Cecilia Bartoli in Vincenzo Bellinis "Norma"

CD-Kritik In einer Neuaufnahme auf historischen Instrumenten wird versucht, der Gesangstechnik Belcanto neues Leben einzuhauchen. Kann das gelingen?

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Maria Callas singt 1964 in Vincenzo Bellini's "Norma" in Paris
Maria Callas singt 1964 in Vincenzo Bellini's "Norma" in Paris

Foto: AFP/ Getty Images

Auf dieser Neuaufnahme von Vincenzo Bellinis "Norma" lagen viele Hoffnungen. Liebhaber der italienischen Oper mögen sich eine Renaissance jenes Repertoires zwischen Mozart und Puccini ersehnt haben, das in den letzten Jahrzehnten immer mehr in den Hintergrund getreten ist. Und auch die Anhänger der historischen Aufführungspraxis dachten wohl, dass diese Aufnahme ihrer Bewegung, die in den achziger und neunziger Jahren mit der Neuentdeckung der Musik zwischen Bach und Beethoven in historischem Klanggewand große Erfolge feierten, ein Revival bescheren könnte.

Die Voraussetzungen waren durchaus günstig. Mit Cecilia Bartoli stand hinter dem Projekt jemand, der über genügend Einfluss verfügt, ein solch ehrgeiziges Projekt durchzusetzen. Als eine der wenigen Klassikkünstler, die noch nennenswerte Stückzahlen an CDs verkaufen, und gleichzeitig Leiterin der finanzkräftig unterstützten Salzburger Pfingstfestspiele, ist sie neben Daniel Barenboim, Simon Rattle und Christian Thielemann im Moment wohl einer der einflussreichsten Künstler im Klassikbetrieb.

Dass das Projekt trotzdem scheiterte, lag gewiss nicht am mangelnden Willen und Engagement aller Beteiligten. Es wurde sogar eine neue Edition erstellt, deren Mehrwert allerdings eher bescheiden ausfällt. Verfolgt man die Aufnahme mit dem alten Peters Klavierauszug, stellt man fest, dass sich Unterschiede auf einige wenige Takte in einigen Rezitativen beschränken, die im Grunde völlig marginal sind.

Dass allerdings der vollständige Klavierauszug erklingt, ist durchaus eine Leistung, denn fast in allen älteren Aufnahmen gibt es kleinere und größere Striche. Das vielleicht größte Verdienst des Orchestra La Scintilla unter Giovanni Antonini ist, dass sie die Musik ernst nehmen und nicht den berühmten italienischen Schlendrian abliefern, der auf perverse Weise fast stilbildend für die moderne Rezeption dieser Musik wurde.
Das historische Instrumentarium fällt zwar nicht mehr so stark ins Gewicht wie bei barockem Repertoire, doch auch hier sorgen Naturtrompeten für mehr Kontur und historische Bläser und Streicher für mehr Durchsichtigkeit.

Der Grund, warum diese Aufnahme nicht funktioniert, ist allerdings viel grundsätzlicher, geht über rein praktische Erwägungen weit hinaus. Lebensgefühl und Ästhetik wandeln sich über die Jahrhunderte sukzessive und je größer der zeitliche Abstand, je mehr lösen sie sich auf, verschwinden hinter einem kulturellen Horizont.

Die Welt vor hundert Jahren kommt uns schon exotisch fremd vor, auch wenn wir sie in wesentlichen Ingredienzien noch emotional nachvollziehen können. Foxtrott und Ragtime klingen für uns "von gestern", doch haben wir keine Probleme, die rhythmische Charakteristik und das damit verbundene Lebensgefühl einer vorsichtigen Liberalisierung unmittelbar zu verstehen.

Anders ist es mit der Welt des frühen 19. Jahrhunderts. Sie ist mehr oder weniger hinter einem Schleier verschwunden. Am deutlichsten längst sich so etwas an gewissen musikalischen Formen ablesen, die besonders in Mode sind, weil sie ein Zeitgefühl exemplarisch transportieren. Mindestens die Hälfte der Arien und Chöre in Bellinis Opern sind Märsche oder marschartige Stücke. Das ist kaum verwunderlich, war das 19. Jahrhundert doch eine Blütezeit der Militärkultur und der Offizier die Inkarnation männlichen Sexappeals. Er vereinigte, was heute in der physischen Ausstrahlung von Sportlern und der Ungebundenheit von Schauspielern oder Rockstars in anderer Form kultiviert wird.

Auch ohne ein Fan von hardrock zu sein, kann jeder den Adrenalin-Kick nachvollziehen, den diese Musik unmittelbar auslöst. Dass der Eingangschor aus "Norma" "Dell'aura tua profetica", ein Stück, mit dem auch Franz Liszt in seiner Klavierbearbeitung die Massen zu Delirien der Begeisterung hinriss, unseren Adrenalinpegel völlig unbeeindruckt lässt, ist der simpelste Beweis dafür, dass diese Musik in ihrem ureigensten Wesen heute nicht mehr funktioniert.

Das ist gar nicht so sehr die Schuld der Interpreten, sondern liegt schlicht und einfach daran, dass wir an diesen musikalischen Archetypus des virilen idealistischen Schwungs emotional nicht mehr andocken können. Er ist schlicht und einfach historisch verblasst. Dadurch verliert die Oper jedoch einen ganz wesentlichen Teil seiner Essenz. Genauso wie von einem Rockkonzert, zieht man das Adrenalin ab, nur noch Krach ist, bleibt von Bellini nicht viel mehr als Humtata.

