Die Diskussion darüber, wie eine politische Kunst auszusehen habe, die den Interessen der Arbeiterklasse dient, ist so alt wie die Arbeiterbewegung. Und sie ist so entsetzlich langweilig, weil immer dieselben Argumente vorgebracht werden. Die russischen Futuristen und die Theoretiker des Proletkult haben die Frage in ihren Manifesten und Zeitschriften diskutiert, deutsche Schriftsteller debattierten sie in den Jahren des Nationalsozialismus aus dem Exil heraus, Hanns Eisler und Bertolt Brecht haben sich dazu mehrfach geäußert. Im Grunde stehen sich zwei Positionen gegenüber, die beide ihre eigene Plausibilität besitzen, die aber nicht vereinbar sind: Die eine besagt, dass man sich auf das Verständnis derer einstellen müsse, die man mit der Kunst erreichen und in ihrem Klassenkampf unterstützen wolle - mit dem sekundären Ziel vielleicht, sie zu einem komplexeren Verständnis zu erziehen, aber nicht unter Vorwegnahme einer Bildung, die ihnen bislang vorenthalten wurde. Die andere besagt, dass die künstlerische Machart per se notwendigerweise reaktionär sei wie jeder Versuch, progressive Inhalte in eine traditionelle (bürgerliche) Form zu kleiden; und es sind die überlieferten bürgerlichen Formen, von deren abgesunkener Variante der Geschmack auch der Arbeiter in der Regel geprägt ist.
Nicht die Neuformulierung einer dieser beiden Standpunkte überrascht also, sondern der schamlose Opportunismus derer, die sie äußern. Um 1968, als der herrschende Konsens die These vom Primat der Botschaft predigte, zeugte es von Courage, wenn man auf der veränderten Sicht auf die Wirklichkeit durch eine autonome Kunst beharrte, wie es etwa Luigi Nono oder Helmut Heißenbüttel taten. Die Entstehung und explosive Verbreitung eigener deutschsprachiger Lieder verdankt sich ja nicht unwesentlich der Überzeugung, dass die Musik mangels eindeutiger Semantik keine politischen Aussagen vermitteln könne, dass sie dafür des sprachlichen Textes bedürfe. Die Musik hatte sich diesem Text unterzuordnen, ihm zu dienen, ihn im besten Fall kontrapunktisch zu kommentieren. Auch eine diffizile Komposition wie Krzysztof Pendereckis Klagelied für die Opfer von Hiroshima von 1960 (Threnos - Den Opfern von Hiroshima) vertraut auf die Eindeutigkeit des Titels, um seine politische Dimension erkennen zu lassen.
Wer damals, um 1968, behauptete, gereimte Gedichte seien nicht mehr möglich (als hätte nicht schon Klopstock ungereimt gedichtet), Tonalität - in der E-Musik wie im Jazz - sei überholt, der narrative Filme gehöre endgültig der Vergangenheit an, eckte an und nahm es in Kauf, einer als arrogant diffamierten Minderheit anzugehören (was sich durchaus als karriereschädigend erweisen konnte). Heute wissen wir, dass Wolf Biermanns Deutschland. Ein Wintermärchen mit seinen Heine´schen Reimen weitaus fortschrittlicher war als manches ungereimte Zeug, das Biermann später veröffentlicht hat. Heute wissen wir, dass auch der Free Jazz an Grenzen gestoßen ist, die nicht unbedingt einem reaktionären Komplott entsprangen, und dass Resnais´ Film Letztes Jahr in Marienbad ebenso wie das New American Cinema aus Gründen, die noch zu analysieren wären, eine Episode geblieben ist.
Man kann der Ansicht sein, dass der spätere Jean-Luc Godard "politischer" sei als Ken Loach. Aber die Alternative der jugendlichen Verächter von Loach ist gar nicht Godard, sondern die Computeranimation. Der politische Begriff von Fortschritt, der sich auch und gerade hinter dem ästhetischen Fortschrittsbegriff der Futuristen oder Heißenbüttels verbarg, ist einem technologischen Fortschrittsverständnis gewichen. Dessen Befürworter bewegen sich im Mainstream der herrschenden Ideologie. Ihre Kritik an bescheidenen ästhetischen Anstrengungen der sechziger und siebziger Jahre ist nicht mehr Ausdruck von Mut, sondern von Konformismus und Opportunismus.
