GOETHE LESEN MACHT ARBEIT, SEINE BIOGRAPHIEN ABER AUCH Im zweiten Band seiner monumentalen Goethe-Biographie stellt Nicholas Boyle den Dichterfürsten in den Kontext seiner Zeit
Jetzt, zum 28. August rauscht's noch mal - dann wird wieder Ruh' sein, und Goethe der Klassiker, über den man alles wissen kann, wenn man unbedingt will. Aber wer will das schon wirklich ? Bald werden alle Goethe-Feier-Bücher vor sich hinstauben, er selbst als Reak tionär, Fürstenknecht, Schweinebacke und Frauenfeind auf der einen Seite ent larvt, auf der anderen Seite als früh moderner Humanist, als literarisches Telos des deutschen Kulturbetriebs wieder mal vereinnahmt sein. Bis zum nächsten Jubeltermin. Goethe ist eine Art Sekundär-Helix für Themen, die er meist auch noch selbst aufgebracht hat. Günstig, daß man in so vielen Kommentaren, Intepreta tionen und Exegesen sein Werk derart in Häppchen vorver daut bekommt, daß man sic
sich die Lektüre der Texte sparen kann. Denn Goethe lesen macht Arbeit. Nicht nur quantitativ. Niemand, der nur noch ein bißchen was anderes zu tun hat auf der Welt, kann den »ganzen Goethe« gele sen haben, eine statistische Tat sache, die gegenüber der Autorität von »Goethe-Kennern« ein wenig immun macht. Wieviel Arbeit Goethe wirklich macht, zeigt einmal mehr Nicholas Boyle aus Cambridge. Der zweite Band seiner Goethe-Biographie liegt jetzt auf deutsch vor. Er behandelt die Jahre 1790 bis 1803 und braucht dafür 969 Seiten, exk lusive Anhang. Dabei war der Gesamtwurf nur auf zwei Bände angelegt, und man darf schon gespannt sein, ob Boyle die Jahre 1804 bis 1832 dann tat sächlich,wie pro jektiert, in einen einzi gen weiteren Band packen wird.Der Dichter in seiner Zeit heißt der Untertitel des Mammutwerks. Zeitläufte sind komplizierte Dinge, und es ist ein deutlicher Vorzug des Boyleschen Unternehmens, daß er sich nicht auf bequeme Reduktionen einläßt. Im Gegenteil: Wie schon der erste so in stistiert auch der zweite Band darauf, so viele Kontexte wie möglich sichtbar zu machen. Individuelle und gesellschaftliche, politische und geistesgeschichtliche, militärische und naturwissenschaftliche. Und das alles inbezug auf eine Zeit, in der man nicht einen Hintergrund etablieren kann, vor dem dann die Protagonisten agieren, weil sich eben dieser Hintergrund pausenlos verändert. Erwähnen wir als Beispiel nur die intellektuelle Entwicklung von Fichte, den Goethe zunächst als brilanten Kopf be grüßte, und der dann all die verwickel ten termi nologischen Wege und Irrwege des »deutschen Idealismus« (bis zur un frei willigen Komik) vorzeich nete, respek tive mitging. Denen bis in die feineren Verästelungen zu folgen, war selbst einem hellen Köpfchen wie Goethe unmöglich. Dennoch entläßt uns Boyle an solchen Stellen (nicht nur bei Fichte, sondern auch Schelling, Hegel, Hölderlin oder Novalis) nicht in erle ichtertes Achselzucken. Er rekonstruiert penibel all diese ver sch lungenen Denkpfade, um notfalls zeigen zu können, warum Goethe da- oder dorthin nicht fol gen wollte oder konnte. Das wiederum ist kein knöcherner Vollständigkeitswahn, sondern hat den guten Zweck, Goethe im jeweiligen Spannungs feld der intellek tuellen Kräfte seiner Zeit darzustellen. Die man dann, logischerweise, eben nicht als »Goethezeit« begreifen kann, denn der Boylesche Goethe agiert nicht nur, er muß auch reagieren. Vor allem auf zwei Großereignisse, auf die selbst unser Geheimrat nicht den geringsten Einfluß hatte, die aber alles tangierten: Die französische Revolution und ihr deutsches, eher innerliches Gegenstück, die Philosophie