Es ist ja nicht wahr, dass King Arthur ein "weitgehend unbekanntes Stück eines englischen Barockkomponisten" sei, wie viel schreibende Journalisten behaupten, und es bedarf keiner besonderen Originalität, um Henry Purcell für den bedeutendsten englischen Komponisten neben Händel zu halten. Schon gar nicht erhellend ist die falsche Maßstäbe setzende Kategorisierung als "frühes Musical". Derlei Werbeschnickschnack braucht Purcell nicht. Wenn die Salzburger Festspiele heuer mit der Dramatick Opera von John Dryden und Purcell eröffnet wurden, so trafen in dieser Entscheidung ein lange gehegter Wunsch des Intendanten Peter Ruzicka und das besondere Interesse Nikolaus Harnoncourts zusammen. Dessen musikalische Aufarbeitung war, wie zu erwarten, makellos. An der Inszenierung Jürgen Flimms schieden sich dann die Geister. Das Publikum goutierte das aufwendige Spektakel, den Puristen und den Vorzugsschülern mit dem Stecktuch im Smoking und dem Lexikonwissen im Kopf war es zu spaßig, zu flapsig, zu wenig auf den Gesang ausgerichtet.
In der Tat hätte man auf den einen oder anderen Gag, vor allem in der zweiten Hälfte, verzichten können, Drydens Vorlage benötigt keine modische Verkürzung zu "Boy meets Girl" im projizierten Text, überflüssig die ausgelutschte Szenerie eines Rockkonzerts, wo ein Sänger seine Zuhörer mit einem Hit der elisabethanischen Epoche unterhält, aber grundsätzlich hat Flimm dem Theater gegeben, was des Theaters ist. Wenn man solch ein Werk auf die überdimensionale Bühne der Felsenreitschule bringt, dann muss man diese auch füllen. Andere Bilder werden gefordert als etwa in der mustergültigen Inszenierung Martin Kus?ejs 1996 im Stuttgarter Schauspielhaus. Flimm platziert den Orchestergraben im Zentrum der geschwungenen Bühne und lässt ihn von unterschiedlichen Choreographien auf der farbenfrohen Bühnenfläche, von Projektionen auf mehreren Ebenen, von Apparaten in der Luft umspielen, phantasievoll, in einer Mischung aus Naivität und Schlitzohrigkeit und durchaus mit Hinweisen auf den ernsten Kern der Geschichte.
Der Rosenkavalier gehört zu Salzburg wie Tannhäuser zu Bayreuth. Jeder weiß genau, wie er auszusehen habe, nämlich so, wie er "immer schon" ausgesehen hat. Die Bereitschaft, sich auf die Vorschläge der Regie einzulassen, ist in Österreich noch geringer als im Rest der Welt. Hier verteidigt man die "Kultur" noch gegen vermessene Eingriffe dreister Künstler. Die Konzeption des Kanadiers Robert Carsen, in der doppelten Geschichte vom erotischen Verzicht der alternden Marschallin und vom bestraften Standesdünkel des geilen Ochs von Lerchenau das Ende der österreichischen Monarchie im Ersten Weltkrieg zu erkennen, ist absolut einleuchtend. Und wenn Carsen, wiederum um eine Panoramabühne zu füllen, auf Ausstattung und Statistenmassen setzt statt auf Intimität, so muss man das nicht goutieren, aber es ist eine in sich stimmige Möglichkeit. An Viscontis Filmen hat man eine Opernhaftigkeit gepriesen, die es in der Oper kaum mehr gibt. Warum sollte die Oper nicht dürfen, was man, von ihr abgeschaut, dem Film zugesteht?
