Was als einzigartig erscheint, ist oft die erstmalige Kombination von zuvor vorhandenen Elementen. Der Film, dessen Erfindung gemeinhin den Brüdern Lumière zugeschrieben und mit dem Jahr 1895 datiert wird, ist das Ergebnis der genialen Zusammenfügung von drei vorausgegangenen Erfindungen: der Photographie, der Erzeugung von Bewegungsillusion durch die schnelle Abfolge von Phasenbildern, etwa im Lebensrad, in der Wundertrommel oder im Daumenkino, und der Projektion durch transparentes Material. Jede dieser Erfindungen hatte bereits eine je eigene Geschichte, aber erst deren Symbiose ergab, was wir seither nicht missen wollen: den Kinofilm.
Die Besonderheit von Erich Hackls Werk liegt ebenfalls in der Kombination von drei Komponenten, die, jede für sich, auch außerhalb dieses Werks existieren: der unmittelbaren literarischen Verwertung von Realität, der Parteinahme für die Erniedrigten und Beleidigten und der stilistischen Anstrengung, die Sprache nicht nur als Instrument der Mitteilung betrachtet.
Eine teilweise Vermischung dieser Komponenten gab es auch vor Hackl und gibt es auch anderswo. Im engagierten Journalismus etwa eines Egon Erwin Kisch oder eines Eduardo Galeano, den Hackl übersetzt hat und verehrt, kommen Realitätsnähe und Parteilichkeit zugunsten der Diskriminierten zusammen. In der Fiktion von Bertolt Brecht oder Anna Seghers bilden linkes Engagement und sprachliche Ambition eine Einheit. Und die Briefe eines Sigmund Freud, die nichts weniger im Sinn haben, als eine fiktive Welt zu entwerfen, können es ästhetisch mit manchem Roman aufnehmen.
Auch ist das Verhältnis von Fiktion und außerliterarischer Realität nicht so komplementär, wie es Einführungen in die Literaturwissenschaft manchmal gerne hätten. Bekanntlich besteht Dantons Tod von Georg Büchner zu großen Teilen aus wörtlich zitierten Dokumenten, und Mischformen wie die Romane Upton Sinclairs, Ilja Ehrenburgs oder Willi Bredels bilden im zwanzigsten Jahrhundert eine eigene, wenngleich oft missachtete Traditionslinie.
Offenbar gibt es zudem eine Affinität zwischen der Hinwendung zum Dokumentarischen und sozialkritischer Motivation. Das deutschsprachige Dokumentartheater der sechziger Jahre, die Stücke von Peter Weiß, Heiner Kipphardt oder Tankred Dorst sind ebenso einem linken Projekt zuzurechnen wie die Filme der großen Dokumentaristen wie Joris Ivens oder John Grierson. Das hat natürlich seine Gründe. Wer verändernd in die Wirklichkeit eingreifen will, hat Ursache, diese Wirklichkeit, wie man so schön doppeldeutig sagt, "zur Sprache zu bringen".
Einem Missverständnis freilich muss vorgebeugt werden. Dokumentarische Künste sind nicht von vornherein wahrhaftiger als es Fiktion ist. Wie gründlich man mit Dokumenten lügen kann - und ich rede noch gar nicht von Fälschungen -, erleben wir gerade in unserer Zeit täglich in den Massenmedien. Andererseits dürfte es kaum einen dokumentarischen Text geben, der das Ende der österreichischen Monarchie wahrhaftiger versinnlicht als Joseph Roths Radetzkymarsch oder die Vorgeschichte der russischen Oktoberrevolution genauer begreifbar macht als Tschechows Kirschgarten oder Gorkis Nachtasyl.
