"Man hat sich wohl mit dem dreijährigen Bachelor übernommen", gesteht der Rektor der Universität Konstanz Gerhart von Graevenitz. Baden-Württembergs Wissenschaftsminister Peter Frankenberg zuckt mit den Schultern: „Niemand hat einen dreijährigen Bachelor vorgeschrieben.“ Und Bundesforschungsministerin Annette Schavan gibt sich konziliant: „Es kann auch erforderlich sein, statt sechs, sieben oder acht Semester im Bachelor-Studiengang zu studieren."
Seit Jahren habe ich meiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass die unter dem Vorwand europäischer Vereinheitlichung von Sozialdemokraten ebenso wie von Konservativen betriebene Einführung des Bakkalaureats (des englischen Bachelors) bei gleichzeitiger Zulassung von Privatuniversitäten eine Verstärkung des Zweiklassensystems in der Bildung bedeute: ein rasches Discount-Studium für die Massen und eine bevorzugte Ausbildung für zahlungskräftige Eliten ich – so auch in meinem 2001 erschienenen Buch Von Einem, der auszog das Fürchten zu lehren. Streitschrift wider einen exemplarischen Karrierepolitiker.
Inzwischen hat sich Caspar Einem wie so mancher seiner deutschen Ministerkollegen aus dem Staub der Politik gemacht, um sich am Tisch der Industrie zu erquicken. Zurückgelassen hat er die Wüste. Den Schaden, den er angerichtet hat, müssen die Studentinnen und Studenten (auf Neudeutsch: die Studierenden) ausbaden – was, um im Bild zu bleiben, in einer Wüste eine verzweifelte Aufgabe darstellt. Vielleicht sollte man lieber sagen: Der Dilettant als Minister lässt seine Opfer verdursten.
Anfang 1999 schrieb ich unter anderem: An den Hochschulen findet ein massiver Sozialabbau statt. Die anhaltende Diskussion über eine Studienzeitverkürzung richtet bereits Schaden an, ehe die entsprechenden Gesetze beschlossen wurden. Denn sie suggeriert der Öffentlichkeit, Bildung könne ohne Verlust in kürzerer Zeit (also billiger) als bisher vermittelt werden. Dabei sagt einem der gesunde Menschenverstand, dass der immer größer werdende Bestand an Erkenntnissen und Verfahren in sämtlichen Disziplinen zu seiner Erlernung nicht weniger, sondern mehr Zeit benötigt als früher.
Unzureichend ausgebildet
Die Anwendung von in der industriellen Produktion üblichen Wirtschaftlichkeitsüberlegungen erweist sich in der Ausbildung als inadäquat. Wer an der Bildung spart, schadet über kurz oder lang der Gesellschaft und der gesamten Bevölkerung. Wer möchte wirklich von einem schlecht ausgebildeten Arzt behandelt werden? Wer möchte seine Kinder zu einem Lehrer in die Schule schicken, der seinerseits unzureichend ausgebildet ist?
Unbemerkt von der Öffentlichkeit ist die Studienzeitverkürzung längst Wirklichkeit geworden. Machen wir die Rechnung auf. Von den 52 Wochen des Jahres sind 29 Wochen - 16 im Wintersemester und 13 im Sommersemester - Vorlesungszeit, in der Seminare, Übungen, Vorlesungen stattfinden. Die übrigen 23 Wochen des Jahres sind natürlich keineswegs Ferien. In dieser sogenannten vorlesungsfreien Zeit sollen sich Studenten auf die Lehrveranstaltungen des kommenden Semesters vorbereiten, das vergangene Semester vertiefen, sich im Selbststudium weiterbilden. So war das auch traditionell. Zwei oder drei oder meinetwegen sechs Wochen durfte man sich Urlaub gönnen wie andere arbeitende Menschen auch. Diese zwei bis sechs Wochen benützten viele Studenten, um zu jobben, sich etwas Geld zu verdienen für die Erfüllung materieller Wünsche.
Mittlerweile ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass die gesamten 23 Wochen der vorlesungsfreien Zeit und oft auch während der Vorlesungszeit gejobbt wird. Manchmal, um sich ein Auto leisten zu können, über dessen Notwendigkeit sich diskutieren ließe. Häufiger aber, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, weil es mittlerweile zu wenig Stipendien gibt und diese für die Bezahlung von - meist kriminell hoher - Miete und Essen nicht ausreichen.
So ist das Studium unter der Hand zur Nebenbeschäftigung geworden. Studenten haben, genötigt, kaum mehr das Bewusstsein, dass Studieren ein Beruf, ein Full-time-Job ist, nein: sein müsste, der, soll er seinen Sinn erfüllen, den gleichen Einsatz von Zeit und Energie benötigt wie andere Berufe auch.
Statt also über Studienzeitverkürzung zu reden, sollte man endlich darüber diskutieren, wie man die für das Studium zur Verfügung stehende Zeit wieder auf das nötige Maß anheben kann. Das bedeutet: die Gesellschaft muss daran interessiert sein, dass Studenten sich ihrem Studium mit voller Kraft widmen können, dass ihr Unterhalt durch Stipendien gesichert ist. Sie müssen wieder die materiellen Grundlagen und die ungestörte Atmosphäre haben, um das Studium nicht auf den Erwerb der Pflichtscheine zu reduzieren, sondern über den Zaun ihres eigentlichen Faches hinausblicken zu können, sich universell zu bilden, Widerstand zu leisten gegen den zunehmenden Trend einer Analphabetisierung, auch am kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Wachsende Kluft
Die zynischste Antwort auf das Problem ist der Vorschlag, es sollten halt nur jene studieren, die es sich leisten können. Seit Jahren ist der Anteil von Kindern aus Arbeiterfamilien – oder für jene, die abwinken, es gebe doch gar keine Arbeiter mehr: deren Eltern keine Akademiker sind – an den Hochschulen wieder rückläufig. Die Emanzipationsbewegung hatte sie nur kurze Zeit im Visier. Stattdessen preist man heute den Elitegedanken und gründet Privatuniversitäten für einige wenige. So spiegelt die Situation an den Hochschulen die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung der sozialen Kälte und der wachsenden Kluft zwischen Privilegierten und Benachteiligten.
Dies also meine Einschätzung vor mehr als zehn Jahren. Heute wird sie von den zuständigen Bildungspolitikern und ihren Kollaborateuren an den Hochschulen, die den Bachelor nicht aus Versehen, sondern mit einem wohldurchdachten Kalkül gegen jeden Einspruch durchgedrückt haben, bestätigt. Wer zieht sie für ihren Dilettantismus oder, schlimmer, für ihre bewusste Zerstörung des Bildungssystems zur Verantwortung? Wer schafft jenen Genugtuung, die vor dieser Entwicklung gewarnt haben und dafür gerügt und unter Druck gesetzt wurden? Als ich mich, damals an einer Universität angestellt, wegen der genannten Bedenken weigern wollte, in einer Kommission für das Bachelor-Studium mitzuarbeiten, erklärte mir ein Professor, dann müsste ich das eben auf Dienstanweisung tun. Der Bachelor war von Anfang an Murks, und man konnte es wissen. Wer heute so tut, als wäre das eine neue Erkenntnis, ist ein Lügner.
Thomas Rothschild
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