Ich habe damit Probleme

Grass, Israel und der doppelte Robert Über die merkwürdige Unbeständigkeit moralischer Urteilskraft

Man kann der Meinung sein, dass Verstrickungen in den Nationalsozialismus aufgehoben seien durch unmissverständliche Worte und Taten nach 1945. Oder man kann die Ansicht vertreten, dass eine Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation unverzeihlich sei, zumindest Glaubwürdigkeit beschädige, das Recht auf eine moralische Rolle oder ein politisches Amt für alle Tage ausschließe.

Man kann sagen: was zählt, ist die Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation. Oder man kann sagen: es zählen nur Verbrechen, die man individuell begangen hat.

Man kann verlangen, dass Verfehlungen (rechtzeitig und öffentlich) eingestanden werden. Oder man kann, in Übereinstimmung mit Martin Walser, Scham für eine Privatangelegenheit halten und eine Beichte als überflüssig betrachten oder auch für unzureichend.

Man kann erwarten, dass ein Demokrat Schandtaten seines Staates, seines Volkes verurteilt, dass er Widerstand dagegen leistet. Oder man kann die Überzeugung teilen, dass es gilt - right or wrong, it´s my country - seine patriotische Pflicht zu erfüllen.

Man kann verlangen, dass Menschenleben, wo und von wem auch immer sie bedroht werden, zu schützen seien. Oder man kann Situationen ersinnen, in denen Menschenopfer erlaubt sind.

Man kann die parteipolitische Instrumentalisierung beispielsweise des öffentlich-rechtlichen österreichischen Senders ORF für einen Skandal halten. Oder man kann es als normal empfinden, dass man, auf Kosten der Parteilosen, mit einem Parteiticket Einlass und Pfründe beim ORF gefunden hat.

Für all diese Standpunkte mag es gute Argumente geben. Nur eines erscheint als verwerflich: Wenn man flugs mal diesen, mal jenen Standpunkt einnimmt, je nachdem ob derjenige, den es betrifft, einem nahe steht, sympathisch ist, zur eigenen Gruppe gehört oder nicht. Besonders verwerflich aber sind jene, die ihren Standpunkt bedenkenlos wechseln, je nachdem, ob er ihnen Vor- oder Nachteile einbringt.

Martin Walser hat über viele Jahre hinweg Dinge gesagt und geschrieben, denen ich gerne zustimmte. Ich mag ihn bis heute nicht für einen Antisemiten halten, aber es hätte mir gefallen, wenn er mehr Sensibilität, mehr Einfühlung in die Empfindsamkeit von Juden bewiesen hätte.

Walter Jens hat über Jahrzehnte mit Engagement eine aufklärerische Position vertreten, die ich teile. Es hätte mir gefallen, wenn wenigstens er niemals Mitglied der NSDAP gewesen wäre.

Günter Grass hat, gerade seit der deutschen "Wiedervereinigung", Ansichten geäußert, die ich für vernünftig und mutig halte. Es hätte mir gefallen, wenn er nicht, wie sich jetzt herausstellt, in der Waffen-SS gewesen wäre.

Und es gefiele mir, wenn die Juden auf Grund ihrer leidvollen historischen Erfahrung klüger und menschlicher wären als die übrigen Menschen, wenn sie frei wären von jeglicher Anfälligkeit für Nationalismus und Chauvinismus und unnachsichtig gegenüber Verbrechen des Kollektivs, dem sie, nolens volens, selbst angehören.

Aber die Welt ist nicht eingerichtet, um mir zu gefallen. Ich muss mit dieser Erkenntnis leben und mich damit trösten, dass Menschen sich bisweilen ändern. Nur eines macht mir Probleme: die Unbeständigkeit der moralischen Standards, die Bereitschaft vieler Zeitgenossen, Erklärungen und Entschuldigungen zu finden, wenn es Menschen betrifft, die ihnen angenehm sind, und andere für vergleichbare Tatsachen zu verurteilen. Ich habe ein Problem, wenn für Grass oder Jens andere Maßstäbe gelten sollen als, sagen wir, für den früheren Bundespräsidenten Österreichs Kurt Waldheim, nur weil mir Waldheim weniger sympathisch ist als Jens oder Grass.

