„Tausend und ein Morgen“ von Ilija Trojanow: Unter dem Plastik liegt viel Strand
Gesellschaftsutopie In Ilija Trojanows großartigem Zukunftsroman versuchen die zukünftigen Menschen die alte Welt zu verstehen. Per Zeitreise geht es zurück in unsere Zeit, die längst vergangen ist. „Tausend und ein Morgen“ endet ungewöhnlich hoffnungsvoll
Ilija Trojanow – Die Leidenschaft für den Anarchismus packte den Schriftsteller schon früh
Foto: Imago/agefotostock
Stellen wir für uns für einen Moment lang vor, eine Gesellschaft ohne Armut, Krieg und staatliche Unterdrückung sei Wirklichkeit geworden. „Polizei“, „Geld“ oder auch „Freizeit“ wären dann nicht mehr gebräuchliche Wörter für Sachverhalte, die von der Geschichtsforschung nun mühsam rekonstruiert werden müssten. Einem Kind, das in diese Welt hineingeboren würde, wäre nur sehr schwer zu vermitteln, was es überhaupt damit auf sich hat.
Ilija Trojanows gerade erschienener Roman Tausend und ein Morgen führt uns in eine Welt, die unsere Zeit längst hinter sich gelassen hat. Was es damit auf sich hatte, kann erfahren, wer sich auf eine Zeitreise begibt. Cya, die Protagonistin der Erzählung
der Erzählung, wurde darauf in zahlreichen Simulationen vorbereitet.„Tausend und ein Morgen“ – Die Idee einer herrschaftslosen GesellschaftEin erstes Abenteuer erlebt sie bei den Piraten der Karibik. Sie wird die Gefährtin einer in Männerkleider gehüllten Seeräuberin und erlebt, wie demokratisch es an Bord der raubeinigen Gesellen zugeht – Sozialversicherung inklusive. Doch der von ihr angezettelte Versuch, gemeinsam mit einer Gemeinschaft freigelassener Sklaven die Macht des Gouverneurs gewaltsam zu brechen, scheitert an einem Verrat. Weitere Reisen – immer in Begleitung einer künstlichen Intelligenz namens Gog – führen sie nach Indien, in das Jugoslawien zur Zeit der Olympischen Winterspiele, die 1984 mitten im Kalten Krieg in Sarajevo stattfanden, und in das revolutionäre Russland. Sie bewegt sich mal im Geheimdienst-Milieu, unter politischen Rebellen und Ordnungshütern auf Verbrecherjagd. Immer wieder versuchen Cya und andere Zeitreisende, dem Gang der Geschichte durch gezieltes Eingreifen eine positive Richtung zu geben. Dabei müssen sie feststellen, wie schwer es ist, jene Stelle zu finden, an der die Drehtür der Geschichte aus den Angeln gehoben werden könnte.Trojanow hat viele Reisebücher geschrieben. Mit dem historischen Roman Der Weltensammler über den britischen Afrikaforscher und Kolonialoffizier Richard Francis Burton feierte er 2006 seinen internationalen Durchbruch. Die Flucht mit den Eltern aus dem kommunistischen Bulgarien, das Aufwachsen in Kenia, längere Aufenthalte in Indien und anderen Ländern außerhalb Europas und der westlichen Welt haben seinen Blick für kulturelle Unterschiede geschärft. Er hat Bücher übersetzt, sich mit zwei selbst gegründeten Verlagen und in unzähligen Veranstaltungen um Literatur aus Ländern bemüht, deren Dichter und Denkerinnen hierzulande meist unter der Wahrnehmungsschwelle des Kulturbetriebs bleiben. Auf vielen Reisen erfuhr er, dass es möglich ist, Dinge anders – menschenfreundlicher – zu gestalten, als wir es heute im kapitalistischen Westen tun. Von dort ist es gar kein weiter Weg zur Utopie – in Trojanows Fall die Idee einer herrschaftslosen Gesellschaft.Die Leidenschaft für den Anarchismus packte den Schriftsteller, als er in jungen Jahren die Zeitschrift Unter dem Pflaster liegt der Strand und eine Bakunin-Ausgabe in die Hand bekam. Für den Hamburger Verlag Edition Nautilus gab er unter dem Titel Anarchistische Welten eine Sammlung mit zeitgenössischen Beiträgen heraus, die sich der Idee der herrschaftslosen Gesellschaft auf ganz unterschiedlich Weise widmen: mal ideengeschichtlich, dann wieder historisch und schließlich ganz praktisch und gegenwärtig.Tausend und ein Morgen ist Trojanows zweiter Zukunftsroman. Der erste hieß Autopol, entstand vor einem Vierteljahrhundert und erzählte von einer dystopischen Welt, in der gefährliche Güter, Verbrecher und Rebellen als Sondermüll entsorgt werden. Das sorgte damals für Aufmerksamkeit, weil das Buch aus einem vom ZDF-Kulturmagazin Aspekte initiierten Schreibexperiment im Internet hervorging, was damals tatsächlich noch Neuland war – zumindest für die schreibende Zunft.In der utopischen Szenerie des vorliegenden