Der gute Nazi: das ist der Typus, den man in Deutschland liebt. Er kann, als Held einer Fiktion, als Objekt einer Dokumentation mit Aufmerksamkeit, Zuneigung und guten Verkaufszahlen rechnen. Von den bösen Nazis hat man die Nase voll. Mit den Opfern kann und will man sich nicht identifizieren. Es wird schon seinen Grund gehabt haben, dass sie zu Opfern wurden. Aber der Nazi, der "dazugehörte" wie die eigenen Eltern und Großeltern und doch sauber und anständig blieb - das ist die unübertreffliche Identifikationsfigur.
Zwar suggeriert der gute Nazi die Frage, warum so viele andere Nazis nicht "gut" waren, wenn es doch offenbar, entgegen den Versionen vom Befehlsnotstand und den unüberwindlichen äußeren Zwängen, möglich war, gut zu sein. Aber man muss ja nicht immer gleich so weit denken. Vielleicht waren sie ja im Grunde alle so wie Oskar Schindler, wären sie zumindest so wie er gewesen, wenn sie sein Geld und seine ökonomische Macht gehabt hätten. Und Hitler war nur ein Betriebsunfall, ein Dämon wahrscheinlich, dem sich große Helden wie Oskar Schindler deutlicher und alle übrigen weniger deutlich, aber gewiss in ihrer Gesinnung, entgegengestellt haben. Der überwältigende Erfolg von Steven Spielbergs Schmonzette Schindlers Liste auch und gerade in Deutschland beruht wohl auf diesem Mechanismus. Dazu kommt allerdings, dass es seit 1939, als er diesen Satz schrieb, kaum einen triftigeren Anlass gegeben hat, sich an Horkheimers Diktum zu erinnern, als eben im Zusammenhang mit Schindlers Liste: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen."
Die Geschichte ist so gut, so willkommen, dass sich niemand die Mühe machte, ihre Richtigkeit zu überprüfen. Niemand, bis auf David M. Crowe. Herausgekommen sind 766 Seiten mit dem Nicht erzählten Bericht seines Lebens, seiner Tätigkeiten während des Krieges und der wahren Geschichte hinter der Liste. Das Buch ist in den USA erschienen. Auf eine deutsche Übersetzung dürfen wir hoffen.
Crowes Wälzer ist nichts weniger als eine Demontage Schindlers. An dessen Verdiensten lässt Crowe keine Zweifel aufkommen. Er zeigt nur, dass man diese in einem sehr viel komplexeren, sehr viel widersprüchlicheren Zusammenhang sehen muss, als es Spielberg und seine belletristische Vorlage von Thomas Keneally tun. Dieses Bestreben, die Zusammenhänge möglichst vollständig und möglichst genau zu erfassen, führen zu einer bisweilen etwas drögen Ausführlichkeit, wobei Crowe nicht vorgibt, Gewissheit zu haben, wo er auf Vermutungen angewiesen ist oder seine scheinbar rhetorischen Fragen nicht beantworten kann. Andererseits sind es nicht zuletzt einige Details, die zu fesseln vermögen.
Crowe rekonstruiert aus unterschiedlichen (Selbst-)Aussagen Oskar Schindlers Arbeit für die deutsche "Abwehr" ab Mitte der dreißiger Jahre im Sudetenland, also in der noch unbesetzten Tschechoslowakei, und später in Krakau. Er betont mehrfach, dass die spätere Rettungsaktion ohne die bei der Abwehr gemachten Erfahrungen und Kontakte nicht möglich gewesen wäre. Ein starkes, wenngleich überraschendes Argument gegen allzu schlichte Erklärungsmuster.
Crowe geht auch in umfangreichen Exkursen dem historischen Hintergrund und den Biographien von Menschen nach, die auf die eine oder andere Art mit Oskar Schindler zu tun hatten, wie etwa Amon Göth, der sozusagen den Gegentypus, den "hässlichen Nazi", repräsentiert. Er war für die Dramaturgie von Spielbergs Film unverzichtbar. Es hat ihn aber tatsächlich gegeben, und seine Rolle im wirklichen Leben war nicht weniger "dramatisch" als jene in Schindlers Liste.
Doch Crowe muss auch manche Legende zerstören. Die Liste, die Spielbergs Film den Titel gab, stammt nicht von Schindler. Und Oskar Schindler war nicht persönlich in Auschwitz, um seine weiblichen Mitarbeiterinnen zurückzuholen. Das sind dramaturgisch wirksame Details und in einem Spielfilm durchaus erlaubt. Problematisch wird es nur, wenn solch ein Spielfilm als dokumentarische "Wahrheit" rezipiert wird und sich daraus, zumal bei jüngeren Menschen, ein Geschichtsbild ableitet.
Problematisch erscheint auch Crowes Darstellung immer dort, wo moralisierend über das Privatleben Schindlers geschrieben wird. Wie Schindler es mit den Frauen und dem Alkohol hielt und ob ihn das nun sympathisch oder unsympathisch macht, hat mit der Geschichte, die politisch interessiert, so gut wie nichts zu tun. Schon gar nicht stimmt die anfangs formulierte Alternative, ob Schindler ein Retter war oder ein Frauenverführer und Alkoholiker. Das zweite schließt das erste nicht aus und entwertet es auch nicht.
Was insbesondere die über tausend "Schindlerjuden" bewegt, ist das Schicksal ihres Retters nach Kriegsende, seine materielle Not und dass er lange nahezu vergessen war. Das lässt sich aus der Zeit heraus erklären, hat aber zu Schuldgefühlen geführt.
Und wer war nun Oskar Schindler wirklich? Das Bild, zu dem David M. Crowe nach sieben Jahren Recherche gelangt ist, zeigt einen Mann mit menschlichen Schwächen, der nicht als einziger, aber entschiedener als andere Fabrikanten seinen jüdischen Arbeitern Essen und Schutz vor Misshandlungen durch die SS gab, weil das für ihn ein gutes Geschäft war, der aber zudem "sein Glück und sein Leben riskierte, um fast 1100 Menschen zu retten".
David M. Crowe: Oskar Schindler. The Untold Account of His Life, Wartime Activities, and the True Story Behind The List. Westview Press. Cambridge, MA, 2004, 766 S., 30.00 $
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