Aristokratische Tugenden

Neue Chopinaufnahmen Maurizio Pollini, Khatia Buniatishvili und Lang Lang haben in den letzten Monaten neue Chopin Alben herausgebracht.

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Im Jahr 1528 veröffentlichte Baldesar Castiglione sein Buch "Il Cortegiano", in dem er die Eigenschaften beschreibt, die ein idealer Adeliger an einem fürstlichen Hof zeigen sollte. Eine der wichtigsten Eigenschaften ist die sogenannte "Sprezzatura", was mit Mühelosigkeit nur unzureichend übersetzt ist. Wie viel Kunst, Geschicklichkeit und Gelehrsamkeit man sich auch angeeignet hat, bei der Präsentation darf man sich die Anstrengung, die das kostet hat, nicht anmerken lassen.

Dabei geht es nicht darum diese zu verbergen, sondern ganz im Gegenteil, ihre Wirkung durch Andeutung, heute würde man wohl sagen "Understatement", noch zu verstärken und in bestem Licht erscheinen zu lassen.

Gleichwohl hat diese Mühelosigkeit wenig mit dem Perfektionismus zu tun, der heute gerade in der von Wettbewerben gestählten Klassischen Musik geboten wird. Denn die Tugenden, die Castiglione verlangt sind breit gefächert und zielen auf ein umfassende kulturelle Schulung, die neben Bildung auch einen Sinn für Form und Geschmack umfasst. Das Wesen der Sprezzatura ist es gerade, alles einstudierte und einseitige zu vermeiden sondern in jedem Augenblick Geistesgegenwart und Lebendigkeit zu bewahren.

Frédéric Chopin, den Nietzsche "den vornehmsten" aller Komponisten nannte, stand 300 Jahre später noch vollkommen unter diesem aristokratischen Ideal. Der französische Salon des 19. Jahrhunderts, der Chopins kulturelle Heimat war, war eine letzte Blüte aristokratischer Kultur.

Chopin, der insgeheim durch beständiges Studium viel von Bachs Kontrapunktik und Mozarts Formsinn aufgenommen hat, arbeitete hart und akribisch an seinen Werken, gerade um jene scheinbare Simplizität und flexible Selbstverständlichkeit zu erreichen, die von einem Gewebe höchsten Raffinements und Präzision durchzogen ist, das für das Kennerauge immer durchscheint.

Lange Zeit galt Chopins Musik als Jungmädchen-Musik und selbst heute fühlen sich Pianistinnen in Anlehnung an dieses alte Klischee bemüßigt, ihre Mädchen-Kleidchen aus dem Schrank zu holen, sobald es darum geht eine Chopin Aufnahme zu verkaufen.

Das hat nicht nur damit zu tun, dass damals Klavierspiel neben Sticken und Tanzen eine der bevorzugten Beschäftigungen höherer Töchter war, sondern dass Chopins Musik gerade aus den erwähnten Gründen nicht ganz zu Unrecht als ideale Einübung in damalige Ideale im gesellschaftlichen Umgang, Haltung und Distinktion, galt.

Gleichzeitig blieb Chopin bei Kennern, gerade auch in Deutschland, immer hochgeschätzt, nicht nur Schumann, Brahms und Nietzsche sondern auch, was viele nicht wissen, Wilhelm Furtwängler war ein enthusiastischer Chopin Verehrer.

Auch wenn man heute Chopin sicher nicht mehr verteidigen muss, man kann nicht leugnen, dass uns das aristokratische Ideal hinter Chopins Musik immer ferner rückt. Arthur Rubinstein und Vladimir Horowitz, die beiden größten Chopin Interpreten des 20. Jahrhunderts, waren noch vor 1914 geboren und hatten in ihren jungen Jahren noch einiges von dieser Kultur in sich aufgenommen. Chopin wird zwar immer noch mehr denn je gespielt, da seine Musik aus dem Pianistenrepertoire einfach nicht wegzudenken ist, doch wirklich hochklassige Chopinaufnahmen sind rarer denn je.

Im letzten halben Jahr kamen drei neue Chopin Aufnahmen heraus, von Lang Lang, Khatia Buniatishvilli und von Maurizio Pollini. Im Grunde kann man schon an einem winzigen Detail Schlüsse über die Qualität dieser Aufnahmen schließen. Nämlich daran, wie diese drei Künstler Auftakte spielen.

Schon in den Auftakten offenbart sich nämlich, inwieweit man das tiefere Geheimnis jenes "Rubato", also des agogisch freien Spiels, das zu Recht besonders mit der Musik Chopins verknüpft ist, begriffen hat. Denn der Grat ist äußerst schmal, auf dem die Andeutung jene von der Sprezzatura geforderte Wirkung hat. Schon ein wenig zu viel und die Wirkung schlägt ins Gegenteil um, ins plump Demonstrative, ins affektiert Selbstbezogene.

Die As-Dur Etüde aus op. 25, mit der Lang Lang sein Album eröffnet, beginnt mit einem Viertel-Auftakt. Lang Lang zieht dieses Auftakt so grotesk in die Länge und lässt schon mit der Demonstrativität dieser einen Note jeden Hauch von Sprezzatura vermissen, dass man eigentlich sofort abwinken will.

