Nie war er weg. Nur sechs Jahre weg vom Büchertisch seit Erscheinen seines vierten Bandes autobiografischer Essays, der Kunst heißt. Darin fragt Urs Jaeggi, ob dieselbe noch das Bedürfnis nach Sinn hat oder im Durcheinander der Globalen Gesellschaft, von wendigen Kuratoren gehalten, vorwärtstrudelt wie ein ausgebrannter Satellit, der nur noch kryptische Signale und verzerrte Bilder aussendet, bis er abstürzt und verglüht oder im Museum der schönen Dinge die Zeit überdauert.
Kein Wunder, dass das Buch kaum zur Kenntnis genommen wurde, weil die Sinnfrage in der modernen Kunst heute so un-anständig scheint wie die Bemerkung ‚Der Kaiser ist nackt!“
Durcheinandergesellschaft: Versuche, die Gegenwart zu verstehen" target="_blank">Durcheinandergesellschaft des wohl einzigen deutschen Soziologen, der die Wissenschaft mit der Dichtung aussöhnte und die Schriftstellerei als Grammatik der bildenden Kunst versteht, kann nicht leicht gelesen werden. Schon, weil der Autor es sich niemals leicht macht, jahrelang wie ein Bildhauer an jedem Gedanken, jedem Satz meißelt, bis er zehn andere und eine Richtung in drei Perspektiven ausdrückt.Geschwätzigkeit oder narzistische Selbstbespiegelung kann man dem Ur-Schweizer mit Wohnsitz in Berlin und Mexico-City nicht vorwerfen. Sein Arbeitsprozess ist deduktiv, sucht das Besondere aus dem Allgemeinen zu erklären und das uninspirierte Gute im Schlechten zu extrahieren.Die Gegenwart verstehenVor acht Jahren entwarf Urs Jaeggi, Jahrgang 1931, für den Sammelband Das Jahr 2000 findet statt einen ersten Essay zu dieser "Durcheinandergesellschaft". Seitdem ergänzte, verwarf, überdachte, aktualisierte er ältere Texte seit der deutschen Wiedervereinigung zu einem Buch, das die Gegenwart verstehen will, ohne das verstandene Vergangene als abgeschlossenen Vorgang zu betrachten.Im vierzigsten Jahr der 1968-er Revolte mythologisiert oder denunziert der Autor seine, neben Marcuse und Adorno gleich wichtige Position als kritischer Sympathisant der Studentenbewegung nicht, sondern erklärt sie sich erneut, um sie den Jungen an Herz und Verstand zu legen. „Nur das, was wir träumen, ist das, was wir wahrhaftig sind ... Was immer da war, ist Sprache ... So weit und soviel, und erst einmal tief durchatmen“, dann fällt „Denken ... mit einem Male aus dem Würfelbecher“.Doch Jaeggi würfelt sowenig wie Gott, er will sich seiner vergewissern, Irrtümer eingestehen und sein bisweilen eingestandenes Scheitern als Bankgehülfe, Soziologieprofessor, Künstler, Weltbürger nicht akzeptieren. In dem Kapitel „Zu viel und zu wenig“ fragt er nach den möglichen Unmöglichkeiten der arbeitslosen Gesellschaft und kommt zu der Einsicht, dass es eine gerechte Grundversorgung ohne Grundwissen und die Möglichkeit, es anzuwenden, nicht gibt. Arbeitslose, die sich nicht selbst helfen wollen und anderen, denen kann nicht geholfen werden. Sie werden Sklaven bleiben auch als „Lebenskünstler“.Dass Armut und Migration einen ökonomischen Eigenwert besitzt, der Kapital erzeugt, wissen die Menschen in Bangladesh, nicht aber die in Bautzen oder Bochum. Ihnen soll geholfen werden und wird geholfen, aber nicht zu ihrem Profit.Diese Kurzsichtigkeit und mangelnde Wertschätzung der eigenen Macht auch ohne Gewerkschaft macht dem Eidgenossen die ohnmächtige Wut deutscher Arbeitnehmer so unproduktiv, erregt seine Galle. Niemals jedoch seine philanthropische Natur.Jaeggi ist ein menschenliebender Zeitgenosse, der weder blind-affirmativ herumtappt noch mehr sieht als da ist. Ihn interessieren nicht die Verluste, sondern die verschenkten Möglichkeiten. Gegen den Bazillus der Romantik war der Autor schon früh geimpft durch einen Vater, der als Sozialdemokrat ein Wahrheitssucher war, kein notorischer Umfaller der Illusion, und einer Mutter, die nur schwere Kost kochte und dem essgestörten Kind sagte: „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!