Wie Artefakte der Vergangenheit

Bunker-Archäologie Wer vom Frieden redet, muss den Krieg studieren. Plädoyer für ein Weltkriegsmuseum

Auch du musst gegen Bushs Krieg und für Bagdads Frieden auf die Straße gehen«, agitierte ein alter Freund und Kollege, oder ich solle mich gleich neben Biermann und Broder einreihen. Auf »müssen« und »sollen« reagierte ich schon im DDR-Kindergarten apathisch und hasste die Pflicht, mit Fackel und Transparent vor der Partei- und Staatsführung der DDR vorbei zu defilieren. Seither meide ich Massenaufmärsche und Volksvergnügen, auch wenn mich niemand mehr zwingt. Aus beruflicher Neugier ging ich dann doch, ohne Kerzen und brennende Wut auf Amerika, zur Friedensdemo Unter den Linden. In stiller Eintracht marschierten Kreuzberger Altlinke, alt gewordene Pankower FDJ-Sekretäre, Zuhälter mit Kampfhunden neben »Glatzen« und »Zecken« ohne Biss, Frauen in Schwarz und Männer in ganz Weiß, Banker und Bettler, fleißige Beamte und glückliche Arbeitslose, vorbei an den Besitzstandswahrern des Café Einstein und den »völkischen Beobachtern« der Berliner Schutzpolizei. Dank Bush und Hussein sind wir endlich ein Volk geworden und die »Reichsruine« Berlin debütiert als Tummelplatz des himmlischen Friedens.

Verzweifelt hielt ich Ausschau nach einem stilleren Ort, an dem ich mit meiner nicht ganz so totalitären Kriegs-Aversion allein sein konnte. In Washington nahm ich einmal an einem Protestmarsch gegen den Kuwait-Krieg teil. Weil es nicht vorwärts ging, besuchte ich auf dem Weg zum Weißen Haus das Air-und Space-Museum und das Smithonian. So ließ sich das Notwendige mit dem Nützlichen verbinden. Auf dem preußischen »parcours de paix« kann man beides nicht zugleich genießen. Der Vorwärtsdrang der Berliner kennt kein Erbarmen und die Stadtmitte kein Museum, das dem erschöpften Friedenskämpfer Kraft und Muße spendet. Kein Ort nirgends, der den kalten samt dem heißen Krieg in klimatisierte Innenräume verbannt.

Nur zwei Daueradressen der Rückbetrachtung beider von Deutschland angezettelten Weltkriege gibt es im Berliner Museumsführer: Das private Anti-Kriegsmuseum von Ernst Friedrich im Wedding mit zensierten Schockbildern und -texten von 1914-18 unter dem Motto »Krieg dem Kriege« und das deutsch-russische Museum in Karlshorst mit Wechselausstellungen über den Großen Vaterländischen Krieg und Hitlers »Endsieg«. Ansonsten fehlt in der Stadt, die Brecht 1945 als »Radierung Churchills nach einer Idee Hitlers« betitelte, ein musealer Ort, der die Bombenstimmung, die in Bagdad jetzt herrscht, traumatisch erlebbar macht beziehungsweise umfassend thematisiert.

Gewiss, Berlin selbst ist ein einziges großes Museum des Krieges, in dem die Wunden noch immer sichtbar sind als amputierte Plätze, klaffende Häuserlücken, zentrale Brachlandschaften, trutzige Bunker und theatralische Ruinen. Wo immer auf märkischem Sand eine Baugrube geöffnet wird, hängt eine tickende Fliegerbombe am Bagger, werden Leichen exhumiert oder der stickige Angstschweiß von Luftschutzkellern freigesetzt.

Letztes Jahr öffnete der bis 1990 unzugängliche Bunker in der Reinhardtstraße seine Pforten für Aktionskünstler. Das Publikum war von den unversehrten Kriegsräumen mehr beeindruckt als von der unterbelichteten Bunkerkunst. Mit Paul Virilios »Bunker-Archäologie« als Leitfaden erkundete ich die gruseligen Räume und fand, hier sei der ideale Ort für ein Kriegsmuseum. Die fixe Idee zerplatzte an den neuen Besitzverhältnissen. Die Treuhand hatte den als Kartoffellager zweckentfremdeten Hochbunker an einen japanischen Investor verkauft, der ihn zum postmodernen Haus der Kunst umrüsten will. Ausgehängte Computersimulationen lassen Schlimmes ahnen: Schöner wohnen mit Albert-Speer-Ambiente.

