Am 1. April (nach dem gregorianischen Kalender) jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag eines Schriftstellers, der gleich für drei literarische Gattungen maßstabbildende Werke geschaffen hat. Wenn ein Gigant wie Dostojewski einmal sagte, „Wir alle sind aus Gogols Mantel hervorgegangen“, dann hat das Gewicht.
Und in der Tat: Gogols Erzählung aus dem Jahr 1842 vereint wie keine zweite Elemente der Romantik und des Realismus in sich, sie hat für die Literatur des sozialen Mitleids wie für die phantastische Groteske Modellfunktion. Sie steht am Anfang zweier Ahnenreihen, die sich weit über die Nationalliteratur hinaus erstreckt haben und bis in die Gegenwart reichen. Aber auch für das Drama im Allgemeinen und die Komödie in Besonderen hat Gogol mit seinem Revisor ein Exemplar kreiert, das in den 173 Jahren seit seiner Uraufführung kaum je ein- und niemals überholt wurde.
Toten Seelen
Schließlich hat Nikolaj Gogol mit den Toten Seelen zur Gattung des komischen Romans einen Beitrag geleistet, dessen Bedeutung außerhalb des russischen Sprachraums nie in seiner vollen Bedeutung gewürdigt wurde.
Die Toten Seelen hatte unter den Handicaps zu leiden, die auch anderen bedeutenden Werken der Weltliteratur jenen Platz im öffentlichen Bewusstsein vorenthielten, den sie, mit literarischen Kriterien beurteilt, einnehmen müssten. Der große Umfang schreckt viele vor der Lektüre ab; die gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe sind dem heutigen westlichen Leser nicht nur zeitlich, sondern auch geografisch so weit entfernt, dass ihm selbst wirkliche Dinge wie skurrile Einfälle erscheinen müssen; und nicht zuletzt: die Übersetzungen vermögen nur bedingt zu befriedigen, können das Original eines sprachlichen Meisterwerks nicht ersetzen.
Dass mehrfach der Versuch unternommen wurde, Gogols „Poem“, wie es der Autor in einer russischen Tradition nennt, ins Deutsche zu übertragen, belegt die Herausforderung und zugleich das Ungenügen an den vorausgegangenen Anstrengungen. Eine nunmehr neue Übersetzung, in bibliophiler Ausstattung soll also Anlass sein, die Ergebnisse der Mühen zu vergleichen.
Tote Seelen, tote Menschen
Es fängt gleich mit dem Titel an. Im Russischen gibt es keinen Artikel. Vera Bischitzky hat sich, wie vor ihr Sigismund von Radecki sowie Elisabeth und Wladimir Wonsiatsky, aber im Gegensatz zur gebräuchlichen Fassung, für die artikellose Möglichkeit Tote Seelen entschieden, und sie begründet das in ihren Anmerkungen so: „Bei Gogols Titel handelt es sich um ‚tote Seelen’ in einem doppelten Sinn – zum einen um die gestorbenen, also tatsächlich ‚toten’ Seelen, d.h. Leibeigenen … zum anderen die ins Symbolische erweiterte Bedeutung der toten, gefühllosen Menschen, die den Kosmos des ‚Poems’ bevölkern.“
Überhaupt sind Bischitzkys knappe Ausführungen zu ihrer Neuübersetzung ein kleiner übersetzungstheoretischer und –praktischer Essay, der erhellende Einsichten vermittelt. Aber überprüfen wir ihre Entscheidungen an einem einzigen konkreten Beispiel.
Im zweiten Kapitel unterbricht der Erzähler einen längeren Dialog mit einem Satz, der bei Vera Bischitzky so lautet: „Der Chronist der vorliegenden Ereignisse würde große Vorwürfe auf sich ziehen, ließe er unerwähnt, dass den Gast nach diesen von Manilow geäußerten Worten großes Behagen überkam.“
In der ersten Übersetzung der Toten Seelen von Philipp Löbenstein, die 1846, vier Jahre nach dem Original erschien, heißt es: „Der Geschichtsschreiber dieser wahrhaften Begebenheiten verdiente die größten Vorwürfe, wenn er es zu bemerken unterließe, dass die Freude unsern Helden bei diesen Worten so sehr übermannte, dass er trotz seiner sonstigen Gesetztheit und Ueberlegung fast einen Bocksprung machte, was bei diesem Thiere, wie bekannt, nur bei den stärksten Ausbrüchen der Lust der Fall ist.“ Löbenstein hat hier den folgenden Satz mit dem zur Diskussion stehenden zu einem Satz vereint.