Was gelegentlich vergessen wird: Der Dokumentarismus in den Künsten ist nicht im Gegensatz zur Avantgarde entstanden, sondern er ist vielmehr ein Produkt der keineswegs selbstverständlichen Allianz von künstlerischer und politischer Avantgarde. Im Programm von Novyj LEF, der Neuauflage der Linken Front der Künste - das war die Organisation und die Zeitschrift der russischen Futuristen - heißt es 1928:
"Darum liegt das Hauptgewicht der literarischen Arbeit der LEF auf dem Tagebuch, der Reportage, dem Interview, dem Feuilleton und anderen "niederen" literarischen Formen der Zeitungsarbeit, die die LEF für die modernste Form der Literaturarbeit ansieht. Der Roman, die Erzählung, die Novelle und die sogenannten epischen Stoffe, die alle vor einem anderen sozialen Hintergrund entstanden sind, bleiben weiterhin traditionelle Formen der Literatur, haben aber ihre ursprüngliche Legitimation verloren, Träger und Verbreiter von Ideen, Wissenschaft, ethischen und ästhetischen Theorien derjenigen Klasse zu sein, die sie ins Leben rief."
Das klingt, verglichen mit anderen Manifesten der Futuristen, noch nicht einmal sonderlich zugespitzt. Immerhin wird dem Roman, der Erzählung, der Novelle ein anhaltendes Existenzrecht zugesprochen. Heute, ein Dreivierteljahrhundert später, erscheint eine einander ausschließende Alternative von Tatsachenmaterial und "künstlerischer" Literatur vollends obsolet. Man muss E.T.A. Hoffmann nicht abschwören, um Tolstoj zu schätzen, und H.C. Artmann nicht, um Erich Hackl zu bewundern.
Vermutlich hat Hackl irgendwo in seiner schriftstellerischen Biographie entdeckt, worin seine Stärke liegt: in der literarischen Gestaltung von tatsächlichen Schicksalen, nicht in der Erfindung von Figuren und Fabeln. Ob die theoretische Begründung dieser Entdeckung voranging oder ihr folgte, ob Hackls Schreibart ein Resultat seiner Literaturauffassung oder ob dieses Literaturverständnis eine Sekundärrationalisierung des eigenen schriftstellerischen Schaffens ist, ist egal. Was zählt, ist das Werk. Und das beweist sich literarisch dadurch, dass es mehr ist als Journalismus oder wissenschaftliche Publizistik, die durchaus die gleichen Stoffe behandeln können wie die Bücher Erich Hackls.
Was aber macht dieses Mehr aus? Einmal, im Vergleich zum Journalismus, die Ausführlichkeit. So gründlich, wie Hackl sich seinen Themen widmet, und zwar in der Recherche wie in der Ausführung, kann kein Journalist arbeiten, weil ihm dafür weder die Zeit noch der Platz zur Verfügung steht. Und dann, wie bereits erwähnt, die Sprache. Hackl vermag sich noch zu empören, doch er setzt alle Kunstfertigkeit daran, die Empörung zu zähmen, weil er weiß, dass der nüchterne Bericht oft stärker erschüttert und jedenfalls wirksamer aufklärt als die zur Schau gestellte Betroffenheit des Erzählers. Er will mit Tatsachen überzeugen, nicht mit Kommentaren überrumpeln. Hackls Texte erfüllen allesamt die scheinbar paradoxe Aufgabe, dass sie auch im Leser Empörung gegen das Unrecht wecken, Trauer über das Schicksal der Gedemütigten und Mitgefühl mit deren Leid, und ihn zugleich ästhetisch erfreuen. Sie sind in einem ganz schlichten Sinne: schön. Obwohl, was sie zu berichten haben, oft nichts weniger als schön ist. Wenn Brecht vom Denken als einem der größten Vergnügungen der menschlichen Rasse spricht, so kommt bei Hackl die Vergnügung des Mitfühlens hinzu - ohne, übrigens, dass das Denken bei ihm verabschiedet würde. Denn so nahe er uns im Laufe der Jahre einzelne Schicksale gebracht hat: man konnte aus seinen Büchern auch eine Menge lernen, historisch, wie über soziale und psychische Zusammenhänge.
