Gerhard Hanloser beteiligte sich als anarchistischer Schüler 1991 an der Blockade einer Rüstungsfirma. Die lautstarke Kritik der Linksradikalen an der Wiedervereinigung teilte er. In den Wendejahren bildete sich eine schillernde politische Strömung heraus: die Antideutschen. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer zieht Gerhard Hanloser in seinem Buch Die andere Querfront. Skizzen des antideutschen Betrugs kritisch Bilanz.
der Freitag: Herr Hanloser, wo liegen die Ursprünge der Antideutschen?
Gerhard Hanloser: Kurz nach dem Mauerfall, als die beiden deutschen Staaten aber noch nicht vereint waren, fand sich ein sehr breites Bündnis der radikalen Linken zusammen, das am 12. Mai 1990 mit einer großen „Nie wieder Deutschland!“-Demonstration in Frankfurt am Main auf die Straße ging. Dazu gehörten ehemalige Fundi-Grüne wie Jutta Ditfurth, der Autonomen-Theoretiker Karl Heinz Roth, Rainer Trampert. Viele kamen aus dem Kommunistischen Bund (KB).
Worum ging es damals?
Das wichtigste Anliegen lautete: Wir wollen kein Großdeutschland, weil das auf ein militarisiertes Land in der Mitte Europas hinausliefe. Jürgen Elsässer, der sich heute rechts positioniert, forderte im selben Jahr im Arbeiterkampf (AK), der Zeitschrift des Kommunistischen Bundes, dass „die Linke anti-deutsch sein muss“. Das war eine Antwort auf die ersten rassistischen, nationalistischen und antisemitischen Exzesse, die im Zuge der Wiedervereinigung stattfanden. Ein breites Bündnis radikaler Linker wandte sich gegen die Pro-Wiedervereinigungspositionen in der SPD und bei den Grünen. Man stellte sich damit in eine gute linke Tradition – die des vaterlandslosen Gesellen.
Wenn Sie mit dieser linken Tradition einverstanden sind, wo setzt Ihre Kritik ein?
Nach dieser Anfangsphase gibt es über die nächsten dreißig Jahre eine stufenweise Entwicklung, in der Kernbestandteile linken Denkens verloren gehen. Der erste wichtige Marker dafür war der von den USA angeführte Golfkrieg von 1991, als sich verschiedene Gruppen des antideutschen Milieus für den Krieg aussprachen.
Beschreiben Sie kurz die damalige politische Lage.
Saddam Hussein hatte rechtswidrig den Nachbarstaat Kuwait annektiert und US-Präsident George W. Bush rief eine neue Weltordnung aus und ließ Truppen am Golf aufmarschieren. Daraufhin mobilisierte sein irakischer Widerpart intern und auf der Weltbühne antisemitische Ressentiments und drohte, Israel mit Giftgas bestückten Scud-Raketen anzugreifen. Damals gingen Bilder um die Welt, die Israelis zeigten, die mit Gasmasken Schutz in den Bunkern suchten. Das geschah zu einer Zeit, als die deutsche Linke sich im eigenen Land einem Revival von Nationalismus und Antisemitismus ausgesetzt sah.
Die Antideutschen zogen daraus den Schluss, dass man nun die Kriegspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen müsse?
Sie waren bereit, ihre antimilitaristischen und antiimperialistischen Positionen aufzugeben, um Israel zu schützen. Wolfgang Pohrt und andere äußerten sich sogar dahingehend, dass angesichts der akuten Bedrohung von Juden eine Atombombe auf Bagdad geschmissen werden solle.
Wie erklären Sie sich diese zynische Haltung?
Zu dieser Zeit war die westdeutsche Linke in einer völligen Überforderungssituation. Der sozialistische Staatenblock war zusammengebrochen. In den Jahren 89, 90, 91, als die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse in einem vorher nicht bekannten Maße übermächtig und unangreifbar schienen, verloren viele Linke jede Vorstellung, wie sich die Verhältnisse in einem positiven Sinne noch würden ändern lassen können. Man kannte sich in El Salvador und Nicaragua besser aus als in der DDR, und nun gab es die DDR auf einmal nicht mehr. In dieser Schocksituation einer chaotisierten, unübersichtlich gewordenen Welt gaben die Forderung,das Leben von Juden militärischzu schützen, und der Ruf „Nie wieder Faschismus“ so etwas wie Halt.
2008 erklärte die Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Schutz des Existenzrechts des Staates Israels sei Teil der deutschen Staatsräson.
Angehörige von Antifa-Gruppen, die heute Israel-Fahnen schwenken, sehen sich nicht als Parteigänger von Kanzlerin Angela Merkel, sondern nach wie vor in der Rolle derjenigen, die den Mainstream provozieren.
Ein publizistisches Forum dafür ist die die Zeitschrift „Bahamas“.
Sie wurde in Berlin gegründet, als sich die Gruppe K vom Kommunistischen Bund abspaltete und nicht mehr im Arbeiterkampf schrieb. Ein weiteres Zentrum war Freiburg im Breisgau. Dort gab es bereits seit Mitte der 1980er Jahre die Initiative Sozialistisches Forum (ISF) mit der Zeitschrift Kritik und Krise. Sie orientierte sich stark an der Ideologiekritik Wolfgang Pohrts, der die Friedensbewegung dieser Zeit als vermeintlich nationalistisch motivierte, völkische Bewegung angriff.
Ist da etwas dran?
