Werbung um Nebenbuhler

Lebendige Organismen Zum Tod von Walter Höllerer

Die Germanistik hat sich in der vergangenen Jahren radikal verändert. In dem Maße, in dem sie als akademische Disziplin an Bedeutung und Ansehen verloren hat, weil auch ihr Gegenstand, Sprache und Literatur, in der Gesellschaft kaum noch Beachtung erfahren, suchen ihre Repräsentanten, die Hochschullehrer, eine Öffentlichkeit außerhalb der Wissenschaftsinstitutionen, in Zeitungen, Zeitschriften, in Rundfunk und Fernsehen, bei Podiumsdiskussionen und kulturellen Events.

Das war nicht immer so. Noch vor wenigen Jahren war das Verhältnis der Universitätsgermanistik zu Formen der Popularisierung und der medialen Verwertung von Verachtung bestimmt. Die Zahl der Fußnoten und die Unverständlichkeit eines funktionslosen Fachjargons galten als Ausweis der Wissenschaftlichkeit, und kein Vorwurf an eine Dissertation wog schwerer als jener des Feuilletonismus. Nicht die Interessen von Lesern, sondern die "weißen Flecken" auf der Landkarte der Forschung entschieden, womit sich Akademiker über viele Jahre beschäftigten, um eine weitere in Bibliotheken verstaubende Habilschrift oder einen Beitrag in einer kaum gelesenen Zeitschrift zu publizieren.

Inmitten dieses von Standesdünkeln und Imponiergehabe geprägten Miefs gab es einen, der sich den Konventionen entzog und entscheidend beitrug zu einem moderneren und demokratischeren Verständnis des Fachs: Walter Höllerer. Aus seinem "Stall" sind einige der anregendsten und originellsten Literaturwissenschaftler der nächsten Generation hervorgegangen, und auch eine Reihe bekannter Schriftsteller hat bei ihm studiert. Es gibt Signale, die seine Sonderstellung frühzeitig charakterisierten: dass er, der Geisteswissenschaftler und Literat, an einer Technischen, nicht einer traditionellen Universität lehrte; dass er eine Zeitschrift gründete, die keinen griechischen oder lateinischen Namen trug, sondern programmatisch Sprache im technischen Zeitalter benannt wurde, aber eben auch, und das ist noch ungewöhnlicher, die wegweisende Literaturzeitschrift Akzente; dass er die Nähe zu den zeitgenössischen Schriftstellern suchte und von diesen nicht als geduldeter Kritiker, sondern als Kollege wahrgenommen wurde; dass er mit der Gründung des Literarischen Colloquiums in Berlin, dessen 40. Geburtstag im Freitag der vergangenen Woche gewürdigt wurde, ein Modell für vielfältige literarische Kommunikation realisiert hat, das seither häufig kopiert, aber kaum je eingeholt wurde.

Texte zu analysieren und interpretieren, ist das Geschäft des Germanisten. Wenn man diese Tätigkeit nicht bloß als Geschäft im engeren Sinn des Wortes begreift und - was unter Germanisten keineswegs selbstverständlich ist - die Literatur auch noch liebt, dann wird man, anders als im zwischenmenschlichen erotischen Leben, bemüht sein, Nebenbuhler anzuwerben. Beides hat Walter Höllerer betrieben. Aber darüber hinaus hat er auch auf die Produktion von Literatur eingewirkt. Sein Plädoyer für das lange Gedicht hat Autoren dazu angeregt, sich dieser Gattung zuzuwenden. Mag sein, dass Höllerer nur befördert hat, was, wie man so schön sagt, "in der Luft lag". Seit der Antike haben sich Beschreibung und Vorschrift, Bestandsaufnahme und Programm wechselseitig beeinflusst, nie waren sie streng von einander zu trennen. Heute gibt es auf der einen Seite an vielen Universitäten eine unverändert neopositivistische Faktenhuberei, die auf Gedanken verzichtet und sie auf Funde und Interviews beschränkt, die jeder Archivar ertragreicher auftreibt, und auf der anderen Seite eine Literaturkritik, die unter der Hand Normen und Regeln deklariert ("ein Roman von mehr als 300 Seiten ist heute nicht mehr möglich"), als seien sie Naturgesetze. Mit beiden hatte Walter Höllerer wenig im Sinn. Für ihn waren Literatur und Wissenschaft lebendige Organismen, denen er sich aussetzte, indem er sie und sich durch sie veränderte.

Walter Höllerer gehörte einer Professorengeneration an, die noch Individuen hervorbrachte, deretwegen man die Universität wechselte. Man verzichtete auf Muttis Sonntagsbraten, um bei Adorno in Frankfurt, bei Bloch, Jens oder Moltmann in Tübingen, bei Bense in Stuttgart, bei Abendroth in Marburg oder eben bei Höllerer in Berlin zu studieren. All die genannten Persönlichkeiten waren das Gegenteil jenes Typus, den man um 1968 mit gutem Grund "Fachidioten" nannte. Wer bei ihnen Vorlesungen gehört, Seminare besucht hat, wurde dadurch für sein Leben geprägt, schwärmt heute noch in einer Melodie davon, die den Zuhörer nur neidisch machen kann.

Doppelbegabungen überfordern die öffentliche Wahrnehmung. Vielleicht erinnern sie die Zeitgenossen zu sehr an deren eigene Mediokrität. Wie Jürgen Lodemann, solange er Redakteur beim Südwestfernsehen war, als Schriftsteller stets marginalisiert wurde, so hat man auch den Dichter und Romanautor Höllerer im Schatten des Wissenschaftlers gleichen Namens unterschätzt. Seine Lyrik und sein Roman Die Elephantenuhr sind im öffentlichen literarischen Bewusstsein nie so recht angekommen. Vielleicht hebt eine neue Lektüre an, nun, da Walter Höllerer mit 80 Jahren nach längerer Krankheit gestorben ist.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden