Wie gut das Beste ist

Linker Haken Der Preisregen wärmt die Durchnässten. Aber was sagt er über die Jury aus, die ihn veranlasst? Über Sinn und Unsinn von Bestenlisten und anderen Auszeichnungen

Am vergangenen Samstag wurde, erstmals im festlichen Luzerner Rahmen, wie beim Deutschen Filmpreis in einer unfreiwillig komischen Nachahmung der Oscar-Zeremonie, der Schweizer Filmpreis verliehen. Als „Bester Spielfilm“ wurde Home von Ursula Meier ausgezeichnet.

Ist der beste Spielfilm aber auch ein guter Spielfilm? Angesichts eines besonders schwachen Jahres mag Home der relativ beste Schweizer Spielfilm gewesen sein. Ein neuer Tanner, Goretta, Murer, Imhoof oder Klopfenstein war nicht zu entdecken. Aber gut ist der auf mehr als anderthalb Stunden aufgeblähte plumpe Sketch über die bekannte Lärmbelästigung nicht. Wäre es Ursula Meier nicht gelungen, Isabelle Huppert für die Hauptrolle zu gewinnen – wer weiß, ob dieser Film überhaupt aufgefallen wäre.

Immerhin kann man davon ausgehen, dass die Juroren die gesamte überschaubare Jahresproduktion des Schweizer Films gesichtet haben, ehe sie sich mehrheitlich für die relativ besten Produktionen entschieden. Wie aber ist das bei den sich vermehrenden Bestenlisten, die vorgeben, Qualität zu prämieren?

Merkwürdig. Die Bestenliste des SWR, die jene Bücher nennt, denen die Jury „möglichst viele Leser und Leserinnen wünscht“, verzeichnet immer wieder mal fast ausschließlich Bücher deutschsprachiger Autoren. Die Jury aber besteht aus Kritikern, von denen eine große Zahl seit Jahren beklagt, die deutschsprachige Literatur sei langweilig, provinziell, unbedeutend und solle sich an der aktuellen amerikanischen Literatur ein Beispiel nehmen (weshalb ein neuer Philip Roth stets sofort auf die Liste gelangt).

Protektionistische Einseitigkeiten

Wie kommt dieser offensichtliche Widerspruch zustande? Immerhin verspricht der Name der Liste einen Superlativ. Die besten unter den literarischen Neuerscheinungen soll sie enthalten. Wird dieser Anspruch auch erfüllt?

Es wäre ja nichts dagegen einzuwenden, wollte man eine Liste der „besten“ Bücher deutschsprachiger Autoren erfragen. Solange aber suggeriert wird, die Liste enthalte die besten Titel aus der jüngsten Produktion deutschsprachiger Verlage, erscheint es als provinziell – und hier passt das Wort nun tatsächlich –, im besten Falle als patriotisch, wenn manche Juroren vier Bücher deutscher Autoren nennen. Wollen sie allen Ernstes behaupten, diese vier seien „besser“ als alle anderen neu erschienenen Titel aus der internationalen Literatur? Wenn das nicht eine blamable Unkenntnis verraten soll, muss es doch Schamlosigkeit sein, was zu solchen protektionistischen Einseitigkeiten führt.

Die Bestenliste wurde einst von Jürgen Lodemann als Gegengewicht zu den Bestsellerlisten erfunden. Diese haben, bei allen bekannt gewordenen Manipulationen, gegenüber jener den Vorteil, dass sie nur abzählen, nicht werten. Sie spiegeln den Markt, nicht Qualität. Wie gut aber sind die Besten? Und wie groß ist die Halbwertzeit guter Literatur? Kein Juror, darauf nehme ich Gift, kann die gesamte belletristische Produktion deutschsprachiger Verlage auch nur durchblättern, geschweige denn lesen. Bücher aus kleinen Verlagen, Bücher unbekannter Autoren haben also kaum eine Chance, so viele Punkte auf sich zu vereinen, dass sie, außer in den persönlichen Empfehlungen, auf die Liste gelangen, zumal sich die Voten bei rund drei Dutzend Juroren mit mathematischer Voraussehbarkeit stets auf das Gängige oder gut Propagierte konzentrieren. Dazu kommen Absprachen zwischen einzelnen Juroren nach dem Prinzip: Gibst du meinem Favoriten deine Stimme, so unterstütze ich deinen Favoriten.

Ein Thomas Bernhard aus dem Nachlass landet ungelesen auf Platz 1

Um es in aller gebotenen Deutlichkeit zu sagen: Jede „Bestenliste“, deren Juroren nicht den gesamten Corpus der in Frage kommenden Kandidaten, bei Bücherbestenlisten also die gesamte (deutschsprachige) Buchproduktion kennen, ist Schwindel. Die Wahrheit ist, dass sich die Juroren den überwiegenden Teil der Neuerscheinungen gar nicht erst ins Haus kommen lassen, dass Debütanten kaum oder, wie etwa bei Aravind Adiga, erst nach einer Preisverleihung eine Chance haben, überhaupt berücksichtigt zu werden, während ein Thomas Bernhard aus dem Nachlass ungelesen auf Platz 1 landet. Der stereotype Einwand gegen dieses Argument lautet, niemand könne den Überblick über alle Neuerscheinungen, alle Filme, alle CD-Veröffentlichungen eines Jahres haben. Richtig. Aber dann möge man bitte nicht so tun, als ob.

Die Auswahl durch eine Jury erweist sich ohnedies als zwiespältig. Zwar werden die Entscheidungen damit der Subjektivität eines Einzelnen entzogen. Aber Juryentscheidungen haben immer die Tendenz, das Gefällige, auf das sich alle einigen können, gegenüber dem Radikalen, dem Sperrigen, dem Avantgardistischen zu bevorzugen. Da stets jene Kandidaten die höchste Punktezahl erreichen, die von den meisten Juroren gekannt und akzeptiert werden, ist das Ergebnis notwendig der kleinste gemeinsame Nenner. Dem gegenüber wäre eine Folge von wechselnden Subjektivitäten anregender, spannender und letzten Endes auch fairer gegenüber den "Außenseitern".

Wie soll man es verstehen, wenn eine Jury bei einem Filmfestival Preise für den besten Regisseur, den besten künstlerischen Beitrag, die beste Schauspielerin und den besten Schauspieler, das beste Drehbuch oder auch für Innovation an mehrere Filme vergibt, den Hauptpreis für den besten Film aber an einen bei all diesen Preisen übergangenen Konkurrenten? Was macht einen Film, der weder den besten Regisseur, noch die beste Schauspielerin oder den besten Schauspieler, noch das beste Drehbuch hat, der weder der beste künstlerische Beitrag, noch am innovativsten ist, zum besten Film? Der Preisregen mag die Durchnässten wärmen. Aber ist das Beste deshalb auch gut?

In der Freitag(s)-Kolumne "Linker Haken" beklagt Thomas Rothschild Woche für Woche, dass alles immer schlimmer wird. Manchmal hat er aber auch andere Sorgen: Beifall von der falschen Seite

Thomas Rothschild wurde 1942 in Glasgow geboren, wuchs in Österreich auf und lehrte bis 2007 an der Universität Stuttgart Literaturwissenschaft. Er ist seit vielen Jahren Autor des Freitag

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