Immanuel Kants. Wenn die behandelten 13 Jahre aus Goethes Leben überhaupt einen Gesamtrahmen haben, dann diesen - und beide Wirkmächte sind mit dem Jahr 1803 noch keineswegs er schöpft.Die Revolution und Kant bestimmten nicht nur Goethes physische Existenz (auch er mußte qua Amt im Ardennenschlamm der »Campagne in Frankreich« zumindest potentiell sein Leben riskieren) und seine prekäre Freundschaft mit Schiller (Stichworte: Von den »revolutionären« Räubern bis zu den kantianischen Ästhetischen Briefen) - sie zwangen ihn zu einer pausenlosen Reflexion und Revision seiner eigenen Standpunkte und Theorien. Um dies über die Jahre plausi bel belegen zu können, muß Boyle erst einmal Kollegs halten: Über den Lauf der Revolution nach 1789, über die verschiedenen, differen zierten Auswirkungen auf die recht srheinischen Reichsgebiete, über das geistes geschich liche »Äquivalent«, die Kantsche Kritische Philosophie und deren Rezeptionsstufen. Diese Kollegs muten dem Leser wegen ihrer Mischung aus tour de force und penibler Kleinteiligkeit eine Menge zu, und bi eten den jeweiligen Fachgelehrten vermutlich eine Menge An griffs fläche. Denn bei allem beein druck enden und blendend aufgear beiteten Wissen ist eine Frage nicht wegzudiskutieren: Inwieweit übernimmt Boyle bei der voraussetzungsschaffenden Skizzierung der historischen Tatsachen - vo rau seilend oder unbe wußt anver wandelt - Goethesche Positionen? Sind Boyles skeptisch-spöttische Untertöne bei der Schilderung der Paris er und Mainzer Turbulenzen während der Terrorphase der Revolution Ausdruck seiner Sympathie mit Goethes skeptisch-spöttischen Ein schätz ung der nämlichen Ereignisse ? Oder reflek tieren sie auf eine bes timmte, ver nicht end kri tische Revo lutions-Historiographie, wie sie Boyles Oxforder Kollege Simon Schama vor ein paar Jahren in Der Zaudernde Citoyen vorgelegt hatte?Zweites Beispiel: Ist es nicht allzu goetheanisch gedacht, wenn Boyle die beiden frühromantischen Jünglinge Wackenroder und Tieck karikiert und ihre zugebenermaßen leicht wirrköpfige und schwarmgeistige Mittelalter-Idolatrie als den ignoranten Blick der kommenden Zentralmacht Preußen ab tut? Vielleicht lassen sich solche Frage aber erst nach dem 3. Band beantworten, wenn sich die katholische Romantik zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft entwickelt haben wird. Es liegt allerdings eine vergnügliche Ironie darin, daß Boyle Goethe als ein von den Zeitläuften getriebenes Menschlein versteht und nicht als »Titan«, und den noch der Versuchung nicht widerstehen kann, die Darstellung der Zeitläufte auf dieses Menschlein hinzuschneidern. Am vergnüglichsten, wenn er dabei unerschütterlich britisch cool ist. Bei der oberflächlich vor Gerechtigkeit triefenden Darstellung der Beziehung Goethe/Schiller etwa. Wie Schiller eifersüchtig versuchte, seinen Einfluß auf Goethe auszuweiten, wie er (bei den gemeinsamen »Xenien«) eine Petze war, für die Goethe die Kastanien aus dem Feuer holen sollte, und wie beide intrigierten, schwindelten, koalierten und heuchelten, um die Gunst des Publikums buhlten (das sie verachteten) - das ist eine schöne Lehrstunde über den Umgang großer Geister miteinander. Boyle macht daraus ein Paradigma deutscher Geistesgeschichte, gesehen von außen. Vieles bleibt ihm rät selhaft. Das aber ist, gegenüber hiesigen Vereinnahmern und Funktionalisierern die deutlich intelligentere Position.Nicholas Boyle: Goethe II. 1790 - 1803. Dt. von Holger Fliessbach. München: C.H. Beck 1999, 1.115 Seiten, 98,- DM
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.