Henry ist kein Handlungsreisender. Aber er kommt uns sehr bekannt vor. Henry belügt sich selbst, und er belügt seine beiden Söhne Simon und Daniel, und die belügen einander und ihre Frauen Miranda und Freyja. Das Thema der Familie als Hort der Lebenslüge ist uns seit Ibsen vertraut. Es durchzieht die Dramatik über Arthur Miller oder Albee bis hin zu den jungen Autorinnen und Autoren von heute. Die Engländerin Joanna Laurens ist noch sehr jung, gerade 26 Jahre alt, und Fünf Goldringe, mit dem das diesjährige Young Directors Project bei den Salzburger Festspielen in Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen eröffnet wurde, ist ihr zweites Theaterstück. Es ist riskant und eine wohlfeile Vorgabe für den Kritiker, wenn Laurens ihre Miranda, nachdem diese den heimlich sterilisierten Simon verlassen hat und von Daniel wunschgemäß geschwängert wurde, gleich mehrfach zu Daniel sagen lässt: "Du bist langweilig wie ein zwei Mal gelesenes Buch". Wenn das Stück in der Regie von Christiane Pohle dennoch packt, so liegt das einmal an der auch in der Übersetzung von Raphael Urweider noch identifizierbaren poetischen Sprache und dann an der Schauspielkunst des homogenen Ensembles. Joanna Laurens konterkariert den Alltagsstoff mit einer nur stellenweise von kolloquialen Elementen durchsetzten Kunstsprache, die verknappt und die Syntax deformiert, wie sonst gemeinhin nur die Lyrik. T.S. Eliot scheint da manchmal näher als Arthur Miller. Zu den magischen Momenten der Inszenierung gehören die Pausen, in denen Musikfetzen wie von Ry Cooder, aus einem Film von Wim Wenders, herüberwehen.
Falk Richter hat Tschechows Möwe nahezu die gesamte Melancholie ausgetrieben und alles, was dem Klischee von der "russischen Seele" entspricht. Wie andere vor ihm, die der von Stanislawski begründeten Aufführungskonvention ein längst seinerseits konventionalisiertes Korrektiv entgegenstellen, setzt er auf Tempo. In den Mittelpunkt seiner Inszenierung stellt er die exzentrisch kokette Arkadina, hinreißend verkörpert von Sylvana Krappatsch. Den Schluss kehrt Richter in sein Gegenteil. Kostjas beiläufiger Tod wird zu einem theatralischen Tod, dem die übrigen Personen des Stücks neugierig zuschauen: Tschechows Verwerfung des spektakulären Selbstmords ist selbst zu einem berühmten Theatertod geworden. Theater reagiert auf Theater. Ob das dem Stück dienlich ist, ob, wer ihm zum ersten Mal begegnet, davon profitiert, sei dahingestellt.
Der "Young Director" von Electronic City ist zwei Jahre älter als sein Autor, der sich eben erst, ohne das Attribut "Young", als Regisseur der Festspiel-Möwe profiliert hatte. Die Qualität freilich, auf die es ankommt, bemisst sich nicht am Alter und nicht an Wortgeklingel. Electronic City von Falk Richter verrät schon im Untertitel, worum es geht, nämlich um "unsere Art zu leben". Das kurze Stück bildet ab, was uns wenig überrascht, weil wir es täglich erfahren: eine globalisierte Wirtschaft und mit ihr globalisierte Gewohnheiten, Orientierungsdefizite in einer Welt, in der alle Orte gleich sind und in der die Menschen alle das Gleiche tun. Der chilenische Regisseur Luis Ureta und seine Compañía la Puerta machen aus der Vorlage Zivilisationskritik als Comic Strip. Video ist hier Thema und Technik zugleich. Mehr und mehr drängt sich der Eindruck auf, dass da nicht eine technische Möglichkeit angewendet, sondern auf die Spezifik des Theaters verzichtet wird. Dieser Beitrag zu einem Regiewettbewerb, bei dem es immerhin um 10.000 Euro und - man erblasst vor Neid - um den "exklusiv" entworfenen, von einer bekannten Füllfederfirma gestifteten Max Reinhardt Pen geht, erscheint absolut willkürlich.
