Die Geschichte belehrt uns über grandiose Fehlurteile, und manche vermeintliche Größe fiel früher oder später einer Korrektur zum Opfer, um alsbald in Vergessenheit zu geraten. Aber eine derart krasse und langlebige Überschätzung ist nicht alltäglich. Das Phänomen Reich-Ranicki verlangt nach einer besonderen Erklärung. Dass die Massen vor dem Fernseher mangels Vergleichsmöglichkeiten seine Plaudereien über Bücher für Literaturkritik halten, ist zwar bedauerlich, aber nachvollziehbar. Nicht verständlich scheint hingegen, dass so viele Literaturkenner, die genau wissen, welch ein mittelmäßiger Kritiker Reich-Ranicki ist, wie hanebüchen seine Urteile oft sind, das Spiel mitspielen und in der Öffentl
ntlichkeit so tun, als wäre er nicht bloß ein Medienereignis, sondern eine Autorität, deren Ansichten im ernsthaften Diskurs über Literatur zählen.Um nicht lediglich zu wiederholen, was diese Leute vom Fach hinter vorgehaltener Hand sehr pauschal äußern, wenn der Name des Mannes fällt, der unwidersprochen und allenfalls halb ironisch als "Literaturpapst" figuriert, sei einmal die Probe aufs Exempel gemacht. Die Nachfolgesendung zum Literarischen Quartett heißt Reich-Ranicki Solo und gibt dem Showman Gelegenheit, jeweils eine halbe Stunde lang ohne Unterbrechung, allein, aber nicht einsam, vom Katheder herab über alles zu dozieren, was ihm so gerade einfällt.In seiner jüngsten Sendung waren das unter anderem grundsätzliche Erwägungen zum Wesen der Musikkritik, die "sehr schwer" zu machen sei. Sie operiere, im Gegensatz zur Literaturkritik, mit nicht nachprüfbaren Impressionen und Thesen. Als Beleg für diese kühne Behauptung zitiert Reich-Ranicki einen Artikel von Eleonore Büning, in welchem diese erstaunt feststellt, dass ein Text, in dem man einst den Unterschied zwischen Karajan und Furtwängler beschrieb, wortwörtlich auch für die Kennzeichnung des Unterschieds zwischen Simon Rattle und Claudio Abbado passte. Was beweist das? Nicht mehr, als dass es Unterschiede gibt, die sich in ähnlicher Weise wiederholen. Wenn jemand behauptet, es existierten in der Literaturgeschichte sich wiederholende und daher miteinander vergleichbare Relationen - bedeutete dies eine Bankrotterklärung der Literaturkritik?Versucht man, die Bedeutung seiner sonderbaren Gegenüberstellung von Sexualität auf der Bühne und ("o lala") in der Musik zu entschlüsseln, so meint Reich-Ranicki offenbar die triviale Tatsache, dass Musik weniger semantisch eindeutig ist als Sprache. Wenn Literaturkritik sich freilich nicht darauf beschränkt, den Inhalt (also eben die semantische Dimension) eines Textes wiederzugeben, sondern beginnt, das eigentlich Literarische, die Machart zu analysieren, stellen sich ihr exakt die gleichen Probleme wie der Musikkritik, und diese ist ebenso fähig, diese Probleme zu bewältigen, wie die Literaturkritik. Hier wie dort gibt es allerdings nur wenige, die das vorbildlich meistern. Und man fragt sich, was für ein Bild Reich-Ranicki von sich selbst hat, wenn just er beklagt, es werde "zuviel Inhaltsangabe in unseren Buchbesprechungen gemacht". Was bietet er stattdessen an? Die Versicherung, dass Philip Roth "ein fabelhaftes Buch", "sehr schön, sehr nachdenklich erzählt". Da kann die Musikkritik nur vor Neid erblassen.Dann gibt der Solist bekannt, wer, wenn es nach seiner Erwartung und seiner Hoffnung geht, den Nobelpreis für Literatur erhalten müsse, nämlich Philip Roth oder John Updike. Reich-Ranicki-Beobachter dürften da wenig Neues erfahren haben. Man fragt sich, ob Martin Walser in seinem gescholtenen Tod eines Kritikers Reich-Ranicki karikiert hat, oder ob dieser Walsers Romanfigur imitiert.Auch als Filmkritiker outete sich Reich-Ranicki in dieser Sendung. Er gratulierte Michael Kehlmann zum 75. Geburtstag. Dieser sei "ein fabelhafter Filmregisseur", und sein Radetzkymarsch sei ein "doller Film". Michael Kehlmann ist ein solider Fernsehregisseur, der sich mit Literaturverfilmungen einen Namen gemacht hat. Sein Kapital, gerade auch im Radetzkymarsch, ist die große Zahl hervorragender und zu ihrer Zeit sehr populärer Schauspieler, die er auch für Nebenrollen beanspruchen konnte. Aber gerade der Radetzkymarsch wurde seit Kehlmanns Adaption ein zweites Mal, von seinem Landsmann Axel Corti, verfilmt, und zwar sowohl filmisch wie auch in seiner Adäquatheit der Romanvorlage gegenüber der vorangegangenen Version um Klassen überlegen, so dass Reich-Ranicki Kehlmann mit der Erwähnung just dieses Werks keinen Gefallen erwiesen hat. Anders formuliert: entweder er kennt die neue Verfilmung nicht, oder es fehlen ihm die Maßstäbe, oder aber er ist bereit, auf diese zu verzichten, wo es gilt, einem Freund zu gratulieren.Der Mangel an Kriterien, seine Spracharmut bei der Beschreibung von literarischen (oder musikalischen oder filmischen) Fakten, sein Unverständnis für die Moderne diesseits des Realismus hindern Reich-Ranicki nicht, apodiktische Urteile abzugeben. "Ein Genie dieser Sartre, und ein Wirrkopf sondergleichen." Wer derlei daherredet, müsste schon selbst ein Genie sein. Wirrkopf allein tut es nicht. Und just der soll den Schriftstellern vorschreiben, was ihre "Pflicht" (!) sei, nämlich die "Darstellung der heutigen Welt". Reich-Ranicki möchte Sartre nicht im Amt eines Ministers sehen. Wir möchten unsererseits niemanden als Minister, der Künstlern eine "Pflicht" auferlegt. Genau genommen wollen wir so jemanden auch nicht als Kritiker.
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