Was ist beispielsweise an Techno in der Popmusik politisch? Wenn Techno überhaupt politisch ist, dann eher im Sinne einer Affirmation als einer Subversion. Es bildet eine stumpfsinnig mechanisierte Welt, die entfremdete Fließbandmotorik nur ab, kritisiert sie aber nicht. Politisch war Techno allenfalls in der provokativen Funktion, nicht in der Aussage
Schauen wir aus heutiger Sicht noch einmal zurück. War Bob Dylan mit seiner Klampfe Anfang der sechziger Jahre wirklich weniger progressiv als die Beatles mit elektrischer Gitarre und Synthesizer? Waren die Produktionen der Freien Theater tatsächlich weniger politisch als die exquisiten, um vieles teureren Inszenierungen eines Robert Wilson? Und hat die Bühnenkunst gewonnen, seit die Schauspieler in jeder zweiten Inszenierung hässliche Mikroports im Gesicht tragen? Waren die No-Budget-Filme eines Jonas Mekas hinterwäldlerisch im Vergleich zu den aufwändigen Hollywood-Schinken?
Es bedarf keiner großen Geistesanstrengung, um zu erkennen, dass Theodorakis nicht zur Avantgarde der Komposition im 20. Jahrhundert gehört. Seine politische Bedeutung bestand darin, dass er in den Jahren der Militärjunta seinen Landsleuten im Exil Mut mit seiner folkloristisch gefärbten Musik machte und das Gefühl einer Identität vermittelte. Wer das mit dem tümelnden Volksmusikbetrieb im deutschen Fernsehen verwechselt, ähnelt einem Historiker, der den Nationalismus der Burschenschaften um 1848 mit jenem der Nazis gleichsetzt. Auch der Schönberg-Schüler Hanns Eisler hielt es für richtig, Arbeiterchöre zu leiten und Kampflieder in einer weitgehend konventionellen Kompositionstechnik zu schreiben. Er verfiele heute dem Verdikt verbalradikaler Klugscheißer, die sich niemals fragen, warum Eisler so viel seltener auf Konzertprogrammen aufscheint als seine Mitschüler Webern und Berg.
Man kann den Künsten und ihrem Stellenwert in der Gesellschaft nicht gerecht werden, wenn man nicht historisch und soziologisch denkt - und gegen den Konsens des Zeitgeists. Zugespitzt formuliert: Schönbergs Zwölftonmusik war zu ihrer Zeit und ist heute noch nicht weniger subversiv als der avancierteste Jazz, die avancierteste Rockmusik. Aber ihr Gestus ist bürgerlich-akademisch. In Jazz und Rock drückt sich das Politische eher im Gestus aus als im Material. Der Gestus etwa des Free Jazz und einiger, vom Kommerz allerdings weitgehend gezähmten, Varianten des Rock hingegen ist plebejisch-rebellisch. Zu seinen Faktoren gehören das Unberechenbare, der radikale Angriff gegen jegliches Ordnungsprinzip - und darin ist der Free Jazz der Zwölftonmusik gerade entgegengesetzt.
Mittlerweile ist der rebellische Gestus erfolgreich diszipliniert worden, der Ehrgeiz, die Unterprivilegierten in der ihnen verständlichen Sprache anzusprechen, wurde der Kitschindustrie überlassen. Geblieben ist eine hochnäsige Rückkehr zum alten Konzept des Materialfortschritts, das meist nur noch technischen Fortschritt meint. Die Intellektuellen heulen mit den Wölfen. Sie haben sich auf die Seite der Raubtiere geschlagen. Ob man die Bestechlichkeit von Managern bagatellisiert oder sich von der Industrie diktieren lässt, worin unsre Zukunft besteht - ist da ein großer Unterschied?
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