Beutelschneider und Dreckschleudern

Linker Haken In seiner "Freitag"-Kolumne verteidigt Thomas Rothschild diesmal zwei Berufsstände, auf denen oft (und nicht immer zu Unrecht) herumgehackt wird: Ärzte und Journalisten

In meiner Kindheit war der „Herr Doktor“ ein eher bescheiden gekleideter freundlicher Herr mit einer dicken Tasche, der bei uns daheim vorbei kam, wenn ich Fieber hatte. Ich hatte großen Respekt vor Ärzten. Sie halfen einem, wenn man krank war, machten einen gesund, und dass sie auch mal irren oder einen Fehler machen könnten, kam mir nicht in den Sinn.

Später wurden die Herren im weißen Kittel immer eleganter, die Praxen sahen nach und nach aus, als hätte man sie für ein Foto in Schöner wohnen ausgestattet, und die Autos draußen vor der Garage waren von einer Sorte, die in meinem Bekanntenkreis eher selten vorkommt.

Das Bild vom Arzt, dem die Honorare mehr bedeuten als der Eid des Hippokrates und ärztliche Ethik, vom Beutelschneider, der sich von Pharmavertretern bestechen lässt und sich für weniger betuchte Patienten keine Zeit mehr nimmt, bekam mit jedem Skandalbericht, den ich in der Zeitung las, plastischere Konturen.

Aber mittlerweile hat sich etwas geändert. Auch meine Einstellung zu den Ärzten. Der Arzt, der mich täglich, auch am Wochenende, um sieben Uhr in der Früh im Krankenhaus aufsuchte und dann um sieben Uhr abends noch einmal, der in den zwölf Stunden dazwischen ganz offenbar nicht gefaulenzt hatte – er verdient wieder die Achtung, die ich dem Herrn Doktor in meiner Kindheit entgegenbrachte. Gewiss, es gibt wohl unter den Ärzten schwarze Schafe wie in anderen Berufen auch. Und wir kennen die schnoddrige Art, mit der man bisweilen behandelt wird, als sei man ein lästiger Bittsteller, und das Gefühl, wenn man mit quälenden Schmerzen, oft stundenlang in Wartezimmern und hässlichen Krankenhausfluren ausharren muss, ehe man zur Kenntnis genommen wird.

Aber es will mir nicht in den Kopf, dass ich dem Arzt weniger vertrauen soll als der Versicherung, die protzige Büropaläste in die Stadtzentren stellt, kostspielige Werbung betreibt, sich bei Sportereignissen als Sponsor aufspielt, die Rechnung meines Arztes aber anzweifelt und mich nötigen will, mit ihm zu feilschen. Sie tut alles, um das Vertrauen der Patienten zu den Ärzten zu untergraben. Ob das für den Heilerfolg von Nutzen ist, wage ich zu bezweifeln. Dass es die Ärzte sind, an denen die Gesundheitsreformen scheitern, will ich nicht mehr glauben. Ihr Fleiß und ihr Einsatz fordern mir Respekt ab. Was ich von den anonymen Damen und Herren von der Versicherung nicht behaupten kann. Außer ärgerlichen Briefe habe ich von ihnen nichts erhalten, was Bewunderung verdiente.

Ja, ich weiß, dass es Ärzte gibt, die nur daran denken, wie sie möglichst viel verdienen können, die Kassenpatienten am liebsten abweisen und keinerlei soziales Gewissen haben. Aber ich weiß auch von jenen Ärzten, die freiwillig in Entwicklungsländer gehen, um dort unter selbstlosem Einsatz und für wenig Geld den Ärmsten der Armen zu helfen. Ich weiß von jenen jungen Ärzten, die in der alten Wäscherei der Psychiatrischen Klinik des Landes Tirol ein Kulturzentrum eingerichtet haben, um ihren Patienten ein schöneres Leben zu ermöglichen und zugleich die „normale“ Bevölkerung auf das Gebiet des Krankenhauses zu locken. Ihnen gehört mein Respekt.

Wenn es, wie diese Woche gemeldet, zutrifft, dass Ärzte aus Protest gegen die Honorarreform die Behandlung von Patienten verweigern, so ist das zwar menschlich abscheulich, aber es entspricht, nüchtern betrachtet, der Logik unserer Gesellschaft. Schließlich erwartet niemand, dass ein Bäcker an Hungernde verbilligte Brötchen verteilt, dass ein Hausherr die Mieten senkt oder ganz darauf verzichtet, weil es Obdachlose gibt; dass ein Anwalt ohne Honorar einen Prozess führt, wenn der Angeklagte nicht zahlen kann, oder dass gar die Manager der Versicherungen, die Abgeordneten im Bundestag oder die Minister auf einen Teil ihres Einkommens verzichten, solange andere in Not geraten und in Armut leben.

Und wenn wir gerade dabei sind – gleich noch ein Eingeständnis: Um 1968, aber schon davor und weit darüber hinaus, waren wir geneigt, bei Redakteuren und Journalisten den Hort der Reaktion und des Ressentiments zu identifizieren. Ganz falsch ist das ja nicht, und es gibt durchaus einzelne Meinungsproduzenten in den Printmedien und den Rundfunkanstalten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, alles zu bekämpfen, was links von Frau Merkel steht.

Aber seit uns das Internet Einblick in die Volksseele gewährt, musste ich mein Urteil revidieren. Zumindest was die Einstellung zum Nationalsozialismus betrifft, sind die professionellen Journalisten mit ganz wenigen Ausnahmen progressiver als ihre Leser. Wenn man die Zuschriften sichtet, die das Internet jetzt weitaus großzügiger preisgibt als die begrenzten und redigierten Leserbriefseiten in den Zeitungen, trifft man auf eine erstaunliche Zahl unverblümt nazistischer und antisemitischer, meist unter dem Schutz der Anonymität und in katastrophalem Deutsch abgefasster Meinungsäußerungen.

Nun weiß man, dass solche Schreiben nicht in statistisch repräsentativer Weise die „öffentliche Meinung“ wiedergeben, aber die Unverfrorenheit und die Beharrlichkeit, mit der sie sich selbst fortzeugen, ist doch erschreckend. Sie machen deutlich, wie tief die zwölf Jahre des Nationalsozialismus in Deutschland und die sieben Jahre in Österreich sich in die Köpfe eingegraben haben, wie sehr sie sich in eine Generation fortpflanzen, die sie selbst nicht erlebt hat. Dass die Medienleute in ihrer überwiegenden Mehrheit da nicht mitmachen, dass sie der Versuchung widerstehen, sich in diesen Sumpf zu begeben und sich an die Dreckschleuderer anzubiedern, verdient ebenfalls Respekt. „Über – den Abgrund“, wie Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi sagt, als ihm der Pfarrer die Hand entgegenstreckt.

In der Freitag(s)-Kolumne "Linker Haken" beklagt Thomas Rothschild Woche für Woche, dass alles immer schlimmer wird. Manchmal hat er aber auch andere Sorgen. Letzte Woche: Väter und Söhne

Thomas Rothschild wurde 1942 in Glasgow geboren, wuchs in Österreich auf und lehrte bis 2007 an der Universität Stuttgart Literaturwissenschaft. Er ist seit vielen Jahren Autor des Freitag

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