Genauigkeit gegen Eleganz
In der Übersetzung von Sigismund v. Radecki von 1938 klingt das so: „Man könnte dem Historiker der vorliegenden Begebenheiten mit Recht einen Vorwurf machen, wenn er sich nun den Hinweis darauf entgehen ließe, dass den Gast jetzt eine hohe Freude überwältigte, als er Maniloff so sprechen hörte.“ Franz Xaver Schaffgotsch, der zeitweilige Geliebte von Milena Jesenská, entschied sich in den fünfziger Jahren für folgende Übertragung: „Den schärfsten Tadel verdiente der Chronist gegebener Ereignisse, wenn er es unterließe zu berichten, welches Entzücken nach diesen Worten Manilows den Gast überkam“, und er fügt nach einem Doppelpunkt den nächsten Satz gleich an. Elisabeth und Wladimir Wonsiatsky formulieren 1951: „Der Chronist der hier geschilderten Begebenheiten verdiente die größten Vorwürfe, wenn er es zu bemerken unterließe, dass die Freude unseren Helden bei diesen von Manilow ausgesprochenen Worten völlig übermannte.“
Fred Ottows mehrfach veröffentlichte (wenn ich es recht sehe: ebenfalls in den fünfziger Jahren verfasste) Übersetzung lautet: „Der Chronist, der über die hier mitgeteilten Begebenheiten unterrichtet, würde sich ohne Zweifel den schärfsten Tadel zuziehen, wenn er an dieser Stelle zu bemerken unterließe, dass diese Worte Manilows den Gast in helles Entzücken versetzten.“ Michael Pfeiffers in der renommierten Bibliothek der Weltliteratur im Aufbau Verlag erschienene Version von 1965 lautet: „Man müsste dem Chronisten der hier geschilderten Vorgänge einen großen Vorwurf machen, wenn er es unterließe, zu erwähnen, dass sich der Gast nach diesen Worten Manilows kaum zu lassen wusste.“ Wolfgang Kasack hat in einer eben bei Reclam neu herausgegebenen Übersetzung 1988 so entschieden: „Ein großer Vorwurf wäre dem Chronisten der dargelegten Ereignisse zu machen, wenn er es versäumte zu erwähnen, dass nach diesen von Manilow ausgesprochenen Worten den Gast das Glücksgefühl einfach übermannte.“
Ziehen wir nun das Original zu Rate. Es wird sofort ersichtlich, dass sich Vera Bischitzky um größte Einfachheit bemüht hat. Diesem Entschluss opfert sie die Wortstellung des Originals. Dort ist in der Tat das Objekt – der Vorwurf, der übrigens bei Gogol im Singular steht – dem Subjekt – dem Chronisten – vorangestellt. Auch schreibt Gogol tatsächlich „unterließ zu sagen“. Wenn Bischitzky dafür das Wort „unerwähnt“ einsetzt, so tauscht sie, worüber sich streiten lässt, Wort-für-Wort-Genauigkeit gegen Eleganz ein.
Freude oder Entzücken?
Ein fast unlösbares Problem besteht darin, dass Gogol bei der Zuteilung des Vorwurfs kein Verb verwendet. Wörtlich müsste es heißen: „Ein großer Vorwurf wäre dem Chronisten …“ Ob er ihn auf sich zieht, verdient, ob man ihn ihm machen soll, muss der Übersetzer entscheiden. Es ist in der Tat ein „Behagen“, und weder eine „Freude“, noch ein „Entzücken“, was den Gast „überkam“ oder „überwältigte“ (aber gewiss nicht „übermannte“). Über Kasacks „Glücksgefühl“ lässt sich reden. „Vorwurf“ oder „Tadel“ sind gleichermaßen möglich, aber er ist definitiv „groß“ und weder der „größte“, noch „scharf“, noch, wie bei Radecki, unattribuiert. Der mögliche Vorwurf wird bei Gogol nicht bewertet. „Mit Recht“ ist Radeckis Meinung. Im Übrigen hat bei Gogol auch das Behagen (oder die Freude oder das Entzücken) kein Attribut. Hat sich selbst Vera Bischitzky vor dieser Kargheit gefürchtet? Völlig aus der Luft gegriffen sind Eliasbergs „wohl“, Ottows „ohne Zweifel“ und „an dieser Stelle“, Kasacks „einfach“ wie auch Löbensteins Attribut „wahrhaft“, und wenn er und die Wonsiatskys aus dem schlichten „Gast“ „unseren Helden“ machen, dann beginnen sie zu dichten, statt zu übersetzen. Das hat sich Vera Bischitzky zugunsten maximaler Genauigkeit zum Glück verkniffen.
Die vollkommene Übersetzung gibt es nicht. Aber es gibt bessere und schlechtere Übersetzungen. Der Vergleich eines einzigen Satzes mag es belegen. Man muss nicht einmal Russisch können, um das zu bemerken. Zugespitzt formuliert: Wer die Toten Seelen auf Deutsch liest, liest nicht Gogol, sondern Löbenstein, Eliasberg oder eben Bischitzky. Die neue Übertragung hat nicht nur den beträchtlichen Vorzug der Vermeidung von holprigen Formulierungen und ärgerlichen Besserwissereien, mit denen frühere Übersetzer den Autor korrigieren zu müssen glaubten – Vera Bischitzky hat sich zudem die Mühe umfangreicher Recherchen gemacht, wo bei Gogol von Dingen die Rede ist, die aus dem modernen russischen Wortschatz und aus der Realität verschwunden sind. Gegen den zutreffenden Hinweis auf die lautmalerische Qualität von Gogols Sprache insistiert sie auf einer begrifflichen Differenzierung und findet, ganz unschematisch, überraschende Möglichkeiten, sich dem Original mit deutschen Äquivalenten anzunähern.
Tote SeelenNikolai Gogol, Aus dem Russischen neu übersetzt von Vera Bischitzky. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2009, 515 S., 89
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