Der wahrscheinlich kürzeste jüdische Witz lautet: Izrak fährt der Zug vor der Nase weg. "Alles Antisemitismus!", murmelt er bitter. Obwohl unklar ist, wo und wann Izrak den Zug verpasste, denkt ein Deutscher sofort an die Reichsbahn und die Zeit, als alle Räder noch pünktlich für den Sieg rollten. Ein Israeli denkt an Eichmann und Auschwitz, als es für Juden unmöglich war, den Zug zu verpassen. Man kann darüber lachen oder heulen, die Pawlowschen Reflexe der deutsch-jüdischen Beziehung funktionieren unbewusst. Wer darüber öffentlich redet, hat die Pflicht, mit einem Quantum an Sinn und Verstand sachlich und moderat zu argumentieren. Die demokratischen Tugenden scheinen verloren zu gehen im Quotenkrieg des Quasselfernsehens, wo es nur noch auf Selbstdarstellung und starre Meinungen an- kommt statt auf Dialog und Analyse.
Michel Friedmans inquisitorische Verhöre mögen amüsant sein für Polit-Masochisten, provokant und denkanstößig sind sie kaum. Jürgen Möllemanns verbale Sturzflüge waren spannend, solange er es wagte, ohne Fallschirm in die seichte Westerwelle zu springen. Nun ist er übers 18-Prozent-Ziel hinausgesprungen und im patriotischen Dichtergarten des Martin Walser gelandet. Nach seiner verkorksten Rede wider den Holocaust-Ablass zog sich der ewig Unverstandene in seinen Elfenbeinturm am Bodensee zurück und tüftelte an einer Denkschrift über den Ewigen Juden Ahasver. Herauskam ein dünnes Wortwerk aus Krimi und Alt-Männer-Witz, dessen Opfer überdeutliche Ähnlichkeiten mit Walsers Lieblingsfeind Reich-Ranicki aufweisen soll. Vorab-Kostproben aus der Tod eines Kritikers lassen befürchten, dass wir den Tod eines Autors betrauern müssen. Angesichts steigender Geburtenraten von schlechter Literatur wäre das nicht weiter tragisch, würde in der hitzigen Debatte um den Antisemitismus nicht jede schreibbegabte Stimme zählen.
Die jungen Talente der Generation Golf brettern lieber über ein Theater, dem die Welt nichts mehr bedeutet. Die alten Meister der wilden 68er Jahre beten brav oder brachial ihre rechte Späterkenntnis herunter. Die TV-Kommentatoren erfüllen nicht mehr ihre Pflicht, die Ereignisse kritisch zu kommentieren, sondern üben sich in der Kunst des inneren Vorbehalts. Es ist mehr als billig, die partiellen Gedächtnislücken mit dem Amalgan deutscher Wesensart zu stopfen. Wir sind die Sitzenbleiber der Geschichte und unsere faustischen Tugenden der Ausdruck einer verklärten, chronisch unglücklichen Welterfahrung. Doch die unverbesserlichen Deutschen - zwischen Weimar und Buchenwald hin- und hergerissen - sind am Ende noch zivilisierte Europäer geworden. Die erste grüne Partei war deutsche Realität, lange bevor man in Kalifornien Ökologie als Wirtschaftsfaktor entdeckte. Der Kalte Krieg wurde in Deutschland beendet. Auch wenn die Ehe zwischen Ost und West nicht reibungslos verläuft, liegen wir nicht in Blutsfehde um Immobilien, Wasserrechte und Glaubenssätze.
Weil die Deutschen aus guten Gründen Israel und Palästina zugleich unterstützen ...
... werfen manche Juden ihnen vor, eine neue Form des Antisemitismus zu praktizieren. Ein Kellner am See Genezareth sagte mir vor Jahren, als deutsche Pilger wegen der Attentate wegblieben, damit würden sie Israel bewusst schaden. Ich fragte den Mann, ob ich für ihn auch ein Nazi sei. Er sah mich verwundert an und meinte, ich sei viel zu jung, um mir darauf etwas einzubilden.
Einmal sah ich zwei alte "Jecken" (deutsche Juden) auf der Dizengoff-Straße in Tel Aviv, die lauthals um die Vorfahrt stritten. Einer brüllte: "Du Nazi!", der Andere: "Scher´ Dich nach Auschwitz, Du blöder Jude!". Was beweist dieser Vorfall? Wenn zwei Juden sich als Nazi beschimpfen, ist das die Verabredung zur größtmöglichen Beleidigung und eher komisch als tragisch. Bezeichnet ein Jude einen Deutschen als Antisemiten, hat er meist gute Gründe und der Deutsche gibt klein bei, wenn er klug ist. Zu Recht, wie die Geschichte lehrt.