Die Diffamierung jeglichen moralischen Anspruchs, der in den Künsten in der Tat zum Problem werden kann, wenn er sich dogmatisch gebärdet, die nun schon Jahre anhaltende rechte Kampagne gegen "Political Correctness" beeinträchtigen die Rezeption von Hackls Werk. Schwerlich vorstellbar aber, dass jemand bei der Lektüre dieses Werks ernsthaft den Eindruck hat, da wolle sich einer als "guter Mensch" profilieren. Es gibt in der österreichischen Literatur kaum weniger eitle Texte als jene von Erich Hackl. Niemals stellt er sich selbst in den Vordergrund, stets ordnet er sich den Figuren unter, denen seine Ermittlungen gelten. Ich mag es nicht, wenn in einem Dokumentarfilm eine Stimme im Off sagt: "Ich lege meinen Kopf auf meine Hand und schau aus dem Fenster." Nur äußerlich ähnelt dieser Manier ein Satz wie der folgende: "Ich sehe Fidel Olivé vor mir, vor zehn Jahren in seiner Linzer Wohnung, hustend, magenkrank seit der Zeit im Lager, zart, mit schmalem Oberlippenbart, straff nach hinten gekämmtem Haar, ich hätte ihn für einen Friseur gehalten oder für einen Kellner, aber er war Maurer." Hackls "Ich" ist hier uneitel funktional, weil es die Blickrichtung auf den Gegenstand, Fidel Olivé, präzisiert, weil es als Vergegenwärtigung einer Erinnerung ausweist, was ohne die Markierung dieser Distanz eine andere Bedeutung besäße.
Hackl geht gern aus von ihm Vertrauten: von der Umgebung seiner oberösterreichischen Geburtsstadt Steyr, vom spanischsprachigen Raum, dessen Kulturen er studiert und in dem er zeitweilig gelehrt hat, von Wien, wo er jetzt lebt. Er sucht die Geschichte in der Gegenwart und die Bausteine der Gegenwart in der Geschichte.
Hackls Geschichten und Berichte - so der Untertitel seines Bandes In fester Umarmung - haben oft den Charakter einer Chronik, aber sie hangeln sich nicht an äußeren Ereignissen voran, sondern an den Daten individueller Biographien. Sie sind exemplarisch und einmalig zugleich, Belege einer von der Historiographie gemeinhin verschwiegenen oder verdrängten Geschichte des Leidens und des Widerstands.
Schon vor seiner ersten eigenen Buchpublikation hat der Romanist Erich Hackl einen Band mit Geschichten aus der Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs mitherausgegeben. Dass der Spanische Bürgerkrieg in Hackls Werk noch vor Auschwitz eine Schlüsselstellung einnimmt, ist bei der Charakterisierung dieses mitleidensfähigen und doch in seiner Grundhaltung eher optimistischen Autors von Belang. Der Spanische Bürgerkrieg gehört zugleich zu den heroischen wie den tragischen Daten in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Die Internationalen Brigaden, in denen auch Österreicher gegen den Faschismus kämpften, liefern Hackl die Möglichkeit, unterdrückte Aspekte der österreichischen Geschichte mit dem Motiv des Widerstands gegen den Faschismus, aber auch dem Motiv der internationalen Solidarität zusammenzubringen. Und der Weg, der von Francos Sieg nach Auschwitz führte, also vereinfacht gesprochen: der Weg des europäischen Faschismus in die Menschheitskatastrophe, wird von Hackl in immer neuen Anläufen rekonstruiert. Damit stellt er den Spanischen Bürgerkrieg wiederum in einen größeren historischen Zusammenhang, der, auf der Täter- wie auf der Opferseite, auch Österreicher betraf.
Erich Hackl, darin ist er konsequent und unbeirrbar, nimmt immer wieder Partei für die Rebellen. Sein Werk ist nicht nur eine fortgesetzte Geschichtsschreibung des Leidens, sondern auch des Widerstands. Zu einer Zeit, da die Arbeiterbewegung als obsolet belächelt wird, kommt es einem Schriftsteller zu, eine Erinnerung zu bewahren und einen Standpunkt aufrecht zu erhalten, die der Linken einst teuer waren. Ein kleiner Akt der Gerechtigkeit jenen gegenüber, derer man, anders als der gefallenen SA- und SS-Leute, nicht in jedem österreichischen Kaff gedenkt. Während die SPÖ offenbar schon wieder vergessen hat, dass sie die "braunen Flecken" in der eigenen Partei benennen und beseitigen wollte, während ihre Kärntner Genossen einen Landeshauptmann Haider ermöglichen, als hätte man sich nicht eben noch über die FPÖVP-Koalition empört, setzt Hackl jenen "roten Flecken" ein Denkmal, derer man sich in der SPÖ kaum noch entsinnt.