Natürlich ist die männliche Hauptfigur in Norma, Pollione, ein Militär, nämlich ein römischer Statthalter im besetzten Gallien, und die gallische Priesterin Norma muss seinem Sexappeal sofort verfallen gewesen sein. Als die Oper beginnt, hat sie nämlich bereits zwei Söhne von ihm. Illegitim, da sie als Priesterin eigentlich zur Keuschheit verpflichtet ist.

Wenn die Oper beginnt, erfährt man als erstes, dass sich Pollione in eine andere, die jüngere Priesterin Adalgisa verliebt hat. Eine archetypische Konstellation, deren dramaturgisches Potential geschickt genutzt wird. Normas berühmte Auftrittsarie "Casta diva", eine Anrufung der "reinen Göttin", der sie dient, ist nicht nur eines der schönsten Beispiele der klassischen belcanto Cavatina sondern auch ein theatralisch genialer Einfall. Denn der Zuschauer weiß zu diesem Zeitpunkt bereits, dass diese Frau nicht nur nicht "rein" ist sondern auch dabei ist von ihrem Liebhaber verlassen zu werden, was sofort eine dramatische Fallhöhe herstellt.

Musikalisch stellt die Cavatina gewissermaßen das feminine Gegenstück zur marschartigen Cabaletta dar, ist in ihren extrem lang ausgesponnenen Bögen ganz idealisierte Hingabe. Das formale Element, aus dem die italienischen belcanto Opern ihre Spannung beziehen, ist die Dualität von langsamer Cavatina und schneller Cabaletta, die meistens mit einem dramatischen Umschwung verbunden ist. Das wird in Norma mit fast klassischer Exemplarität durchgeführt. Jedesmal wird ein Stück der Geschichte offenbart, so dass am Ende des ersten Aktes alle drei weitgehend auf dem selben Wissensstand sind.

Der zweite Akt handelt dann davon, welche Konsequenzen jeder daraus zieht. Norma will zunächst ihre Kinder töten, um sich an Pollione zu rächen, will sie dann aber Adalgisa übergeben. Adalgisa will Pollione dazu überreden zu Norma zurückzukehren, dieser lehnt jedoch ab und provoziert damit endgültig den Hass Normas, die das Zeichen zum Aufstand gegen die Römer gibt und damit droht Adalgisa des Bruchs ihres Geübtes zu bezichtigen und sie den Göttern zu opfern. Als alles zum Opfer bereit steht, opfert sie schließlich sich selbst und Pollione in einem letzten Gefühlsumschwung springt ihr hinterher.

Das scheint in seinem ständigen Hin- und Her zunächst von jener kolportagehaften Konfusion, für die die italienische Oper berüchtigt ist. Doch würde man die Geschichte von manchem Hollywood Klassiker nacherzählen, klänge es kaum weniger konfus. Populärkultur, und das ist die italienische Oper zwischen Bellini und Puccini ohne Zweifel, funktioniert eben nicht logisch, sondern mittels jener populärmytischen Ingredienzien, die vom Publikum unbewusst aufgenommen werden.

Wenn in diesem Zusammenhang von "Funktionieren" die Rede ist, hat das damit zu tun, dass es bei dieser Art von Populärkultur entscheidend darauf ankommt, dass die wesentlichen Bestandteile richtig ineinander greifen und auf einer fundamentalen Ebene "funktionieren". Wenn man bestimmte Hollywood Schauspieler in bestimmten Genres besetzt, sind sie schon deswegen die halbe Miete, weil sie sich in dieser Konstellation populärmythisch etabliert haben.

Die italienische Oper war aus demselben Grund ein ähnliches Starvehikel, das damals von einer relativ kleinen Gruppe von Sängerstars beherrscht wurde. Dabei ging es gar nicht so sehr um reine Gesangskunst, genauso wenig wie es in Hollywood um Schauspielkunst geht, sondern darum, dass eine Sängerin einen gewissen Typus, der gerade in der Luft liegt, ideal verkörperte.

Dass Bellinis "Norma" im 20. Jahrhundert eine kleine Renaissance erlebte hat genau genommen nur einen Grund: Maria Callas. Zumindest in den Cavatinas konnte sie etwas von der originalen Essenz dieser Musik zum schwingen bringen. Sie besaß etwas von der absoluten Hingabe, der diese Rollen definiert. Dass sie privat ähnliches wie Norma erlebte als sie von Onassis verlassen wurde, kann nur für Ironie des Schicksals halten, der an Zufälle glaubt.

Nicht dass es Cecilia Bartoli an Hingabe fehlen würde, sie singt hoch expressiv und man spürt, dass sie alles geben möchte, doch sie ist einfach nicht der "Norma" Typus. Ihr fehlt das prekäre, instabile und somnambule, das man bei der Callas immer spürt und ganz wesentlich zur Bedeutung dieser Jahrhundertsängerin gehört. Hört man manche Callas Live Aufnahmen der Norma nach, erlebt man einige Male, dass ihr der Höhepunkt von "Casta diva" intonationsmäßig ein wenig entgleist. Doch spielt das im Grunde überhaupt keine Rolle, ganz im Gegenteil spürt man gerade dadurch, dass sie sich wirklich etwas riskiert, nie auf Nummer sicher geht.

Bei der Bartoli hört man solche Unreinheiten nicht. Ebenso wenig wie bei ihren Mitstreitern, die gewiss tadellos und schön singen, doch "funktionell" völlig unerheblich bleiben, weil es ihnen gänzlich an Ausstrahlung fehlt. Wer dieses Urteil ungerecht findet, versteht einfach nicht worum es in der Oper geht. Eben nicht darum, dass schön und intonationssicher gesungen wird, sondern einzig und allein, dass sich Individualität mitteilt und aus der Konstellation von Individuen Handlung entsteht.

Die Aufnahme ist bei Decca/Universal erschienen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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