In der Erzählung von Natalia Ginzburg Borghesia - Das Lied vom Bürgertum bekommt eine Frau namens Ilaria Boschivo eines Tages eine Katze geschenkt. Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die zur Obsession wird. Wie ihren Verwandten gibt die Frau den sich stetig vermehrenden Vierbeinern Kosenamen: Pelzchen, Napoleon, Ninna-Nanna. In ihren Lieblingen findet sie dieselbe maßlose Gier und beziehungslose Unverbindlichkeit, die ihre römische Familie zu menschlichen Bestien macht. Aber die vierbeinigen Monster sind ihr zehnmal lieber als die zweibeinigen. Denn Katzen sind Wesen voller Anmut und Würde, stolz und geheimnisvoll.
An Ilaria musste ich denken, als ich im Sommer 1995 mit einem Fernsehteam die Welt der Angelika Schrobsdorff betrat. Ein Haufen Straßenkatzen lungerte vor dem Haus im Jerusalemer Stadtviertel Abu Tor herum und wartete darauf, gefüttert zu werden. Jede von ihnen wurde mir vor-gestellt: Olga, Puschkin, Bella, Molly, Zillekind, Jelzin ... "Nicht gerade semitische Namen", wunderte ich mich, aber Schrobsdorff klingt auch nicht sehr jüdisch. "Ich bin zur Hälfte jüdisch und preußisch, meine Katzen zur Gänze arabisch-jüdischer Mischmasch", entgegnete die gebürtige Berlinerin und mischte kleine weiße Pillen unters Katzenfutter, damit Bella und Molly nicht schon wieder schwanger werden. Ein Großteil ihrer Buchtantiemen verfütterte die Schriftstellerin an die gefräßige Meute und musste deshalb alle zwei, drei Jahre einen neuen Roman schreiben. Ich hatte kein einziges ihrer Bücher gelesen und bis kurz vor meiner Reise nach Israel nie von ihr gehört. Die beste Vorraussetzung für ein Interview.
Während des Frage-Antwortspiels auf der Terrasse mit Blick übers Kidron-Tal in die Judäische Wüste, schlich sich Dino, Frauchens Lieblingskater ins Bild und kam somit ins deutsche Fernsehen. Inzwischen sind viele Jahre vergangen, Ich habe alle 13 Bücher der Autorin gelesen und sie öfters in Israel besucht. Dino ruht längst in der Heiligen Erde Jerusalems. Puschkin, damals ein Kater ohne Allüren, ist heute der Herr im Haus und wohnt mit Vickie, der wilden Schönheit, in Wilmersdorf, wo Angelika S. die Jahre der Kindheit verbrachte. 1939 floh die Tochter eines Berliner Bauunternehmers und einer jüdischen Mutter vor den Nazis nach Bulgarien. Nach dem Krieg lebte sie in München, schrieb dort ihren ersten Roman Die Herren (1961), der in Bayern verboten wurde, im Stern abgedruckt und verfilmt zum Bestseller avancierte.
Es folgten die nicht minder skandalösen Werke Der Geliebte (1964), Spuren Diese Männer (1966) und brachten der bild-schönen Berlinerin den Ruf einer Francois Sagan Schwabings ein. 1970 hatte sie genug von der Münchner Bussi-Bussi-Gesellschaft und zog nach Jerusalem. Dort heiratete sie den Filmemacher Claude Lanzmann und zog, weil er nicht in Israel wohnen wollte, zu ihm nach Paris. Elf Jahre durchlebte sie die "Endlösung der Judenfrage", der sie entkommen war, während ihr Mann an seinem Filmepos Shoah arbeitete. Elf Jahre war sie geduldetes Mitglied im illustren Kreis von Sartre und Beauvoir und litt unter dem intellektuellen Regime der Mandarine von Paris. Die Philosophin des Anderen Geschlechts´ schrieb das Vorwort zu Schrobsdorffs beißender Ost-West-Satire Die Reise nach Sofia (1983), die erst in Deutschland erschien, nachdem sie in Frankreich ein Erfolg wurde. Da lebte die heimatlose Dichterin bereits wieder in Jerusalem, wo sie hoffte, endlich sesshaft zu werden.
Wie ihr 1945 im Elsass als französischer Soldat gefallener Bruder Peter glaubte die Jüdin, im Gelobten Land das verlorene Glück, dass ihr von den Nazis genommen wurde, wiederzufinden. Bis zur ersten Intifada schien Jerusalem die schönste Stadt der Welt, dann erlebte Angelika S. die hässliche Seite Israels und wurde eine erklärte Palästinenser-Freundin. In Jerusalem war immer eine schwere Adresse (1991) legte sie auf höchst persönliche Weise Zeugnis ab vom Wahnsinn eines Landes, das zwei semitischen Völkern gehört und mit sich im Unfrieden von Religion und Politik lebt. Wie alle ihre Bücher wurde auch dieses nicht ins Hebräische übersetzt, doch in Deutschland erreicht die Autorin mittlerweile ein Millionenpublikum. Die meisten Auflagen erzielte Du bist nicht wie andere Müt-ter (1992), von Egon Günther lieblos verfilmt. Die vielseitige Liebeserklärung an die eigene Mutter ist ein großes Buch, weil es unterhaltsam und schwierig zugleich ist und das Inge-Meysel-Gefühl der Deutschen als post-faschistischen Seelenquark krankhafter Autoritätshörigkeit entlarvt.