Jetzt hat Hackl in einem Band mit dem Titel Anprobieren eines Vaters einige kleinere "Geschichten und Erwägungen" versammelt, die, mit zwei Ausnahmen, bereits in Zeitungen, Zeitschriften oder als Vor- oder Nachwort zu Büchern anderer Autoren erschienen waren. Wieder geht es - wie anders? - um Menschenschicksale, die dem Vergessen entrissen werden sollen, auch um schreibende Kollegen, wieder tauchen Erich Hackls Stichwörter auf, der Spanische Bürgerkrieg, Dachau, Auschwitz, Kommunismus, Anarchismus, die Roma, Lateinamerika, Steyr. Im letzten, dem bisher unveröffentlichten Text Geschichte eines Versprechens, der sich liest wie die Notizen zu einem weiteren Roman, kommen viele der genannten Motive zusammen. Und wieder beweist uns dieser Schriftsteller als Moralist, dieser Moralist als Schriftsteller, dass die Parteinahme für die Opfer nicht sentimental sein muss, dass es keine Ursache gibt, sich zu schämen, wenn man sich beeindrucken lässt von Anstand und Charakterstärke. Der unterkühlte Ton, in dem Hackl erzählt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihm der modisch gewordene Zynismus, die spöttische Ironie der Unbeteiligten zuwider ist. In Abwandlung der Formel für den sozialistischen Realismus könnte man sagen: Seine Texte sind sachlich in der Form und pathetisch im Inhalt.
In einem Punkt freilich muss ich bei allem Respekt vor dem Patrioten Erich Hackl Widerspruch anmelden. Dass es eine "verhohlen nazistische These" sein soll, "wonach Österreich in erster Linie nicht als Ziel der nationalsozialistischen Aggression anzusehen ist, sondern als Landstrich, dessen Bewohner sich die Naziverbrechen zu eigen gemacht haben", leuchtet mir nicht ein. Die Menschen, die uns Hackl so eindringlich in Erinnerung ruft, scheinen diese These zu widerlegen. Aber sie waren und sind, leider, eine im doppelten Sinne verschwindende Minderheit, wie Hackl selbst zugibt, um es gleich darauf zu relativieren. Und es folgt nicht, dass einem diese nicht zufällig jenseits von Hackls Berichten weitgehend vergessenen Menschen "nicht wirklich als Österreicher" gelten, wenn man mit Trauer zur Kenntnis nimmt, dass das Mitläufertum in Österreich um ein Vielfaches verbreiteter war als der antifaschistische Widerstand. Der Herr Karl, mit Verlaub, war und ist eine in Österreich typischere Figur als Elisabeth Freundlich. Bis heute findet die Einsicht in die Verbrechen österreichischer Nationalsozialisten keinen Konsens. Bis heute sind vielen Österreichern bis weit in die Sozialdemokratie hinein die Nazis und ihre Ideologie näher als deren Opfer. Hackl, der sich seit vielen Jahren darum bemüht, die Opfer und Widerstandskämpfer ins öffentliche Bewusstsein zu heben, muss das doch wissen. Warum gibt er seinem Wunschdenken so hemmungslos nach? Warum bloß diffamiert er jene als "verhohlen nazistisch", als unbewusste Geschichtsrevisionisten, die nicht bereit sind, vor der hässlichen historischen und in die Gegenwart nachwirkenden Wahrheit die Augen zu verschließen?
Erich Hackl: Anprobieren eines Vaters. Geschichten und Erwägungen. Diogenes, Zürich 2004, 304 S., 18,90 EUR
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