Es gab solche Momente, die waren in der Bewegung aber nicht vorherrschend. Verankerung fanden die antideutschen Positionen in der Zeitschrift Konkret, die eher aus dem traditionslinken Spektrum kam, aber mit ihrem Hermann L. Gremliza einen prononcierten Antideutschen als Herausgeber an der Spitze hatte. Später begannen die Gruppe K und das ISF zu kooperieren und es entstand so etwas wie ein loser Kreis antideutscher Publizisten, die aber erst seit Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre einen Resonanzraum in einer eigenen politischen Szene fanden. Damals begannen sich ursprünglich antiimperialistisch geprägte Antifa-Gruppen, beispielsweise in Leipzig und Halle, mit ihren Schriften theoretisch zu munitionieren und fingen an, auf Demonstrationen provokativ die Fahnen Israels, der USA und Großbritanniens zu schwenken.
Zur Person
Gerhard Hanloser, geboren 1972, arbeitet als Publizist in Freiburg. Der Sozialwissenschaftler veröffentlichte 2017 das Buch Lektüre & Revolte. Der Textfundus der 68er-Fundamentalopposition und 2019 Die andere Querfront. Skizzen des antideutschen Betrugs (beide im Unrast-Verlag)
Meist richten sich antideutsche Aktionen gegen andere Linke.
Da die herrschenden Verhältnisse übermächtig schienen, wurde der andere Linke zum Hauptfeind der eigenen Polemik. Das Einzige, was sich anscheinend noch wirkungsvoll angreifen ließ, war das eigene linke Milieu. Dabei wurde von Anfang an auch gelogen. Bis heute werden beispielsweise Zitate von Hans-Christian Ströbele aus der Golfkriegszeit herumgereicht, die nicht verbürgt sind und daher als seriöse Quellen nichts taugen. Die Konstruktion eines gefährlichen „linken Antisemitismus“, den es in dieser Form meines Erachtens nicht gibt, fußt zu einem Gutteil auch darauf, dass Äußerungen auf verfälschende Weise aus dem Zusammenhang gerissen werden oder man falsche Behauptungen aufstellt.
Innerhalb der Linken hat sich eine Diskussionskultur breitgemacht, die ein Zusammenhandeln in Richtung gemeinsamer fortschrittlicher Ziele mehr als nötig erschwert.
Das nenne ich Zerstörung der Vernunft, was mehr bedeutet, als richtig oder klar zu denken. Dazu gehört auch, dass man weiß, mit wem man sich in welcher Situation verbündet, welche Ziele man kurz-, mittel- und langfristig anpeilt und welches die drängenden Fragen der Zeit sind.
Das Fälschen von Zitaten, um die eigene Position zu stärken, ist innerhalb der Geschichte der Linken allerdings keine Erfindung der Antideutschen. Das findet sich schon in den Kämpfen, die verschiedene maoistische Gruppen seit den 70er Jahren miteinander führten. Insofern sind die Antideutschen ein Kind der Linken. In der Zeitschrift Jungle World wurden andere linke Positionen häufig als Versuche einer „Querfront“ diffamiert.
Wo kommt der Begriff her?
Historisch gab es einen Querfront-Versuch zum Ende der Weimarer Republik, als man mit einer durch rechte Sozialdemokratie, Gewerkschafter, SA-Angehörige und Reichswehr gestützten Militärdiktatur die Machtübernahme der NSDAP zu blockieren versuchte. Man beabsichtige, durch ein breites Rechts-links-Bündnis den Durchmarsch von Hitler zu verhindern. Mittlerweile taucht der Begriff aber nur noch als polemische Wendung auf.
Inwiefern?
Man behauptet, es gebe aktuell Verbindungen zwischen rechts und links. Man weist auf angebliche Allianzen zwischen linken und rechten Antiimperialisten hin. Hier würden die gleichen Diskurse und die gleichen Semantiken geführt. Ein linker Antiimperialist sei genauso antiamerikanisch eingestellt wie ein rechter Kritiker der USA. Das weise ich zurück.
Aber die Möglichkeit, dass es inhaltliche Überschneidungen geben kann, lässt sich doch gar nicht ausschließen.
Wir haben es damit zu tun, dass alles, was sich dem liberalen Kanon entzieht, unter dem Begriff Querfront rubriziert wird. Dadurch wird der Vorwurf beliebig.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Die Kritik an den Montagsmahnwachen, die sich gegen den Krieg in Syrien und in der Ukraine wandten. Dort wurden teilweise pro-russische Positionen laut und tatsächlich haben dort einige Leute auch antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet. Im Unterschied zur alten Friedensbewegung, in der linke Vorstellungen vorherrschten, war ungerichtet, was dort an Gedanken zirkulierte, politisch nicht so leicht zu fassen. Aber das war keine Querfront in einer organisierten Form. Organisatorisch gibt es für mich so etwas bisher nicht.
Ende 2019 verstarb Hermann L. Gremliza. In den großen Zeitungen erschienen mitunter hymnische Nachrufe. Wie ist die Aufmerksamkeit zu erklären?
Gremliza war, obwohl lange Jahre Sozialdemokrat, immer mehr kommunistischer Linker als Antideutscher. Er spitzte Nationalismus- und Imperialismuskritik auf Deutschland zu. Stilistisch gekonnt – darin wird er der Linken fehlen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde dem ehemaligen PLO-Sympathisanten der Staat Israel zum Sowjetunion-Surrogat. Er vertrat wie die Antideutschen eine irrationale Pro-Israel-Haltung, in der Meinung, dadurch Antisemitismus bekämpfen zu können. Für diese unmaterialistische wie unhistorische Haltung wurde der große Publizist interessanterweise in vielen Nachrufen der bundesrepublikanischen Presselandschaft gewürdigt.
Was für eine Wirkung erhoffen Sie sich von der Veröffentlichung Ihres Buches?
Ich verstehe das Buch, jenseits der in ihm formulierten Kritik, als ein Plädoyer für die Erneuerung einer antimilitaristischen und antiimperialistischen Linken, die ihre humanistischen Maßstäbe nicht aufgibt.
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