Wer in einer Zeitung das Buch eines ihrer Herausgeber bespricht, setzt sich unweigerlich dem Verdacht der Gefälligkeitsrezension aus. Da nützt auch die treuherzigste Beteuerung der Unbestechlichkeit wenig, und ein Verriss gegen die eigene Überzeugung, nur um die Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen, wäre wohl der Sache wenig dienlich. Andererseits steht Christoph Hein zurzeit ohnedies unter verschärfter Beobachtung. Sein jüngster Roman Landnahme wurde von Kritik und Leserschaft positiv bis überschwänglich aufgenommen. Hingegen wurde seine Berufung zum Intendanten des Deutschen Theaters von manchen Kommentatoren ausgesprochen unfreundlich bewertet, wobei gerade ein Missstand, der angeblich kritisiert werden sollte, nämlich die anhaltende Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland, durch diese Kommentatoren verstärkt wurde.
Während also auf literaturfernem Gebiet Stellvertreterschlachten geschlagen werden, fiel der Literaturredakteurin der Frankfurter Rundschau an einem Ort, an dem eine uneingeschränkte Würdigung von Heins literarischem Werk am Platz gewesen wäre, nämlich bei der Laudatio zum Schillerpreis Anfang November 2004, nicht mehr ein als eine biedere Kompilation von Inhaltsangaben.
Bekanntlich muss man nicht über ein ausgeprägtes Reflexionsvermögen verfügen, um dichterisch produktiv zu sein. Nicht jeder Belletrist ist ein kluger Denker, wie ja umgekehrt nur die wenigsten Denker auch gute Schriftsteller sind. Es gibt eine Reihe hervorragender Lyriker, Dramatiker und Erzähler, die in Interviews oder politischen Statements horrenden Unsinn von sich geben. Christoph Hein gehört zu jener raren Spezies, die sich sowohl literarisch im engeren Sinne wie auch essayistisch auf hohem Niveau zu äußern versteht. Sein jüngster Essayband enthält vornehmlich zuvor veröffentlichte Reden und Aufsätze, die zum überwiegenden Teil im Freitag erschienen sind. Wir erwähnen das nicht nur um der Tatsache willen, sondern auch angesichts der Schamlosigkeit, mit der viele Nachrufe auf Günter Gaus im letzten Jahr den Namen dieser Wochenzeitung unterdrückten. Wo, wenn nicht hier, dürfte diese Strategie des Totschweigens durchbrochen werden?
Christoph Hein liefert im ersten Teil seines Buchs, indem er die literarischen und gesellschaftlichen Bedingungen seiner Arbeit diskutiert, Bruchstücke zu einer Poetologie des eigenen Schreibens sowie Beiträge zur Politik, die von einem skeptischen - im Gegensatz zu einem die Realität missachtenden dogmatischen - Humanismus geprägt sind. Sie zeichnen sich aus durch eine seltene Mischung von Sanftheit und Entschiedenheit, die sich auch in Heins Körpersprache, seiner charakteristischen Schulterbewegung mitteilt. Diese Mischung qualifizierte ihn wie keinen anderen zum Präsidenten des wiedervereinten P.E.N.-Clubs.
Im zweiten Teil des Buchs sammelt Christoph Hein Hommagen an geschätzte Mitmenschen, wobei die Grenze nicht undurchlässig ist. So würdigt er ausführlich im ersten Teil Arno Schmidt, was jene verwundern mag, die Hein nicht unbedingt im Kontext experimenteller Literatur assoziieren. Er liest Schmidt freilich als politischen Autor, wie denn überhaupt die politischen Stellungnahmen Heins von seinen poetologischen Überlegungen nicht zu trennen sind. Und diese wie jene sind vorgeformt durch biographische Erfahrungen, die Hein explizit und damit nachvollziehbar macht.
Aufgefordert, einen - und nur einen - Lieblingsautor zu nennen, entscheidet sich Hein für Johann Peter Hebel. Das ist durchaus aussagekräftig. Es ist ein Bekenntnis zur aufklärerischen Tradition in der deutschen Geschichte und Literatur sowie zum elaborierten Sprachbewusstsein. Hein sieht Hebel in "der Reihe der deutschen Stilisten von Goethe und Kleist bis zu Kafka, Canetti und Arno Schmidt" (über Canetti würde ich in diesem Zusammenhang streiten, und sei es, um meine Unbestechlichkeit doch noch zu beweisen). Das Bekenntnis zur Aufklärung, die manche heute für obsolet halten, vereint auch die Zeitgenossen, die Hein preist: Hans Mayer und Stefan Heym, Heiner Müller und Thomas Brasch, Benno Besson, Adolf Dresen und Siegfried Unseld. Die Namen charakterisieren den Mann, der sie nennt. "Das moralische Weltgebäude der Vernunft", sagt Christoph Hein über den Intellektuellen, "hat er gegen die Welt zu setzen." Und er fügt hinzu: "Freilich wird er sich daher nur zu oft bei den Verlorenen und Unterlegenen wiederfinden."
Christoph Hein kann zornig sein: "Wenn beispielsweise eine liberale Zeitschrift sich national mausert, die Redaktion aber vollständig und unverändert bleiben kann und kein Mitarbeiter Schwierigkeiten hat, diese Wende mit zu vollziehen, so ist das nicht allein mit den guten Gehältern zu erklären." Fürwahr. Christoph Hein kann sarkastisch sein, wenn er etwa in einem "Brief an (fast alle) Ausländer" schreibt: "Euer Anspruch, an unserem Leben teilhaben zu wollen, ist ein Angriff gegen uns, gegen unseren Wohlstand, gegen unsere Kultur." Wer wollte beschwören, dass er da nicht eine Mehrheitsmeinung ausspricht?
Christoph Hein, von seinem Temperament her nichts weniger als ein Provokateur, scheut sich nicht, gegen die publizierte Sprachregelung anzuschreiben. Nach Einwänden gegen Peter Handkes Serbien-Reportage hält er fest: "Wichtig und gewichtig aber ist der Text, weil Handke die Schuld nicht neu verteilen will, sondern für eine gerechtere Sicht auf die Kriegsparteien plädiert. Damit erfüllt er die Aufgabe des Intellektuellen, gegen den Konsens der Zeit, gegen den allgemeinen Konformismus mit der Macht und den Mächtigen." Mit diesem Satz definiert Christoph Hein auch seinen Anspruch gegen sich selbst. Und alle jene, die ihm nun vorschnell beipflichten, weil sie auch hier wieder dem opportunistischen Zwang zum Konsens erliegen, müssen sich befragen lassen, ob sie tatsächlich diesem Anspruch genügen. Die Haltung des Rabbiners, der erst dem Blau, dann dem mit ihm sich streitenden Grün und schließlich seiner eigenen Frau Recht gibt, die meint, er könne doch nicht beiden im Konflikt befindlichen Parteien Recht geben, reicht hier nicht aus.
Christoph Hein: Aber der Narr will nicht. Essais. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 183 S., 19,90 EUR
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