Michael Jeans „Tiohtiá:ke“: Eine Erzählung über das, was andere beschweigen
Premières Nations Er gehört zu den wichtigsten indigenen Autoren Québecs. Mit „Tiohtiá:ke“ legt der kanadische Schriftsteller und TV-Moderator Michel Jean sein neues, hochaktuelles Buch vor
Élie Mestenapeo wird aus dem Gefängnis entlassen. Er reist mit dem Bus nach Montréal. Zehn Jahre zuvor hatte er seinen Vater getötet. Zurück ins Reservat kann er nicht mehr, als Mörder hat ihn die Gemeinschaft verbannt. Er schläft auf Bänken im Park, streift auf den Straßen und Plätzen der frankokanadischen Millionenstadt umher, sammelt Pfandflaschen. Élie schließt Bekanntschaft mit anderen Indianern, die im Großstadtdschungel gestrandet sind. Darunter sind Angehörige der Atikamekw, Mohawk, Nakota, Anishinabe und Cree. Sie bilden hier so etwas wie einen neuen Stamm und streifen als Stadtnomaden umher. Élie freundet sich mit Tracy und Maria an. Zwei Schwestern aus einer indigenen Gemeinde im hohen Norden, die sich la
lange Zeit auf der Straße prostituiert hatten. Man trifft sich am Square Cabot beim Kochmobil für Bedürftige. Élie möchte sich nützlich machen. Er unterstützt Jimmy, den Betreiber, bei der täglichen Essensausgabe.Mithilfe von Marias Tochter Lisbeth, die bei einer Pflegefamilie aufgewachsen ist und nun Medizin studiert, beginnt Élie, seinen Schulabschluss nachzuholen. Als auf Montréals Straßen immer wieder obdachlose indigene Frauen zu Tode kommen, beginnt er, Nachforschungen anzustellen.Mit Tiohtiá:ke legt der kanadische Journalist Michel Jean seinen neunten Roman vor. Die meisten kreisen um Probleme, die mittelbar oder unmittelbar mit der kolonialen Herrschaftgeschichte Kanadas zusammenhängen. Die Mutter des 1960 in der kleinen Stadt Alma in der frankokanadischen Provinz Québec geborenen Autors ist eine Indigene vom Stamm der Innu. Sie hatte das Reservat verlassen müssen, als sie einen Weißen heiratete. Bei einem Besuch im Reservat sagt die Großmutter dem Kind: „Du, Michel, hast den Indianer in dir.“ Später studiert er Geschichte und Soziologie. Heute arbeitet er als Buchautor und TV-Moderator. Am Anfang jeder Sendung sagt er den Innu-Gruß „Kuei!“. In der Sprache der Mohawk bezeichnet der Buchtitel Tiohtiá:ke den Ort, auf dem heute die Metropole Montréal liegt.Eingestreut in die Erzählung sind Erinnerungen an Élies Aufwachsen im Reservat. Er mag es, wenn seine Großmutter Elch zubereitet. „Warum hebt man das Maul für die Ältesten auf, mushum?“, fragt der Junge. „Weil es leichter zu essen ist, wenn man seine Zähne verliert“, antwortet sein Großvater. Von ihm lernte Élie, Schlingfallen aufzustellen, um mit ihrer Hilfe Hasen zu erlegen. Doch bevor er zehn Jahre alt wird, verstirbt der Mann. Während die Älteren noch fischen oder jagen gehen, versuchen die Jüngeren, sich die Langeweile durch Alkohol, Drogen und wahllosen Sex zu vertreiben.Der Versuch, den Indianern ihre eigene Kultur auszutreiben, hatte katastrophale Folgen. Bis 1996 gab es unter katholischer Regie geführte Internatsschulen, in denen die Kinder systematisch von ihren Herkunftsgemeinschaften entfremdet und umerzogen wurden. Aus ungebildeten „Wilden“ sollte kanadische Bürger gemacht werden. Das ursprüngliche Motto hieß: „Wer den Menschen retten will, muss den Indianer in ihm töten.“ Viele dieser Kinder erlitten schwere psychische Störungen. Einige kamen durch die brutalen Erziehungsmethoden der Mönche und Nonnen ums Leben. Viele Internatszöglinge waren hinterher in beiden Welten nicht mehr zu Hause. Ihre Kinder wuchsen meist in dysfunktionalen Familienverhältnissen auf.Viele wurden von einer weißen Pflegefamilie zur anderen weitergereicht, was fatale Auswirkungen auf ihre Fähigkeit hatte, Vertrauen zu fassen und dauerhafte Bindungen zu anderen Menschen einzugehen. Viele leiden unter einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung, werden alkohl- oder drogenabhängig oder prostituieren sich auf den Straßen kanadischer Großstädte. In seinem Roman Maikan erzählt Jean davon. Als der Roman in Québec erschien, schrieb ihm eine junge Frau aus dem Reservat: „Bevor ich ihr Buch las, mochte ich die Leute, die in den Kinderheimen aufgewachsen sind, nicht. Jetzt weiß ich, warum sie so sind.“ 2021 wurde die kanadische Öffentlichkeit durch die Entdeckung von Massengräbern auf dem Gelände einiger dieser ehemaligen Internate aufgerüttelt.Élie, der Protagonist des Romans Tiohtiá:ke, hat eine sanfte Stimme. Er handelt für gewöhnlich ruhig und überlegt. Aber er hat ein Problem. Es gibt Momente, da brennen bei ihm alle Sicherungen durch. Als zwei aufdringliche Kerle seiner Freundin Lisbeth gegenüber übergriffig werden, schlägt er sie fast tot. Élie hadert mit sich selbst, kann er seinen inneren Dämon loswerden?Wieder bekommt er Hilfe. Er schließt sich einer kleinen Gemeinschaft an, die sich für einige Tage in die Wildnis begibt, um sich auf den Spuren der Ahnen zu bewegen. Die Angehörigen der Selbsthilfegruppe zelten im Wald, schießen Rebhühner, fangen Biber mit Schlingfallen und Lachse mit dem Netz. Später begleitet Élie seine Freundin Lisbeth, die sich aufmacht, die Asche ihrer unterdessen verstorbenen Mutter Maria in ihrem Heimatort zu verstreuen, im hohen Norden jenseits der Baumgrenze. Immer wieder geht es in dem Roman um die Suche nach Identität.Jeans Vorfahren waren Wanderer zwischen den Welten. Seine Urgroßmutter verliebte sich einst als Fünfzehnjährige in einen jungen Innu und entschied, mit ihm und seiner Familie ein Nomadenleben in der Wildnis zu führen. Diese Geschichte erzählt Jean in dem ebenfalls ins Deutsche übersetzten Roman Kukum. In Québec hat er sich über 150.000-mal verkauft. In Deutschland ist sein Autor noch ziemlich unbekannt. Dabei hat er viel zu erzählten. „In Nordamerika“, erläuterte der Autor seine Motivation zu schreiben, „beginnt die Geschichte mit Christoph Columbus 1492, diejenige Kanadas mit Jacques Cartier 1534. Aber wir leben hier seit 15.000 Jahren. Wenn wir unsere Geschichten nicht erzählen, wer dann?“Placeholder infobox-1
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