Als ich Albert Maysles 1991 in New York kennenlernte, war er eine lebende Legende. Mit seinem 1987 verstorbenen Bruder David hatte er über 30 Dokumentarfilme gedreht, die zu den bedeutendsten des amerikanischen Kinos zählen. Salesmen (1968) war lange Zeit das einzige dokumentare Werk, das als „kulturell, historisch und ästhetisch signifikant“ in der Library of Congress in Washington aufbewahrt wurde.
1926 nahe Boston geboren als Sohn eines ukrainischen Vaters und einer polnischen Mutter, studierte Albert Psychologie und reiste als junger Mann mit dem Motorrad durch das Land seiner Vorväter, um mit einer Bolex-Kamera heimlich die Situation der psychiatrischen Kliniken in der Sowjetunion zu dokumentieren. Danach wurde er Kameramann und gründete mit dem jüngeren Bruder eine Produktionsfirma. 1950 baute Albert, der sich vorerst aus der Regie raushielt, eine französische 16-Millimeter- Aaton-Handkamera so um, dass er damit lange Einstellungen ohne Schnitt und zusätzliches Licht schultern konnte. Jean-Luc Godard drehte vorzugsweise mit dieser Kamera und nannte Maysles „den besten Kameramann der Welt“. Das Lob verdiente der Mitbegründer der revolutionären Direct Cinema-Bewegung (neben Richard Leacock und D. A. Pennebaker), obwohl Albert nie Aufheben um sich machte, sich eher als Geschichtenerzähler sah denn als Cineast.
In der Tat faszinierte er durch die Gabe, aus allem Erlebten spannende Geschichten zu destillieren. Oft saß ich beim Albert auf der Couch in seiner Wohnung im seit Polanskis Rosemary’s Baby und der Ermordung John Lennons ziemlich unheimlichen Dakota House am Central Park und lauschte neuen Erlebnissen in irgendeinem Zugabteil. Albert liebte es, mit der Bahn durch fremde Länder zu fahren und Reisende nach ihrem Leben zu fragen.
Der Mord von Altamont
Über die Jahre sammelte er so zahllose Geschichten, um sie einmal in einem Film zu erzählen, der nie endet und nirgendwo ankommt. Ein unmöglicher Film, den er vergeblich versuchte zu finanzieren; einmal erhielt er eine Zusage von Arte, bekam das Geld jedoch nie. Herausforderungen, an denen man scheitern kann, waren Maysles Thema. Ohne Auftrag und Geld drehten die Brüder kurze Reportagen über berühmte Freunde – ein Porträt des jungen Marlon Brando, ein Finanzierungstreffen des alten Orson Welles in Spanien, auf dem er reichen Leuten sein Traumprojekt über Stierkämpfer so überzeugend vorspielte, dass man den Film zu sehen glaubte, der natürlich nie zustande kam.
Den ersten großen Hit landeten die Maysles-Brüder 1964 mit What‘s Happening! The Beatles In The USA. Es folgte 1969 Gimme Shelter, der Report über das Gegen-Woodstock der Rolling Stones auf dem Altamont Speedway in Kalifornien. Mit der nervös tanzenden Kamera fing der Film nicht nur die überheizte Atmosphäre des Konzertes, sondern auch den Mord an dem 18-jährigen Meredith Hunter vor laufender Kamera ein; später sehen sich die Stones die Szene am Schneidetisch an und sind alles andere als satisfied. Obwohl der Film den Beweis lieferte, das ein Hells Angel den unbewaffneten Schwarzen erstochen hatte, wurde der Täter freigesprochen.
Ihren wohl schrägsten Film drehten die Brüder mit Grey Gardens (1975) in einem Haus in den West-Hamptons, in dem die exzentrische Edith Ewing Bouvier Beale mit ihrer gleichnamigen Tochter wohnte – Tante und Cousine von Jackie Kennedy Onassis, völlig verarmt und nicht mehr ganz bei Trost. Die Maysles porträtierten die Frauen kommentarlos, ohne sie lächerlich zu machen, und schafften wie in Salesmen ein Dokument der Einsamkeit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Über Grey Gardens wurden Doktorarbeiten geschrieben, trotzdem blieb der Film lange verschollen; er ist erst seit 2010 auf DVD zugänglich.
Weltweite Beachtung fanden die Filme über Christos spektakuläre Installationen, zuletzt The Gates von 2007, für die die Maysles-Brüder 1974 eine Oscar-Nominierung erhielten; die Verhüllung des Berliner Reichstages konnte wegen Rechteproblemen nicht von Albert realisiert werden. Zum Werk der Maysles, an dem die langjährigen Begleiterinnen Charlotte Zwerin und Susan Froemke mitwirkten, gehören ferner Porträts berühmter Musiker wie Jimi Hendrix, Jesse Norman, Vladimir Horowitz, Seiji Ozawa sowie eine Reihe von Biografien bedeutender Filmregisseure aus Hollywood für den Fernsehsender CBS.
Albert drehte bis ins hohe Alter weiter mit seinen kleinen Digitalkameras. Zwei Wochen nach den 11. September 2001 besuchte ich ihn, um ihn für einen Film über das Desaster zu interviewen. Er war gerade mit dem Schnitt eines Films über das Benefizkonzert für die Opfer des World Trade Centers im Madison Square Garden von Paul McCartney beschäftigt und wollte nichts über die Situation sagen. Im letzten Jahr erhielt er zu seinen vielen Auszeichnungen die National Medal of Arts von Präsident Barack Obama dazu – zusammen mit dem New York Award von Bürgermeister Bill de Blasio. Nun wird man ihm ein Ehrenbegräbnis ausrichten.
Am 5. März ist Albert Maysles 88-jährig in New York gestorben.
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