Diese Art von effekthascherischer Geste, von denen es auch in der Folge nur so wimmelt, ist symptomatisch für eine Panik vor Aufmerksamkeitsverlust, der jene jungen Künstler befallen hat, die heute im Rampenlicht medialer Aufmerksamkeit stehen. Gerade Lang Lang, der im Moment wohl bekannteste Pianist der Welt ist, steht so unter Bewährungsdruck, dass er diese Art der effekthascherischen Artefakte zu seinem Markenzeichen kultiviert hat.

Ein wenig hat Lang Langs Klaviertechnik offenbar im internationalen Jetset gelitten. Die beeindruckende Präzision und Sicherheit, die seine Technik noch vor 10 Jahren hatte, ist etwas verloren gegangen. Etwas Schlamperei hat sich eingeschlichen, vieles klingt viel schlammiger und angestrengter als früher.

Lang Lang hat eine durchaus sympathische naive Direktheit, die gewissermaßen das heutige Ideal im gesellschaftlichen Umgang ist, und sicher für seinen großen Erfolg mitverantwortlich ist. Doch diese Direktheit steht im völligen Gegensatz zu der distanzierten und distinguierten Kunst Chopins. Der melodisch belcantistische Reiz wird so zur penetranten Süße, der Balanceakt virtuoser Mühelosigkeit zum draufgängerischen wow-Effekt.

Auch das Album von Khatia Buniatishvilli beginnt mit einem Viertel-Auftakt, dem zum cis-moll Walzer aus op. 64. Dieser ist zwar kürzer als bei Lang Lang doch immer noch demonstrativ zerdehnt und gibt ebenfalls sofort einen Eindruck, der sich im folgenden bestätigt.

Er hat einen affektierten Augenaufschlag, etwas überschminktes, das aufgesetzt wirkt. Zwar zeigt Buniatishvili wesentlich mehr Sinn für artifizielle Distanz und so manche Stellen haben durchaus Eleganz und Raffinement. Doch wirkt alles immer ein wenig zu einstudiert. Gerade bei den schnellen Stücken kann sie sich die Demonstration ihrer virtuosen Pranke, und rein pianistisch ist sie gewiss ein Ausnahmetalent und in ungleich besserer Form als Lang Lang, nicht verkneifen. Das Scherzo der b-moll Sonate und das Finale des f-moll Konzerts kommen mit einer unangenehmen Prokofieff-nahen Direktheit.

Nicht nur weil sie sich auf Bildern gern in Männerkleidern ablichten lässt, auch wegen ihren schwarzen Haaren muss man bei ihr immer an George Sand denken. Tatsächlich kommt es einem immer ein wenig so vor als ob hier George Sand Chopin spielt, denn über die äußerliche Ähnlichkeit hinaus ist da viel von der burschikosen Unbekümmertheit der Sand zu spüren.

Der Text und das Video von Kathia Buniatishvili zum Album, das einem mit seiner altklugen Banalität geradezu verlegen macht, macht einem dann doch einfach wegen der naiven Unerschrockenheit ein wenig Eindruck.

Maurizio Pollini versagt sich beim Auftakt zur h-moll Mazurka aus op. 30 in seinem neuen Album jedes affektierte Gehabe, ja der Auftakt wirkt fast im Gegenteil ein wenig beiläufig verhuscht, wie überhaupt das ganze Album von einer gewissen nervösen Getriebenheit gekennzeichnet ist.

Man konnte sich ein wenig wundern, warum Pollini, der vor nicht langer Zeit die Einspielung aller wichtigen Chopin Werke für die DG abgeschlossen hatte, nochmal eine Studioaufnahme mit verschiedenen Werken aufnimmt, die er bereits eingespielt hat.

Nochmehr waren diejenigen verwundert, die vor allem die frühen Aufnahmen der Etüden und Preludes wegen ihren unübertrefflichen kristallinen Klarheit und Perfektion schätzten. Denn die Neueinspielung der Preludes lässt sich mit der alten Aufnahme in dieser Hinsicht nicht vergleichen. Was die technische Perfektion angeht, bleibt diese Aufnahme sicher hinter den Erwartungen, die man früher an Pollini in dieser Hinsicht stellte, zurück.

Trotzdem lässt sie nicht nur die anderen beiden hier besprochenen Alben weit hinter sich zurück, sie ist vielleicht überhaupt eine der ganz wenigen erheblichen Chopin Aufnahmen der letzten Jahre.

Pollini mag pianistisch seinen Zenit überschritten haben, als Künstler hat er eigentlich erst jetzt so ganz zu sich selbst gefunden. Früher wirkte sein Spiel oft eine Spur zu abgezirkelt und angespannt unfrei. Nun hat sich Pollini nicht eigentlich geändert. Von Wärme oder Großzügigkeit kann bei ihm immer noch nicht die Rede sein.

Doch gewann Pollini inzwischen eine Freiheit, die er früher nicht hatte. Damit ist nicht rubatoseliges Spiel gemeint, tatsächlich spielt er viel strikter und strenger als seine jungen Kollegen, sondern tatsächlich jene Art von aristokratischer Geistesgegenwart, die in jedem Augenblick unberechenbar bleibt und in minimalsten Andeutungen einen tieferen Reichtum durchscheinen lässt.

Das Album von Maurizio Pollini ist bei der Deutschen Grammophon, die von Khatia Buniatishvilli und Lang Lang bei Sony Classical erschienen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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