Nie hätte ich gedacht, jemals in die Verlegenheit zu geraten, eine Lanze für Gertrud Höhler zu brechen. Aber die mediale Abwehrfront gegen sie ist so massiv, dass sich der Verdacht einstellt, es könne sich um den Versuch handeln, eine wirkliche Diskussion ihrer Streitschrift durch das Ausweichen auf Nebenkriegsschauplätze zu verhindern. Jedenfalls harren ihre brisanten Thesen einer streitbaren Auseinandersetzung. In Frage steht, inwiefern ihre Beschreibung der Genese, Wirkungsweise und Entwicklungstendenzen des von Merkel etablierten Führungssystems zutreffen und welche politischen Konsequenzen daraus zu ziehen wären.
Das von Höhler skizzierte „System M“ setzt sich zusammen aus einem ganzen Bündel an Machttechniken. Das reicht von Merkels Gewohnheit, sich erst dann in einer Sachfrage zu positionieren, wenn diese bereits durch die Faktenlage entschieden erscheint, über ihren Umgang mit Konkurrenten aus der eigenen Partei, abrupte Stellungswechsel, die sie für Freund und Feind unberechenbar machen, bis zur Vermeidung ideologischer Bekenntnisse, die mit einer Plünderung des christdemokratischen Themenarsenals einhergeht, wenn es um die Erfindung immer neuer Parolen geht. Momentan ist sie bei der „menschlichen Marktwirtschaft der Mitte“ angekommen. Das passt zu ihrer Strategie, Themen anderer Parteien gleichsam einzusaugen: vom Atomausstieg über die Abschaffung der Wehrpflicht bis hin zu einer CDU-Variante eines „Mindestlohns“.
Durch die konsequente Vermeidung von verpflichtenden Bindungen, so Höhler, habe sich Merkel einen Führungsvorteil verschafft, den sie innen- wie außenpolitisch zu nutzen verstehe: den Nimbus der Neutralität. Nicht mehr der Frage, mit welcher Partei sie an die Spitze der Regierung gelangt, gelte ihr Augenmerk, sondern der schleichenden Entmachtung der übrigen Parteien. Die „arglose Zustimmungsbereitschaft“ von Parlamentariern fast aller politischer Richtungen zu den ad hoc initiierten und stets als vermeintlich „alternativlos“ hingestellten Entscheidungen in Sachen Euro und Energiepolitik sowie den Versuch, das Rederecht der Abgeordneten durch eine Änderung der Geschäftsordnung einzuschränken, habe de facto eine „Republik ohne Opposition“ entstehen lassen.
Eindringlich warnt Höhler vor der von Merkel betriebenen Machtzentralisierung auf europäischer Ebene. Denn unter der Überschrift „Stabilisierungsmaßnahmen“ habe Merkel längst begonnen, auch hier in ihrem Sinne strukturbildend zu wirken. Der auf ihr Betreiben und nur durch die Umgehung des Europäischen Parlaments durchgesetzte Fiskalpakt bezwecke schlicht und einfach die Kontrolle der schwachen Staaten durch die starke Wirtschaftsmacht Deutschland. Die ökonomisch kontraproduktiven Sparauflagen hätten wiederum den Zweck, Merkels Wählern plausibel zu machen, warum sie die Risiken der sogenannten Euro-Rettung überhaupt eingehen sollen. Dabei nehme die Kanzlerin den Zusammenbruch der Euro-Zone in Kauf.
Was Höhler zutreffend als Merkels „Allparteien-Zentralismus“ kritisiert, ist im Grunde nichts anderes als eine modernisierte Spielart des Bonapartismus. Die Politikwissenschaft versteht darunter eine auf eine Person zugespitzte, aber durch Wahlen legitimierte Herrschaftsform, die sich bei weitestgehender Ausschaltung von Parteien und Gewerkschaften als überparteilich agierendes Vollzugsorgan der Bürgerinteressen inszeniert. Offensichtlich auf das falsche Pferd setzt Höhler jedoch, wenn sie ausgerechnet die Liberalen als potenzielle Retter vor dem drohenden Euro-Bonapartismus ins Spiel bringt. Die historische Erfahrung lehrt, dass ein wirklicher Pluralismus ohne eine gesellschaftlich verankerte, starke Linke nicht zu haben ist.
Thomas Wagner ist Autor des Buchs Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus (Papyrossa 2011)
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