Matthias Hartmann, der designierte Direktor des Burgtheaters, sagte kürzlich in einem Interview: „Theater ist eine Wirklichkeitsfabrik, weil wir nicht versuchen, irgendeine Wirklichkeit nachzuahmen – wir stellen sie her. Ist es nicht so, dass sich überall Menschen einander etwas vorspielen? Im Restaurant, in der Geschäftswelt, beim Balzen? Im Theater besteht jedoch die Verabredung, dass man sich etwas vorspielt, und deshalb ist es vielleicht realer als die Wirklichkeit. Am Ende hat man das Gefühl, dass die wirkliche Wirklichkeit nur ein Teil der Möglichkeiten von Wirklichkeit ist, wie sie im Theater erforscht und ausprobiert werden.“
Das ist zwar nicht neu, aber es wird immer wieder vergessen. Die Verfechter des geschmähten Sozialistischen Realismus waren näher an den Bedürfnissen der Zuschauer und auch vieler Theaterleute dran, als diese wahrhaben wollen: Nichts erscheint wünschenswerter als eine augenfällige Widerspiegelung der vertrauten Alltagswirklichkeit, modifiziert allenfalls durch eine optimistische Vision („lakirovka“ hieß das im sowjetischen Jargon).
Und weil Theater in diesem Verständnis nichts anderes ist als die Fortsetzung der Welt vor der Rampe, darf es keinen Vorhang mehr geben. Es mochte ja sinnvoll sein, die Konvention des Bühnenvorhangs zu durchbrechen, das – etwas ungeduldig auf den späten Einlass wartende – Publikum beim Betreten des Zuschauerraums mit dem Arrangement auf offener Bühne zu konfrontieren. In dem Maße aber, in dem dieser Effekt zur Mode und fast zur Regel wurde, hat man auf ein eminent theatralisches Mittel verzichtet.
Erinnerung an eine Utopie
Denn das Öffnen des Vorhangs im abgedunkelten Raum ist nicht nur ein magischer, ein erregender Moment, es signalisiert auch demonstrativ die Freigabe des Blicks auf jene andere Wirklichkeit, von der Hartmann spricht. Der Vorhang markiert die Grenze zwischen der Wirklichkeit, die wir gemeinhin für die eigentliche halten, und der im Theater produzierten Wirklichkeit. Er verschwindet vorübergehend, um die Wirklichkeit der Bühne über die Rampe schwappen zu lassen, und senkt sich am Ende. Wir bleiben zurück mit der Erinnerung an eine Utopie, die das Theater für sich behält. Jedenfalls vorläufig.
Einem platten Wirklichkeitsverständnis sind auch die Kostüme zum Opfer gefallen. Sie zählen zu den ältesten Mitteln, deren sich das Theater bedient, und wie elementar das Vergnügen an der Verkleidung ist, macht die dauerhafte Existenz von Karneval, Fastnacht oder Fasching deutlich. Theater ohne Kostüme, als Experiment durchaus willkommen, ist, wenn es zur Gewohnheit wird, wie ein Gulasch ohne Paprika. Die Idee dahinter ist offensichtlich bis zur Langeweile: indem man zeitlich einordenbare Kostüme unterschlägt, will man die historischen Spuren eines Dramas verwischen. Es soll tun, als wäre es von heute. Gegenwartsbezug, oder was man dafür hält, ist oberstes Gebot.
In seiner vor kurzem erschienenen genialen DVD-Edition Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital hat Alexander Kluge nachgewiesen, wie die Beschäftigung mit der Geschichte, die genaue Auseinandersetzung mit (buchstäblich und im übertragenen Sinne) antiken Texten gerade durch Bewusstmachung der Unterschiede die Gegenwart zu erhellen vermögen.
Aber selbst wenn man dem Zuschauer diese Mühe nicht zutraut, wenn man unterstellt, er vermöge die Gegenwart nicht aus der Differenz zur kostümierten Vergangenheit zu extrapolieren, gibt es kaum eine plattere und unintelligentere Form der angeblichen Aktualisierung als die plakative Verkündung von gerade im Umlauf befindlichen Schlagwörtern im Text oder von Accessoires im Bühnenbild. Reizwörter und Etiketten anstelle analytischer Durchdringung bezeugen nur ein äußerliches Verständnis von gegenwärtigem Theater.
Dass es diesseits des Kostümtheaters, aber jenseits oberflächlicher Gegenwartssignale eine dritte Möglichkeit gibt, ist nicht bloß Theorie. Als Belege seien die Kleinbürger in der Regie von Karin Beier genannt, die nicht umsonst seit mehr als drei Jahren auf dem Spielplan des Burgtheaters stehen, sowie die jüngsten Tschechow-Inszenierungen von Jürgen Gosch. In beiden Fällen bedarf es keiner aufdringlicher Hinweise, dass es um Menschen und soziale Zustände geht, die in unserer Gesellschaft ihre Entsprechung haben, ohne dass die Herkunft der Stücke aus einem hundert Jahre zurück liegenden Russland verheimlicht würde.
Die Modernität des Textes zeigen
In einem der gescheitesten Bücher zur Arbeit am Theater, die in den vergangenen zehn Jahren erschienen sind, in Frei für den Moment sagt Andrea Breth zur Interviewerin Irene Bazinger über ihre Wiener Emilia Galotti: „Mein Ansatz war nicht, das Stück unbedingt ins Heutige zu zerren, sondern die Modernität des Textes zu zeigen.“ Genau das ist es. Besser kann man es nicht formulieren.
Wer sich nicht als beckmesserischer Sprachpfleger blamieren möchte, muss wohl damit leben, dass zeitgeisterfüllte Journalisten floskelhaft Aktualität beschwören. Er muss es hinnehmen, dass die noch sinnvolle meteorologische Aussage von den „gefühlten Temperaturen“ auf dem Umweg über Harald Schmidt bis in die FAZ vorgedrungen ist, wo man „gefühlte einhundert Verfilmungen der Romane von Jane Austen“ registriert, weil Wörter wie „geschätzte“, „rund“ oder „ungefähr“ aus dem Sprachschatz ihrer Redakteure verschwunden sind.
Er muss es hinnehmen, dass „angesagt“ nicht nur angesagt, sondern auch steigerbar ist, wie in der Stuttgarter Zeitung, wo von einem Altstadtplätzchen behauptet wird, dass es „sich in den vergangenen Jahren zu einem der angesagtesten Viertel der Stadt entwickelt“ habe. Dürfen wir wenigstens im Theater noch daran erinnert werden, dass es in der Sprache und über sie hinaus Geschichte gibt, dass diese die Zukunft im Keim in sich birgt und dass unsere Gegenwart erst im Vergleich mit ihr verständlich wird?
In der Freitag(s)-Kolumne "Linker Haken" beklagt Thomas Rothschild Woche für Woche, dass alles immer schlimmer wird. Manchmal hat er aber auch andere Sorgen. Letzte Woche: Sympathie für den Kriminellen
Thomas Rothschild (geb. 1942) ist ein britisch-österreichischer Literaturwissenschaftler und Träger des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik. Er lebt in der Nähe von Stuttgart.
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