Ich habe ein Problem, wenn dieselben, die in Österreich gegen eine Koalition der konservativen ÖVP mit der rechten FPÖ aufgeheult haben, eine Koalition von FPÖ und Sozialdemokraten in Kärnten schweigend hinnehmen und die Wahl eines SPÖ-Kandidaten beim ORF mit entscheidender Unterstützung durch die Rechten als Sieg feiern.

Ich habe ein Problem, wenn jemand eine Quote für Frauen in leitenden Positionen für richtig hält, nicht aber eine Quote für Arbeiter- und Ausländerkinder bei der Zulassung zum Studium oder eine Quote für Parteilose bei der Einstellung im öffentlichen Rundfunk, bis der Prozentsatz der Parteilosen an der Gesamtbevölkerung erreicht ist.

Ich habe ein Problem, wenn ein Arbeitsloser, der zwei Zigarettenschachteln stiehlt, oder eine Sozialhilfeempfängerin, die ein paar Mal schwarz gefahren ist, zu Geld- und Haftstrafen verurteilt werden, ein Steuerflüchtling aber, der den Staat um Summen in sechsstelliger Höhe betrügt, nur eine Bewährungsstrafe erhält oder sich die höchsten Repräsentanten des Staates für die illegale Beschäftigung ausländischer Pfleger amnestieren, jedoch unter keinen Umständen von Klassenjustiz reden wollen.

Ich habe ein Problem, wenn eilige Kommentatoren das Eingeständnis von Grass als Vorwand benutzen, um alte Rechnungen zu begleichen. Durfte er im Licht der jetzt bekannt gewordenen biographischen Details nicht gegen die Ehrung von Angehörigen der Waffen-SS durch Kohl und Reagan in Bitburg protestieren? Und wenn da tatsächlich ein Widerspruch zu vermerken wäre - wie sieht es mit dem Vergleich demonstrierender SDS-Studenten mit Nazitruppen aus, der ebenfalls von Grass stammt? Kann man das eine zurückweisen und das andere akzeptieren, ohne der Heuchelei verdächtig zu werden?

Man kann die Tatsache der Mitgliedschaft des 17-jährigen Günter Grass für belanglos halten und sich über die heftigen Reaktionen auf die Enthüllung dieser Tatsache wundern. Oder man kann sie für so bedeutsam, für so beschämend halten, dass sie sechzig Jahre lang verschwiegen werden musste. Beides zusammen geht nicht. Wenn die Einberufung zur Waffen-SS der "Normalfall" war - warum hat Grass so lange dazu geschwiegen, wofür empfindet er dann Scham?

Freilich: es gibt auch die Variante der risikolosen Selbstanklage für vergangene Irrtümer, die einem mehr Vorteile einbringt als Verdrießlichkeiten. Für solchen Gratismut kann ich wenig Sympathie empfinden. Die Unannehmlichkeiten, denen sich Grass jetzt unterziehen muss, sprechen eher für ihn. Blieben sie aus, müsste man ihn einer unlauteren Spekulation verdächtigen. Im Übrigen: Hätte Grass, wie manche mutmaßen, beim heutigen Wissensstand den Literaturnobelpreis nicht erhalten, so spricht das gegen diesen Preis. Er wird, denke ich, für die Qualität des literarischen Werks verliehen, nicht für Ansichten und Charaktereigenschaften. Und die Qualität des Werks bemisst sich nicht an der Biographie.

Man kann sagen, antizionistische Juden seien jüdische Antisemiten, Kronzeugen der Israelfeinde, motiviert von "jüdischem Selbsthass", sie seien Verräter, wie es jene Deutschen und Österreicher waren, die Widerstand gegen die Nationalsozialisten leisteten, aus der Wehrmacht desertierten oder gar in den Armeen der Alliierten gegen ihre Landsleute kämpften. Oder man kann sagen, dass Noam Chomsky, Uri Avnery und einige andere die Ehre und Integrität der Juden gerettet haben wie die deutschen und österreichischen Kämpfer gegen die Nazis die Ehre ihrer Völker. Allzu viele hat es hier wie dort nicht gegeben. Ob das als Argument für den "Patriotismus" und gegen die Menschlichkeit zu gelten habe, muss jeder grundsätzlich für sich entscheiden. Kants kategorischer Imperativ verliert jedenfalls, so oder so, nicht seine normative Kraft. Sie lässt sich nicht statistisch stützen oder widerlegen. Ethische Maximen stehen jenseits der Empirie.

