Neulich, bei Räucherlachs und Ravioli, kam das Gespräch auf die Frage, ob es noch Politiker mit Charisma gebe. Es fielen ein paar Namen, aber Einigkeit war nicht zu erzielen. Das kommt daher, dass jeder insgeheim seine eigene Vorstellung davon hatte, was Charisma sei.
Wenn es darum geht, ob die Rialtobrücke in Venedig oder in Regensburg zu finden ist, bedarf es keiner großen Auseinandersetzungen: das Bauwerk wie die beiden Städte sind übereinstimmend identifizierbar. Aber „Charisma“ ist nicht verbindlich definiert. Am einfachsten wäre es, man erklärte, Charisma sei, was Angela Merkel oder Berlusconi oder Barack Obama ausstrahle. Danach könnte man unangefochten behaupten, Angela Merkel oder Berlusconi oder Barack Obama verfügten über Charisma. So aber sind Debatten wie jene beim Räucherlachs Scheindebatten.
Ein großer Teil der Auseinandersetzungen im Alltag und auch in der Wissenschaft sind solch ein Schwindel: sie tun, als ginge es um ontologische Fragen, wo es sich in Wahrheit um terminologische Fragen handelt. Sie tun, als ginge es darum zu bestimmen, was ist, wo es nur darum geht, wie man es nennen will. Wenn einer in einer Ausstellung sagt, „das ist keine Kunst“, dann meint er: „ich will das nicht als Kunst bezeichnen“. Ob man Die Fledermaus als Oper oder als Operette akzeptiert, ist nicht eine Frage der Wahrheitserkenntnis, sondern der Definition.
Bloß Namen
Man kann einen Menschen, der gegen bestehende Verhältnisse rebelliert, „krank“ nennen – er muss es deshalb nicht sein. Was als gesund und krank gilt, ist nicht objektivierbar, und bekanntlich haben sich die Auffassungen darüber in der Geschichte mehrfach geändert. Die Nazis sagten von Künstlern, die sie aus verschiedenen absurden Gründen ablehnten, nicht etwa, sie wollten sie als „entartet“ bezeichnen (was letzten Endes, so unsympathisch sie einem sein mag, eine individuelle Entscheidung wäre), sondern sie sagten, diese Künstler seien entartet. Sie suggerierten eine Wahrheit, wo es sich um eine Benennung handelte. Viele Wissenschaftler geben einfach einer bekannten Tatsache einen neuen Namen und behaupten dann, eine neue Einsicht zutage gefördert zu haben.
Terminologische Bestimmungen aber sind bekanntlich willkürlich. Sie beruhen auf Konventionen, die von mehr oder weniger Mitgliedern einer Kommunikationsgemeinschaft akzeptiert werden und der Verständigung dienen. Wir glauben, zu wissen, was jemand meint, wenn er von „Milch“, „Kopfschmerzen“ oder „Europa“ spricht, und wenn jemand beschlösse, mit „Milch“ jedes weiße Getränk, mit „Kopfschmerzen“ jede Veränderung oberhalb des Halses oder mit „Europa“ das europäische Festland zu meinen (wie es ja in Großbritannien gelegentlich geschieht), dann ließe sich diese Entscheidung nicht als „falsch“, sondern nur als unpraktikabel qualifizieren: sie führte zu Missverständnissen. Jedenfalls so lange, wie die Kommunikationsgemeinschaft sich nicht auf diese neuen Definitionen geeinigt hat. Das kann explizit oder allmählich, durch Gewöhnung passieren. Wir haben uns mittlerweile damit abgefunden, dass nicht nur ein Mensch, sondern auch Kachelmanns Wetter „genial“ sein kann.
Heiße Luft
Viele Plattitüden konnten vorübergehend zur Mode werden, weil Berufsschwätzer terminologisches Brimborium und pseudotheoretisches Imponiergehabe mit Wissenserweiterung verwechseln. Das meiste ist heiße Luft für die Saison, vergänglich und belanglos wie die weißen Socken oder der Sommerhit von Spaniens Badestränden. Hat sich irgendeine von den Geistesgrößen der vergangenen Jahre in die Geschichte eingeschrieben wie einige Jahrzehnte zuvor Sartre oder Adorno oder Bertrand Russel? Sind die Sloterdijks und die Bolz’ wirklich die legitimen Nachfolger von Popper oder Gadamer? Über Noam Chomskys linguistische Theorie konnte man noch Jahrzehnte lang streiten. Die Theorien der heutigen Modeintellektuellen sind schon fast vergessen, ehe sie artikuliert wurden. Und sie bleiben – das mag ja beruhigen – absolut folgenlos.
Es gibt, in der Wissenschaft wie im Alltag, in den Medien, in der Politik, sinnvolle und weniger sinnvolle, erfolgreiche und schnell vergessene, hilfreiche und ideologisch bedenkliche Definitionen und Terminologien. So oder so geht es um Namen, die nach dem berühmten Zitat „Schall und Rauch“ sind, nicht um Wahrheiten. Ob Bruno Kreisky der letzte europäische Politiker mit Charisma war, ist nicht entscheidbar. Jedenfalls nicht mit der überprüfbaren Gewissheit, mit der sich sagen lässt, dass die Rialtobrücke nicht in Regensburg steht.
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