Eine Leuchtschrift erinnert daran: Internationale Konzerne verlagern ihre Produktionsstätten ins Ausland und Hunderttausende werden arbeitslos. Täglich sterben 100 Kinder wegen der Krise in Argentinien. Enron, G-8-Treffen in Genua, Welthandelsorganisation in Davos... Wer bringt diese brennend aktuelle Wirklichkeit auf die Bühne? Wer schreibt ein Stück darüber?
Es existiert ja längst. Es heißt Die heilige Johanna der Schlachthöfe und sein Autor ist Bertolt Brecht. Mit einer atemberaubenden Verkürzung dieses 75 Jahre alten Stücks auf 100 Minuten schlossen das Teatre Lliure aus Barcelona und sein Regisseur Àlex Rigola das Young Directors Project ab. Auch in dieser Inszenierung werden technische Hilfsmittel üppig und demonstrativ eingesetzt. Aber hier werden ihre Möglichkeiten sinnvoll genutzt, hier dienen sie der Aussage des Stücks, statt sich zu verselbständigen.
In der Jury des Young Directors Project sitzt der aktuelle Jedermann Peter Simonischek. Ob ihm aufgefallen ist, dass er einem Spiel vom reichen Mann beigewohnt hat? Einer Passion? Freilich stirbt bei Brecht nicht der reiche Mann, sondern die kämpferische Johanna. Ein Weihespiel ist das nicht. Offenbar ist es Simonischek aufgefallen. Die Heilige Johanna bekam das Preisgeld samt Füllfederhalter. Und Simonischeks Jurykollegin, die Festspielpräsidentin, hat vielleicht übersehen, dass sie ein Stück prämiert hat, in dem es heißt: "Die aber unten sind, werden unten gehalten/ Damit die oben sind, oben bleiben." Alles nur Theater. Alles nur Theater? Mauler: "Denn es zieht mich zum Großen/ Selbst- und Nutz- und Vorteilslosen/ Und es zieht mich zum Geschäft/ Unbewusst!"
Einar Schleef hat nicht Schule gemacht. Man könnte meinen, er hätte keine Folgen gehabt, gäbe es da nicht Sebastian Nübling. Der hat auf der Halleiner Perner-Insel Marlowes Edward II. inszeniert, und er lässt, nicht zum ersten Mal, Chöre brüllen und exerzieren, egal ob es sich um Fußballfans oder um englische Peers handelt. Dazwischen posieren die auch meist brüllenden Solisten in Gängen, Arrangements und Bildern, die man allesamt schon ein Dutzend Mal gesehen hat. Der Verstoß gegen die Konventionen hat ein Maß der Konventionalität erreicht, das anödet. Ein Königsdrama auf deutschen Bühnen wie das andere: Richard II., Richard III., Heinrich V. oder eben Edward II. - am Ende kommt immer Ubu heraus. Flöten geht dabei die letzte Spur von Sprechkultur. Nur jedes fünfte Wort des auf zwei pausenlose Stunden zusammengestauchten Stücks ist verständlich. Es wurde um fast alles gebracht: um seine Gewagtheit, seine Tragik, seine politische Dimension. Der Rest ist Spektakel.
Exklusiv ist Salzburg, schon wegen der mittlerweile normalen Praxis der Koproduktionen beim Sprechtheater, nicht mehr. Das hat seine Vor- und Nachteile. Ausgesprochen ärgerlich ist die Hierarchisierung der Angebote durch Etikettenschwindel, Räume und Preise. Für die grandiosen Schostakowitsch-Abende der Kremerata Baltica oder für ein exzellentes Konzert des auf zeitgenössische Musik spezialisierten Ensembles Die Reihe zahlt man halb soviel wie für das ebenfalls perfekte Bach-Programm des Concentus Musicus. Sind sie deshalb weniger wichtig?
Der Karikatur solcher Zugeständnisse an das Gängige begegnet man an den Kartenbüros in der Fußgängerzone: Eine Karte zum gefragten Jedermann bekommt nur, wer auch eine Karte zu einer anderen Vorstellung kauft.
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