messingkauf und Brotladen Regiearbeiten für Prosa- und Bühnentexte. 1964 erschien der im Arbeiter- und Bauernstaat noch unbekannte Kulturschaffende als leuchtender Stern am Leinwandhimmel. In dem erstaunlichen DEFA-Film Die Abenteuer des Werner Holt spielt Karge den Hitlerjungen Wolzow so verführerisch-gefährlich wie Marlon Brando einen deutschen Offizier in Die jungen Löwen (1958). Heute würden die alten Genossen den Film sicher verbieten, weil er durch Karges charismatischen Antihelden den jungen Neonazis ein echtes Vorbild liefert. Nach nur zwei Filmen verschwand der DDR-Brando wieder, weil es für ihn keine geeigneten Rollen gab.
Die wunderbaren Jahre am BE endeten für das Zweigespann Karge/Langhoff im dramatischen August 1968 mit einem Eklat. Mit ihrer Bearbeitung von Aischylos´ Sieben gegen Theben wollten die Brecht-Jünger zu deutlich den Einmarsch sowjetischer Panzer in Prag als tragischen Bruderkonflikt kommentieren. Im Stück gibt es keine Gewinner, nur Verlierer, und Theben verschwindet aus der Geschichte. Die Prinzipalin Helene Weigel verlor nach dem Kulturkampf ihre zwei besten Ziehsöhne an die Volksbühne. Das vor sich hindümpelnde einstige Schlachtschiff Erwin Piscators war wieder in Fahrt geraten, seit der Schweizer Brecht-Schüler Benno Besson das Steuer übernommen hatte. 1969 gab Manfred Karge dort seinen furiosen Einstand als Karl Moor in Schillers Räubern und saß zugleich mit Langhoff am Regiepult. Die rotzfreche Inszenierung war eine Ermutigung zur Revolte an die 68-er DDR-Generation, die nach dem Ende des Prager Frühlings in Herbstdepression verfiel. Karge und Langhoff waren jedoch klug genug, die übernervösen Kulturverwalter nicht allzu sehr zu reizen. So setzten sie ihre blendende, aber jederzeit von oben zu beendende Karriere mit der spätbürgerlichen Tragikkomödie Die Wildente von Ibsen fort. Das symbolistische Familiendrama wurde für Karge zum Doppelerfolg, als Hauptakteur in der Rolle des Ekdal und als Frontmann im Dream-Team Karge/Langhoff.
Von da an spielte und inszenierte der märkische Orson Welles pausenlos, um sein schäumendes Talent abzuarbeiten. Auf dem Volksbühnen-Spielplan der Jahre 1972-76 war kaum ein Abend ohne Karge, mal mit mal ohne Langhoff. Ob als Hamlet (plebejisch statt prinzenhaft) und Othello (fremd unter seinesgleichen), oder mit Ostrowskis Wald (nebulös), da Silvas Speckhut (hautnah an Glauber Rochas Film Antonio das Mortes), Christoph Heins unverschämter DDR-Farce Schlötel, oder was soll´s, nie war "Manne Karge" mittelmäßig. Mit der Uraufführung von Müllers feierlich-finsterer Deutschstunde Schlacht/Traktor machte sich das Regieteam endgültig im Westen begehrt und im Osten verehrt.
Das alles ging nicht ohne Verluste ab. In einer Hamlet-Vorstellung stach Karge im Duell Laertes (Berko Acker) fast ein Auge aus; ein Kollege drohte, die Volksbühne in die Luft zu sprengen, weil Langhoff ihn langweilig fand und Karge ihn nicht besetzte. Die abendlichen Kantinen-Exzesse endeten selten ohne Ärger mit dem Nachtpförtner. Weil Karge ihm mit einem Requisiten-Revolver drohte, kam die Polizei und Karge fast ins Zuchthaus. Zu der Zeit kam ich vom Hallenser Stadttheater in die Hauptstadt und wurde Assistent des Brecht-Schülers Lothar Bellag im Ostfernsehen. In jeder freien Minute saß ich in der Volksbühne, um auf meine Freundin aufzupassen, die für Karge/Langhoffs Kostümbildnerin Heidi Brambach arbeitete. Oft schliefen wir im Theater, weil wir zu betrunken waren, um noch nach Pankow zu fahren oder auch zu abgebrannt. In dieser Zeit war die Volksbühne für mich das Paradies und Karge der bockfüßige Gott Pan.
Dann wurde sie zur Hölle, als mein manisches Mädel in den Fahrstuhlschacht sprang und der Hauptakteur meines Studentenfilms Berko Acker tödlich verunglückte. Da schlich ich mich nicht mehr trunken vor Liebe und Bier aus der Volksbühnen-Kantine und ging auch nicht mehr frohen Mutes zur letzten Schlacht. Die fröhlichen Spektakel auf allen Ebenen des Panzerkreuzers kamen mir auf einmal wie Potemkin´sche Dörfer vor, die den Abgang der Besten in den Westen wegen des Rattenfängers Biermann bloß kaschierten.