Ich habe ein Problem, wenn Juden die Politik Israels und einen Ministerpräsidenten verteidigen, der, nach den Maßstäben gemessen, mit denen Milosevic beurteilt wurde, vor das Haager Kriegsverbrechertribunal gehört, und Peter Handke diffamiert wird, wenn er, einsam gegen eine massive Propaganda, Gerechtigkeit für Serbien fordert. Haben Österreicher und Deutsche nur gegenüber Juden eine historische Schuld abzutragen und nicht auch gegenüber Serben?

Ich habe auch Probleme, wenn Juden für die mörderische Politik Israels Beschönigungen vorbringen, die sie keinem "Patrioten" eines anderen kriegsführenden Landes nachsähen. Ich habe heftige Probleme, wenn sie unverblümt bekennen, "ihre Leute" hätten mehr Anrecht auf Schutz und Solidarität als libanesische Frauen und Kinder, obwohl sie wissen, dass ihre Verwandten überlebt hätten, wenn mehr Deutsche und Österreicher nicht zwischen "ihren Leuten" und den "Anderen" unterschieden hätten.

Ich habe ein Problem, wenn ein gewisser Robert Schindel, der sich einst mit dem mittlerweile rechts außen angekommenen Günter Maschke um die Führerschaft des österreichischen Maoismus balgte, die frühere Solidarisierung mit den unterdrückten Völkern der Dritten Welt inklusive des palästinensischen zu den größten Dummheiten der Linken zählt. Ich habe ein Problem, wenn dieser Schindel keine Worte der Verteidigung für jene libanesischen Kinder findet, die ganz unmetaphorisch von "seinen Leuten" umgebracht werden, wenn er eine flächendeckende Bombardierung im Libanon damit rechtfertigt, dass das Volk dort Führer dulde, die ihre militärische Infrastruktur inmitten der Zivilbevölkerung verstecken. Für Robert Schindel wollen die Führer der Palästinenser die anderen - Israel - vernichten, "die anderen wollen bloß in sicheren Grenzen leben". Die Zahlen der Opfer auf beiden Seiten sprechen für eine andere Asymmetrie. Aber Robert Schindel plädiert gar nicht für Symmetrie. Er hat sich entschieden: für "meine Leute". Pech für jene, die nicht dazu gehören.

Ich habe ein Problem, wenn eine ORF-Redakteurin, die einst als besonders eifrige Trotzkistin auffiel, heute genau zu wissen vorgibt, dass die Israelis nicht nur ihren Staat, sondern "uns alle" verteidigen - und damit meint sie ausdrücklich nicht nur die Juden. Ich habe ein Problem, wenn für diese Dame mit dem verstaubten Vokabular des Kalten Krieges wieder einmal "alles offenkundig, nichts zweideutig" ist und ihr für das Leid der libanesischen Zivilbevölkerung kein stärkeres Wort einfällt als "zutiefst erschrocken".

Die Bereitschaft, die Untaten der "eigenen Leute" zu entschuldigen, für sie andere Regeln gelten zu lassen als für den Rest der Welt, kurz: der moralische Wertrelativismus, mag sogar nachvollziehbare Gründe nennen. Aber worauf sollen wir uns verlassen, wenn nicht auf die bindende Allgemeingültigkeit moralischer Mindestforderungen? Wie soll das Zusammenleben funktionieren, wenn man sie, nach Lust und Laune, kündigen und außer Kraft setzen darf? Wie wollen wir glaubwürdig bleiben, wenn wir Israels Aggressionen, wenn wir die Mitgliedschaft von Grass in der Waffen-SS bagatellisieren? Ich beneide jeden, der damit kein Problem hat.

Ich habe ein Problem mit der linken Doppelmoral, wie ich ein Problem habe mit einem Fisch, der stinkt, nicht aber mit einem stinkendem Käse. Die rechte Doppelmoral macht mir kein Problem, weil ich sie als selbstverständlich voraussetze wie den Gestank, den mancher Käse nun mal hat. Ein großer Teil der Literatur des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts handelt von der Doppelmoral der Bourgeoisie und der Kirche. Die Linke hatte stets einen anderen Anspruch, und daran muss sie sich messen lassen.