“.Der gleichnamige, leider vergriffene zweite Essayband wird auch in dem fünften aufgetischt unter dem Titel ‚Die Köchin. Der Gehülfe. Der Gast’, eine reichhaltige Kochshow in Bildern und Worten für geistig Fortgeschrittene.Für Dumme, Denkfaule, Genussunfähige schreibt der Autor nicht, dazu war er zu lange Dozent, hat spät das Untrennbare von gut Kochen, gut Essen und gut Schreiben gelernt und propagiert die Kunst als Lebensmittel.Die Abkehr von der Lehrtätigkeit war für den Soziologen ein Verlust, der vom Gewinn für die deutsche Literatur dreimal aufgewogen wurde.Ebenfalls vor Jahren schrieb Urs Jaeggi ein Treatment für einen Film zum deutschen Grundgesetz. Als das Projekt stockte, bot er die Erzählung seinen Verlegern an.Sie lehnten das Buch ab mit der Begründung, der 1931 geborene Autor sei zu alt, um sich auf dem Markt des Jugendwahns zu verkaufen. Jetzt liegt der Text als Roman eines Klagenfurter Verlages vor und hätte gewiss Chancen auf den Bachmann-Preis gehabt, wenn Jaeggi ihn nicht 1981 schon einmal bekommen hätte. Das Thema ist im 20. Jahr der Maueröffnung aktuell und zugleich allgemeingültig.Franz, in der DDR leitender Ingenieur, seit der Wende Mitropa-Kellner, erzählt einem Journalisten sein Leben. Es ist eine Reise durch die Landschaft einer sich selbst fremden Biografie und zerfallenden sozialen Ordnung, die der Autor in einem atemlosen Stillstand (wie Claude Simon und J.M.G.Le Clézio) am Ariadnefaden aneinander gekoppelter Relativsätze und abweichender Gedankenbrüche durchfährt wie ein Fahrgast im ICE.Spiegel im SpiegelAls passionierter Zugreisender ist Jaeggi ein genauer Beobachter der Innenwelt seines Helden, die sich in der Fensterscheibe des Waggons spiegelt, zerfällt und sich neu zusammensetzt. Wie ein Spiegel im Spiegel betrachtet der Autor die verzweifelte Suche des Kellners nach der abhanden gekommenen Identität und „filmt“ den unaufhaltsamen Prozess der Selbstzerstörung als Momentaufnahme in rasender Bewegung.Weder noch etwas ist ein leiser Roman und musikalisch-eindringlich wie ein Klavierstück von Arvo Pärt. Es gibt nichts Überflüssiges, Nebensächliches oder Larmoyantes. Alle Worte und Gedanken sitzen auf dem für sie reservierten Platz, der Leser (als Schaffner) hat nichts nachzulösen, als den Blick zu öffnen auf das Eigene und das Fremde. „Weil er alles unscharf zu sehen begonnen habe und sein Kopf sich dem Objektivieren und Verträumen nicht mehr entziehen konnte war Müdigkeit die Antwort je-derzeit sofort einzuschlafen ... Im Dunkeln auf dem Rücken liegend die Augen geschlossen endlos parallelen Kreisen entlang laufend in wachen Momenten ... Schlechtbesiegte haben den längeren Atem“.Der Roman beginnt mit den Worten des Journalisten „Der Letzte, dem er begegnen wollte“. Dem Schriftsteller Urs Jaeggi muss man spätestens nach diesen beiden Büchern als einem der ersten begegnen, will man über deutschsprachige Literatur und das Durcheinander der Welt urteilen oder sich einfach ein Bild machen.
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