Karge/Langhoff zogen von 1976 an als Gastarbeiter durch Westeuropa und erhitzen die Gemüter der kühlen Hamburger mit Kleists Prinz von Homburg im Kontext von Brecht/Müllers Fatzer-Fragment. 1979 wurden sie Oberspielleiter in Bochum, das auf Jahre der Nabel der deutschen Theaterwelt wurde. Dort spielte Karge den Dichter Georg Heym in einem Stück von Thomas Brasch, während ich als DEFA-Szenarist vergeblich versuchte, Heym ins Reich des Films zu befördern. In die Volksbühne ging ich dann wieder, weil Heiner Müller als Hausautor Regie führte. Doch seine stärksten Stücke kamen in Bochum durch Karge/Langhoff raus. Wir lasen daheim über Verkommenes Ufer und Anatomie Titus im Spiegel und hofften auf bessere Zeiten oder das Hinscheiden der West-Omi. Ich hatte keine und wenn, wäre ich nicht in den Ruhrpott gefahren, wo es aussieht wie in Leuna Buna, meiner verkommenen, uferlosen Heimat. Während ich ein rockiges Stück für die Volksbühne in den Sand setzte, debütierte Karge in Bochum als Dramatiker mit Jacke wie Hose, das er für die Schauspielerin Lore Brunner schrieb. Sie wurde seine große Liebe und liebste Interpretin. Weitere Inszenierungen eigener Stücke folgten: Claire, ein Musical (1985), Die Eroberung des Südpols (1986), Lieber Nimbsch (1989), Mauerstücke (1990). Dazwischen lag die Trennung von Matthias Langhoff, der fortan solo Theater in Genf und Paris machte.
Karge blieb zwei Jahre am Kölner Schauspielhaus, wo er sich zum wiederholten Mal an Brechts problematischer Mutter versuchte. Das Revolutionsstück sollte ihn noch bis ans BE zurückverfolgen. Doch noch sind wir in den furchtbar produktiven und vermutlich glücklichen Jahren mit Lore Brunner, 1986-93 abwechselnd als Autor, Regisseur und Schauspieler an der Wiener Burg mit Gastrollen von Bremen bis Weimar, Frankreich bis Finnland. Seine Eroberung des Südpols wird auf drei Kontinenten nachgespielt und 1990 in Edinburgh als Spielfilm präsentiert. Ich sah den Film dort in einem Kino voller Punks und erzählte ihnen nicht ohne Stolz, dass der Autor wie ich ein Berliner sei. Zu dieser Zeit war "Going East" die angesagte Parole.
Nach dem Mauerfall eroberte sich Karge mit einer eigenen Südpol-Inszenierung am Deutschen Theater das heimische Publikum zurück. Der ehemalige Pankower zog in die neue, alte Mitte von Berlin. An die Volksbühne kam er nicht zurück. Obwohl dort einer regierte, der durch Karge/Langhoffs Räuber den entscheidenden Antrieb für sein "Theater der Grausamkeit" erhielt. Frank Castorf ist, wenn ich Theatermuffel das richtig sehe, der erste und vielleicht beste Schüler Karges. Allerdings hat er den lieblosen Umgang mit Autoren und Schauspielern nicht von "olle Manfred" abgeguckt. Der ist seit 1993 Professor am Regie-Institut und, wie man hört, bei seinen Studenten und Studentinnen beliebt. Durchsetzungsstarke Talente wie Ostermeier, Kühnel/Schuster, Hutinet, Meierjohann entsprangen Karges Kaderschmiede am BAT. Letzte Woche verabschiedeten sie den kühlen Meister mit heißen Worten und Frozen Margeritas in den Ruhestand.
Ans BE kehrte der gelernte Brecht-Aktivist 1999 auf Drängen seines Freundes Claus Peymann zurück. Hier schwimmt der Spätheimkehrer seither etwas lustlos wie ein Haifisch ohne Zähne, aber niemals gesichtslos oder unsichtbar, im grellbunten Spielplan der Wiener Sezession. Brechts Lied von der belebenden Wirkung des Geldes summen zwar jetzt die Erben des Kapitals statt Honeckers Habenichtse am Stehbuffet, doch Karge liest ihnen mit sanfter Stimme und leisem Vergnügen die marxistisch-leninistischen Leviten des Herrn K. Derzeit probt er den Mauler aus Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe, jenem zu Herzen und über den Verstand gehenden Stück für Vegetarier und Antiamerikaner.
Ansonsten geht der vorzeitig ergraute und nach dem frühen Tod seiner Lebensgefährtin noch stillere Mann täglich durch die lärmende Berliner Mitte. Oft treffe ich ihn im Lokal Fröhlich oder auf der Neuen Schönhauser Allee, die nach der Grundsanierung so trist wirkt wie zuvor. Nie sprechen wir uns an, weil wir uns nichts zu sagen haben. Was damals in der Volksbühne möglich und unvermeidlich war, wollen wir beide nicht diskutieren. Ich kann es nicht vergessen, wenn ich Karge in seinem "famous black Raincoat" wie Peter Schlehmils Schatten durch das Judenviertel streifen sehe. Ich würde ihm gern sagen, dass ich ihn als großen Theatermann bewundere. Was ich hiermit tue. Freitag grüßt Robinson zum 65.Geburtstag!
1978 schrieb ich den Film Aviatiker. Karge sollte darin den Johannisthaler Flugpionier Ellery von Gorrissen spielen. Das Projekt war nicht zu realisieren. Auf der letzten Seite des Drehbuchs steht: Von Gorrisen verlässt die Tribüne und löst sich in Luft auf. Lautlos, unmerklich und unaufhaltsam, wie der Vorgang eines gewöhnlichen Augenzuckens. Für Karge ist es noch zu früh, von der Bühne abzutreten. Die Feier im BE letzten Samstag hatte jedoch etwas von Abschied. Der Mann war derselbe wie vor 42 Jahren, als er hier anfing, und nicht derselbe. Die Verhältnisse im Theater sind immer gleich, mehr oder weniger schlecht.
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