Ich schreibe dies als einer, dem Kurt Waldheim fast ebenso unsympathisch ist wie linke oder rechte Doppelmoral. Und ich stimme Robert Menasses Verkürzung "denken heißt unterscheiden" zu, wenn er glaubhaft versichert, dass er ebenso sorgfältig und nach den gleichen Kriterien unterschiede, wenn Waldheim sein Kollege und Freund und Grass ein österreichischer Politiker wäre. Es geht weder darum, Waldheim zu rehabilitieren, noch darum, Grass anzuklagen, sondern allein darum, verbindliche moralisch-politische Normen zu formulieren und zu etablieren, zum Beispiel in Bezug auf das Schweigen über eigene Verstrickungen. Dabei wären auch Kriterien der Unterscheidung zu benennen, damit sie nicht opportunistisch, ad hoc, aus dem Hut gezaubert oder zum Verschwinden gebracht werden können, je nachdem, ob sie dem eigenen Standpunkt nützen oder schaden.

Robert Schindel, den Die Presse in Österreich - eine bemerkenswerte Fehlleistung - zum heroischen Judenretter Schindler verwandelt und der, ob es sich um Grass handelt oder um Israel, stets genau weiß, was als gut und was als böse zu gelten hat, ist wieder einmal "angewidert vom Aufstand der Tugendbolde". Denn: "Wenn einmal Deutsche die Tugendwächter spielen, wird es ganz unerträglich." Und die Neger stinken? Und die Juden hauen einen übers Ohr? Oskar Maria Graf, der Ödön von Horváth die Freundschaft kündigte, als dieser um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer ansuchte, Ossietzky, Günter Gaus, auch Walter Jens, dem Schindel den Erich-Fried-Preis verdankt, und Grass selbst - alle unerträglich? Man kann sich, wie Erich Fried, als "Tugendbold" für die gequälten Menschen einsetzen oder, wie der Erich-Fried-Preisträger, als bekehrter Tugendverächter für "meine Leute". Geschmackssache.

Nein, das ist natürlich sarkastische Camouflage. Ich für meine Person habe mich, was Israel betrifft, entschieden - für den Verrat. Für mich gilt, was keiner so treffend formuliert hat wie Arthur Schnitzler: "Ich fühle mich mit niemandem solidarisch, weil er zufällig derselben Nation, derselben Rasse, derselben Familie angehört wie ich. Es ist ausschließlich meine Sache, mit wem ich mich verwandt zu fühlen wünsche; ich anerkenne keine angeborene Verpflichtung in dieser Frage." Im Übrigen bilde sich niemand ein, eine antipalästinensische, antiarabische, antiislamische Position wäre mit Antisemitismus nicht vereinbar. Gerade in Österreich ist Chauvinismus universell. Und die Parteinahme für Israel verträgt sich vorzüglich mit der Ablehnung von Juden (und Arabern und Deutschen) im eigenen Land. Wenn Israel das Apartheidregime Südafrikas aktiv unterstützen konnte - warum sollten Rassisten nicht ein rassistisches Israel unterstützen? Dass der Krieg im Libanon nicht nur unmenschlich, sondern auch politisch dumm und militärisch ineffizient war und die Hisbollah gestärkt hat, sei nur am Rande erwähnt.

Ich hoffte, dies alles aus einem objektivierbaren Empfinden heraus geschrieben zu haben in diesem verregneten Spätsommer. Aber natürlich schreibe ich es auch als Jude - mit der gleichen persönlichen Betroffenheit, mit der andere Juden Israel verteidigen. Ich gebe zu, dass ich mich durch die israelische Journalistin kompromittiert fühle, die im Pressecenter der Salzburger Festspiele von der diensthabenden Studentin einen Kaffee verlangt, statt ihn sich, wie andere, selbst am Automaten zu holen, die sich dann nicht dafür bedankt, die am Computer astrologische Kolumnen studiert oder den Platz besetzt hält, um mit einer Kollegin zu plaudern, während andere auf den Internetanschluss warten. Wäre sie Italienerin oder Chinesin, würde ich mich wohl auch ärgern. Aber sie wäre für mich kein Problem.

Die Äußerungen der beiden Roberts und der ORF-Redakteurin, auf die in diesem Beitrag repliziert wird, sind in derTageszeitung Die Presse und in der Österreich-Ausgabe der Zeit erschienen.


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