Die deutsche Art, mit architektonischem Erbe umzugehen ist, es wegzusprengen oder in seinen Ursprung zu versetzen. Berlin, die einst »interessanteste Hauptstadt Europas« (Erich Kästner), dann die größte Reichsruine mit Kleingärten, zeigt immer noch seine Kriegswunden her und schafft permanent neue Bruchstellen. Fast über Nacht verschwand die längste Mauer Europas spurlos. Sehr zum Missfallen der Touristen und Lehrer, die den Kindern leidvolle historische Erfahrungen vermitteln sollen. Sie müssen sich mit dem Mauermuseum am Checkpoint Charlie begnügen, das - ganz Kind des Kalten Krieges - als letzter Mohikaner des Antikommunismus sein Rumpelkammer-Dasein fristet. Es gehört als drittes Berliner Kriegsmuseum genannt, auch wenn es den Zweck des schlimmen Bauwerkes nur einseitig erklärt.

Museen sind nicht nur Schau- und Schallorte der Illusion, dass wir uns für die Ewigkeit möblieren können, wie der Schweizer Dichter Jürgen Federspiel meint. Sie sind in dieser hektischen Zeit auch Stätten der Kontemplation und Aspiration. Was dazu führt, dass Museumsneubauten oft die Exponate als Mittel zu dem Zweck degradieren, die Architektur beziehungsweise die Architekten groß auszustellen. Bei Kriegsmuseen verbietet sich die Dekonstruktion des Themas im Bauwerk. Deshalb werden exponierte Kriegsbauten, so sie nicht noch gebraucht werden, zu musealen Orten des Sieges oder der Niederlage. Verdun ist das bedrückendste Weltkriegsmuseum, das ich kenne, und Redipuglia, Mussolinis monströses Mahnmal der Isonzo-Schlacht, das scheußlichste. Einmalig, anschaulich und absurd wie Kubricks Film Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben ist das Titan Missile Museum bei Tucson, Arizona. In einem 100 Meter tiefen Betonsilo steht der einstige Stolz des Pentagon, die Titan-Intercontinentalrakete mit Atomsprengkopf. Pensionierte Luftwaffenoffiziere erklären nicht ohne Ironie, wie dieses gigantische Abwehrsystem zum Alptraum für die Betreiber wurde. Erst lösten Zugvögel durch hochsensible Bewegungsmelder dauernd Alarm über den 120 Silos aus. Dann kam das Drachensegeln in Arizona auf und brachte die Welt mehr als einmal an den Rand einer Katastrophe. Die Regierung klagte gegen die Flugbegeisterung ihrer Bürger und verlor. So wurde die titanische Kriegsrakete zur mehr oder weniger friedlichen Weltraumeroberung umfunktioniert. Ich wuchs unweit einer sowjetischen Raketenbasis auf und empfand einen gewissen Nervenkitzel beim Berühren jener Rakete, die mich und den Chemiebezirk Leuna/Buna im Ernstfall ausgelöscht hätte.

Ich gebe zu, mich faszinieren solche Museen, nicht weil ich Waffennarr bin, sondern um die Strategie und Technik des Krieges zu verstehen. Wer vom Frieden redet, muss den Krieg und seine Mittel studieren. Denn Frieden ist nicht das Gegenteil von Krieg, sondern die Abwesenheit von selbem und ohne Armeen nicht zu versichern. Als positiv besetzter Negativbegriff ist Frieden letztlich »nur ein blindes Fenster, das sich nicht öffnen läßt« (Pierre Bertaux), ein mehr oder weniger dauerhafter kriegloser Zustand und noch allemal das Ergebnis unfriedlicher Mittel. Ein paradoxer Zustand bis an die Zähne bewaffneter Konfliktvermeidung. Schlimmer als der Krieg ist die Furcht vorm Krieg, wusste schon Seneca. Das heißt, man muss die Symptome eines kranken Friedens heilen, bevor die Krise akut wird und zum Krieg führt. Dazu bedarf es der Kenntnis der Krankheitsbilder. Deshalb plädiere ich für Weltkriegsmuseen an vielen Orten, wie es überall Museen für Kunst, Technik, Natur- und Heilkunde gibt. Nicht erst seit den NATO-Angriffen auf Belgrad, der Bombardierung Grosnys à la russe, der falschen New Yorker Flugnummer 911 und Bushs Kreuzzug gegen alles Böse vermisse ich in meiner Stadt ein Museum für Freund und Feind militärischer Gewalt. Ein demokratischer Ort für Pazifisten und Patriarchen, Helden und Feiglinge, Voyeure und Angewiderte der Erfindungen des Verderbens. Was ich mir wünsche, ist kein Zeughaus der Moderne und keine Neue Wache für unsterbliche Opfer und namenlose, sondern ein öffentlicher Ort des Diskurses über den Krieg als Vater aller Dinge. Und zwar von den Rändern her, die in der Tagesdiskussion meist nur focussiv vermittelt werden. Ein unbequemer Ort, der zum Lernen von Weltzusammenhängen zwingt und zum Verlernen vaterländischer Tugenden. Eine weihelose Kultstätte, die Trauern nicht ausschließt durch museale Verdinglichung des Verlorenen und Krieg als kollektive Gefühlsdroge nachvollziehbar macht.