Denn wir Germanen sind die ältesten Antisemiten Europas. Mitte des vierten Jahrhunderts kamen die ersten christlichen Missionare aus Rom und erklärten den fränkischen Heiden, sie seien das auserwählte Volk Gottes. Hundert Jahre später trafen die ersten Juden in Mitteleuropa ein und behaupteten, sie seien das auserwählte Volk. Die gottesfürchtigen Ordensritter zwangen die orientalischen Händler, von unchristlichen Zinsgeschäften zu leben oder zu verhungern.
Mit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus wurde das fortschrittliche Judentum zum liebsten Unterdrücker der deutschen Arbeiterklasse. Die Anführer der Novemberrevolution wie der Münchner Republik waren linke jüdische Intellektuelle, die rechten Nationalsozialisten ihre antikapitalistische Bewegung streitig machten.
Seit dem Toleranz-Edikt des Großen Kurfürsten von 1671 waren die Deutschen weniger aktiv-antisemitisch als ihre Nachbarn. Sie holten es in nur zwölf Jahren nach und wurden Klassenbester, indem sie das Problem zu Ende dachten und auf industrielle Weise lösten. Die Folgen sind bekannt und haben die Welt verändert. Zynisch gesehen ist die Gründung des Staates Israel eine der größten Leistungen des deutschen Volkes. Dass ein Deutscher trotzdem nicht sagen kann, die israelische Armee verhielt sich in Djenin wie die Wehrmacht in Lublin, liegt auf der Hand.
In Israel provoziert Sharon mit seiner gnadenlosen Besatzungspolitik derartige Vergleiche. Der Historiker Moshe Zimmermann verglich die Kinder der jüdischen Siedler im Westjordanland mit der Hitlerjugend, weil sie zum Hass gegen die Araber erzogen würden. Für alte und neue Nazis ist der offene israelische Konflikt zwischen Falken und Tauben Wasser auf ihre antisemitischen Gebetsmühlen. Die 68er Studentenbewegung war antifaschistisch und antiisraelisch zugleich, in den Augen der Linken war Israel ein Satellit des US-Imperialismus.
So war die Vätergeneration wenigstens in einem Punkt mit den Söhnen eins ...
... mein Vater, der ein guter Nazi war und seinen Divisionsgeneral Rommel bis heute verehrt, lobte Mosche Dayan für seine Blitzkriegstrategie im Sinai 1967. Trotzdem glaubt er noch immer, dass in den Konzentrationslagern nur Verbrecher, Homosexuelle und Kommunisten saßen. Den Wunsch nach Erlösung von der bisweilen ungerechten, aber pädagogisch notwendigen Auschwitz-Prügel, hält er für ein Problem von Intellektuellen. Ich bin ein guter Sohn und liebe meinen Vater. Seine späte Abneigung gegen Volkssportfeste und Militärparaden hat mich früh immun gemacht gegen die Zurschaustellung des DDR-Antifaschismus. Offenen Antisemitismus gab es nicht in der DDR, weil er verboten war. Manche meiner Schulfreunde waren bekennende Juden und nahmen mich zu Pessach mit in die Synagoge. Dort traf ich SED-Mitglieder, die in der Zeitung Neues Deutschland Israel als Unterdrücker der befreundeten Palästinenser entlarvten.
Den Vorwurf des Antisemitismus musste ich mir gefallen lassen ...
... als ich postsowjetische Erziehungsmethoden (der Einzelne ist nichts - das Kollektiv alles) im Jüdischen Gymnasium meiner Tochter kritisierte. Doch Dasselbe ist nicht Dasselbe zur selben Zeit am anderen Ort. Israel ist eine Demokratie ohne Beispiel, wo jeder sagen darf, was er denkt. Deutschland ist eine Demokratie nach amerikanischem Vorbild, wo jede Form von Rassismus grundgesetzlich untersagt ist. So muss sich jede deutsche Kritik an Israel des Unterschiedes beider Länder bewusst sein und die unbezahlbare Schuld der deutschen Vergangenheit in Rechnung stellen.