Sentimentalität war nie Schrobsdorffs Stärke. Eitle Selbstbespiegelung und Indiskretion ebenso wenig. Mit brutaler Offenheit und beißendem Humor schreibt sie über sich und andere, wie es nur tief melancholische Menschen vermögen, die keine Illusionen über die Welt haben und deshalb nicht enttäuscht werden können. Kein Wunder, dass Autoren wie Gregor von Rezzori, Johannes Mario Simmel, Uri Avnery, Gad Granach zu ihren treuesten Freunden gehör(t)en. Diejenigen, die sie in Israel zurückließ, hofften, dass die Herrin des Katzenhauses auf der Grenze zwischen Ost- und Westjerusalem in Berlin nicht froh wird. Die Hoffnung erfüllte sich prompt. Zwei Tage nach dem Umzug lief Nachtsche, der zweite Kater, auf Nimmerwiedersehen fort.
Dass die neue Wohnung in der Nähe des Johannaplatzes lag, wo sie die glücklichste Zeit ihrer Kindheit erlebte, trug auch nicht zur Erheiterung der Entwurzelten bei, deren Mädchenname sich aus dem bitteren Dolgengewächs Engelwurz ableitet. "Ich bin nicht zurückgekehrt, um ein neues Leben anzufangen, sondern ein altes zu beenden", erklärte sie den Behörden, als man ihr als Jüdin eine Opferrente anbot. Die Berliner Freunde drängten die Autorin, ein Buch über ihre Rückkehr zu schreiben. Damit ihre phänomenale Beobachtungsgabe und ihr todsicherer Witz, der anders als bei Kishon, nicht aus geschwätziger Gefallsucht, vielmehr aus der Tiefe der Verzweiflung kommt, zum literarischen Allgemeingut werden. Mittlerweile scharen sich die Berliner Kulturpflanzen um die wilde "Rose vom Jordantal", so der Name ihres Lieblingslokals in Jericho.
Der ältesten Stadt der Welt widmete Schrobsdorff eine federleichte Novelle über die Vergeblichkeit der Liebe in Zeiten des Krieges. In der kaputtesten Stadt Europas hat sich die Außenseiterin zwischen allen Stühlen politischer Korrektheit derweil eingerichtet. Sie meidet das von reichen Russen dominierte jüdische Leben, geht lieber zu den Lemuren in den Tierpark als in die Synagoge, liest oft vor Publikum und hat, wie in Jerusalem, das Haus ständig voller Leute. Zu ihrem 80. Geburtstag im letzten Dezember kamen Hunderte junge und alte Leser in die Bulgarische Botschaft und lauschten andächtig den Auszügen aus Grandhotel Bulgaria (1997), in dem die Schrobsdorff ihre tiefe Dankbarkeit den Bauern des Dorfes Buchowo ausdrückt, die das blonde deutsche Mädel vor den braunen Häschern beschützten und neun Jahre lang durchfütterten. Der märchenhafte Maghrebiner Gregor von Rezzori schrieb zu diesem subjektiven Reisebericht: "höchst lebendig und anschaulich - dank ihrer damenhaften Launigkeit auch amüsant".
Auf ein Buch über die vereinte Hauptstadt der Deutschen werden wir Rucksack-Berliner wohl vergeblich warten. Jeder Schrobsdorff-Anhänger hat ja schon sein Fett wegbekommen. In Wenn ich dich je vergesse, oh Jerusalem (2002), ein Ex-Geliebter mit den schmeichelhaften Worten: "... keine Spur von Kraft, Entschlossenheit oder gar Humor. Dafür waren seine Unterarme, auf die ich bei einem Mann großen Wert lege, so reizvoll, wie die der David-Skulptur von Michelangelo". Ihren eigenen Reizen gegenüber, die mit den Jahren aus der Zeit zu fallen scheinen, verhält sich die "femme de lettre" apodiktisch wie die Prinzessin auf der Erbse. Die Malaise zunehmender Entfremdung von allem Gegenwärtigen, weil man das Ende kommen sieht, sucht die Seniorin durch Beschäftigung mit Krankheiten zu kurieren, die sie nicht hat und womöglich nie bekommt.
Das freut die literaturinteressierten Ärzte im Westend, die ihre Bücher analysieren, um die prominente Privatpatientin nicht zu verlieren. In einer TV-Talkshow brüskierte die Autorin unlängst die von ihr hingerissenen reifen Herren Edzard Reuter und Dietmar Schönherr, indem sie das Alter eine ekelhafte Zumutung nannte und für aktive Sterbehilfe plädierte. In einer Gesellschaft, wo alte Menschen als kommerziell interessante Zielgruppe mit Fitness, Butterfahrt und Seniorenpartei umworben werden, in Alterheimen nicht selten entmündigt, ausgeraubt und gequält, erhebt Angelika Schrobsdorff ihre Stimme für das Recht auf den Tod nach eigenem Fahrplan. Das Leben ist ein endloser Fluss, in dem man nicht zweimal baden kann. Aber Wasser hat ein Gedächtnis und vergisst nichts, auch wenn man es mit Whiskey mischt. Deshalb taucht die Autorin zwischen den Anlässen, sie zu Lebzeiten zu feiern, beziehungsweise sich mit ihr zu zeigen, am liebsten unter im Packeis ihrer Erinnerungen und versucht, den Rest ihrer Tage schweigend von sich reden zu machen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.