Romans geht es nicht um ständige Verbesserung mit dem Ziel der Perfektion, sondern um lustvoll erlebbare Vielfalt. Während sich in unserer kapitalistischen Gegenwart unter der Fahne der Freiheit erstaunlich viel Konformismus versammelt, wird in Cyas Welt demokratisch entschieden und der Zugang zu den Ressourcen gerecht verteilt. Hier lernen wir das „flüssige Denkmal“ kennen. Statt einzelne herausgehobene Helden auf immer und ewig im Gedächtnis der Nachgeborenen zu verankern, werden möglichst alle gewürdigt, die sich um das Wohl ihrer Mitmenschen verdient gemacht haben. Das „konnte im Frühjahr eine Frau sein, die eine bakterielle Entgiftungsanlage entwickelt hat, im Herbst ein Mann, der ein Leben lang nichts anderes getan hat, als Töne und Pausen ineinanderzulegen. Wer wann geehrt wird, hängt allein von den Neigungen in der Nachbarschaft ab. Alle sind eingeladen, Vorschläge zu unterbreiten und zu debattieren.“Erinnert an Ursula K. Le Guins Tragetaschen-TheorieAber auch in einer Welt, in der die meisten unserer heutigen Probleme gelöst sind, können Konflikte nicht ganz vermieden werden und muss nach adäquaten Lösungen gesucht werden. Mal abgesehen von den Altlasten, mit denen sich die Zukunftsmenschen noch zu befassen haben, nachdem längst nicht mehr klar ist, wozu beispielsweise die für sie kaum begreifliche Menge an toxischem Plastik einmal von Nutzen gewesen sein soll. Was ist zu tun, wenn in Utopia ein Charismatiker nach Macht strebt und Anhänger findet, die ihn dabei unterstützen? Zwar gibt es keine materielle Armut mehr, aber dennoch das Leid jener, die zu wenig geliebt werden.Zuweilen fühlt man sich bei der Lektüre des Buchs an eine andere große Erzählerin erinnert: Ursula K. Le Guin, die vor fünf Jahren verstorbene Autorin phantastischer Literatur. In ihrem Roman The Disposessed (dt. Freie Geister) werden wir in eine von Anarchisten gegründete Gesellschaft eingeführt, in der die Herrschaftslosigkeit allerdings unter ökonomischen Mangelbedingungen organisiert werden muss. Der Held ihrer Geschichte, ein in Ungnade gefallener genialer Physiker, begibt sich auch auf eine Reise zum Nachbarplaneten und macht dort seine Erfahrungen mit einem kapitalistischen und einem staatssozialistischen System.Vor 35 Jahren veröffentliche die feministische und unübersehbar mit anarchistischen Ideen liebäugelnde Autorin ihren erst heute auch hierzulande breit rezipierten Essay Die Tragetaschen-Theorie des Erzählens, der auch Trojanows Schreiben inspiriert haben könnte. Le Guin regt eine neue Form fiktiver Literatur an, die sich von den eingefahrenen Heldengeschichten absetzt und auf diese Weise neue, positive Erfahrungen erst möglich macht. Sie plausibilisiert diesen Gedanken mit Beispielen aus der Frühgeschichtsforschung, in der eingefahrene Interpretationsmuster seit den 1960er Jahren auf eine produktive Weise hinterfragt worden waren. So bestand die Ernährung vor Einführung des Ackerbaus zu mehr als 80 Prozent aus Nüssen, Samen, Früchten, Insekten und anderem Kleingetier. Warum wurden sie dann Jäger- und nicht etwa Sammlerinnengesellschaften genannt? Und wenn damals nur wenige Stunden gearbeitet werden musste, um das Lebensnotwendige herzustellen, warum bezeichnet man sie dann als Mangel- und nicht etwa, wie der US-amerikanische Anthropologe Marshall Sahlins, als „Überflussgesellschaft“?Auch Trojanow geht es darum, neue Wörter und neue Erzählungen zu erfinden, um aus der Gewalt herauszufinden, die wir mit den immer gleichen Geschichten in Endlosschleife hervorbringen. War der Gesang der Sirenen wirklich das Todesurteil für die Männer, die ihm begegneten? Diesen Gedanken legt der Roman nahe: „Vielleicht war es“, heißt es dort an einer Stelle, „im Land der Sirenen, so schön, dass keiner der Männer zurückkehren wollte, in seine grausige eigene Welt. Und zudem verhindern wollte, dass sich die Nachricht herumspricht, sonst kämen mehr, sonst kämen alle und es würde eng werden in ihrem frisch entdeckten Paradies. Und die Zurückgebliebenen, die fühlten sich im Stich gelassen, also haben sie den Sirenen einen schlechten Ruf angedichtet.“ Trojanows Buch endet ungewöhnlich hoffnungsvoll. Es müsse noch so viel erzählt werden, anders erzählt werden. Wie das gehen könnte, hat er selbst eindrucksvoll gezeigt.
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