Seit seiner Gründung kämpft der Staat aller Juden mit dem Anachronismus, ein säkulares Gemeinwesen mit mittelalterlichen Religionsriten zu vermählen. Die Orthodoxen verweigern dem Land den Militärdienst, zahlen keine Steuern und beten, dass die von Theodor Herzl konstruierte jüdische Arche bald versinken möge, damit das wirkliche Erez Israel auferstehen könne. Der irdische Konflikt mit den arabischen Nachbarn ist mit gutem Willen lösbar, das Problem mit den paramilitärischen Siedlern und omnipotenten Orthodoxen beim besten Willen nicht. Kein Wunder, wenn die Nerven blank liegen und Kritik aus Deutschland das Letzte ist, was Israelis nötig haben. Es kommt nicht darauf an, ob einem Sharon sympathisch ist. Bush junior geht uns Deutschen auch nicht zu Herzen mit seinem texanischen Redneck-Charme. Sind wir deshalb Anti-Amerikaner, wie Henryk M. Broder uns weismachen will? Das Problem der unsäglichen Antisemitismus-Debatte ist vor allem, dass sie auf unsäglichem Niveau geführt wird.
Heiner Müller, dessen illusionslose, stets hellsichtige Meinung man gerade jetzt schmerzlich vermisst ...
... zog eine vernünftige Diktatur, in der alle mehr oder weniger arm sind, einer maßlos dummen, geldstrotzenden Demokratie vor. In ihr bekam er Schreibhemmungen und unhaltbaren Redefluss. Bei einem Gespräch mit jungen französischen Juden über Auschwitz sagte er mit wenigen Sätzen mehr, als alle Autoren, die jetzt ihr Für und Wider zum akuten deutschen Antisemitismus formulieren. Zwei Beispiele: "Der Nationalsozialismus war die größte historische Leistung der deutschen Arbeiterklasse." - "Das westdeutsche Wirtschaftswunder ist das Ergebnis von Auschwitz. Alle großen deutschen Konzerne haben in Auschwitz und anderen Lagern arbeiten lassen, in Allianz mit der amerikanischen und britischen Industrie." Das Meiste, was wir jetzt zum Thema hören, ist dagegen nur Weißes Rauschen denkfauler, schreibfleißiger Musterschüler oder geistig labiler TV-Sprecher, die auf Rotlicht lossabbern wie Pawlowsche Hunde.
Politikern, die keine Vision für das Unmögliche von morgen haben, aber immer die richtige Lösung für Probleme von gestern, kommt der Antisemitismus-Streit sehr gelegen. Da kann und soll ruhig jeder seine Stimme erheben, der von den Medien dazu auserkoren ist: Iris Berben, Udo Lindenberg, der sächsisch menschelnde Wolfgang Stumpf, die üblichen Unverdächtigen. Effenberg nicht, er redet, ohne zu denken. Peter Scholl-Latour auch nicht mehr, er denkt schneller, als Kerstin Müller redet und lässt sie kaum zu Wort kommen. Auf eine kurze Frage antwortet die Fraktionssprecherin der Grünen immer mit dem ganzen Parteiprogramm und sagt niemals ICH, nur WIR. Was uns Ostlern ein echtes Heimatgefühl im egoistischen Westen gibt.
Kerstin Müller hat wohl nie Heiner Müller gelesen. Sonst verstünde sie, dass Auschwitz kein deutscher Unfall war, sondern der Testfall für den künftigen Terror der Ökonomie und dass sich keine erkennbare Alternative im Osten und im Westen zeigt als die "Selektion" der Habenichtse durch Hunger und Krieg. Und sie wüsste, dass niemand aufhört, Antisemit zu sein, weil Joschka Fischer außen Minister ist und Otto Schily innen. Aber vielleicht sieht sie sich Costa-Gavras neuen Film Der Stellvertreter an und erfährt, dass ein deutscher SS-Mann schon 1941 die Alliierten über die Judenvergasung informierte, aber nur ein Jesuit im Vatikan etwas dagegen unternahm. Der Film kommt 20 Jahre zu spät und doch zur rechten Zeit. Er zeigt, dass es keine Kollektivschuld gibt, nur persönliche Verantwortung. Und dass Antisemitismus, Rassismus, Dogmatismus nicht durch politischen Willen oder Gewalt aus der Welt zu schaffen sind. Vielleicht durch die Bergpredigt, aber dann müssen alle satt zu essen haben. Wenigstens einen Becher Früchtejoghurt täglich und zwei Sorten zur Auswahl oder drei...
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