Ich habe Kriegsmuseen und Schachtfelder auf drei Kontinenten besucht und nicht das gefunden, was nötig wäre - Weltkriege in Museen zu verbannen, um sie für immer als Artefakte der Vergangenheit zu bestaunen. Das mag angesichts der momentanen TV-Bombenbilder naiv scheinen. Doch Frank Lloyd Wright plante 1940 Glashäuser, die der vorhersehbaren Zerstörung der Umwelt als Natur-Archen dienen. Weshalb nicht heute ein Haus den jetzigen und kommenden Kriegen bauen? Wir leben in einer Biosphäre des Verschwindens von Erfahrung, die durch den tödlichen Informationsdruck der Medien ein immer größeres Vakuum im kollektiven Weltgedächtnis erzeugt. Mein Kriegsmuseum muss leere Räume haben, die gefüllt werden müssen mit persönlichen Erinnerungen. Unsere Väter und Mütter können hier mit sich oder anderen darüber sprechen, wozu sie nie in der Lage waren. Kriegsopfer wie -täter dürfen sich auslassen über ihr Trauma. Juden können mit Arabern streiten, Russen mit Tschetschenen, Friedensaktivisten mit Kriegstreibern. Andere Räume sollen leer bleiben, um die Stimmen der zahllosen Toten aufzunehmen, die allein im Berliner Bombenhagel verstummten. Monochrom-blaue Bilder von Yves Klein sollen zwischen Kriegsmalern aller Couleur hängen und zeigen, dass Kunst heilen, aber auch verderben kann. Wie das Kino. Filme von Harun Farocki müssen hier jederzeit zugänglich sein und alle Klassiker des Antikriegsfilms. Seminare sollen erklären, warum die meisten von ihnen wehrerzieherisch wirken, statt zersetzend. Für abenteuerlustige Rekruten empfehle ich Dalton Trumbos Johnny zieht in den Krieg (1970) oder Peter Watkins Wargame (1964). Sie verweigern sich jeder gemütlichen Betrachtung, indem sie Krieg als unheroisches Schlachtfest dokumentieren. Eine Museumsbibliothek mit Kriegsliteratur muss offen sein für Gegensätze. Ernst Jünger und Bertolt Brecht, Henry Kissinger und Gore Vidal, Peter Scholl-Latour und Curzio Malaparte. Dessen skandalöse Weltkriegspanoramen Kaputt, Die Haut, Das Blut aus den Jahren 1951-54 würde ich jedem Leser von Landser-Heften als Abwechslung hinter die Ohren schreiben.

Um nicht Gefahr zu laufen, gegen Windmühlen anzurennen, mache ich mir keine Hoffnungen auf Realisierung meines Museums-Projektes. Berlins Kultursenator Thomas Flierl hat mit der Museumsinsel und dem Opern-Debakel den Kopf voll und würde nur müde lächeln. Auch wenn in dieser vor Wahnsinn knallenden Zeit das Wünschen und Protestieren nicht mehr hilft, die Menschen gehen trotzdem auf die Straße und legen den Verkehr lahm. Das nervt und ist ungesund bei den schwankenden Temperaturen. Deshalb kam mir die Idee, ein durchgehend geöffnetes Weltkriegsmuseum zu schaffen, wo man mehr über die Sache erfährt als im Fernsehen, sich nicht die Kehle aus dem Hals brüllen und die Beine in den Bauch stehen muss. Letztlich ist es gleich, ob dieses Museum morgen oder übermorgen da sein wird. Es ist nötig, weil Kriege immer noch möglich und vielleicht schon nach der Eroberung von Bagdad nicht mehr vom Frieden zu unterscheiden sind.

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