Als der Genfer Naturwissenschaftler Bénédict de Saussure am 3. August 1787 endlich auf dem Gipfel des Montblanc stand, war ihm speiübel. Der Montblanc ist bekanntlich mit 4.807 Metern der höchste Berg Europas, und war im 18. Jahrhundert zwar noch nicht viel bestiegen, aber schon ein Tourismus-Ziel erster Ordnung. Am 10. Mai 1996 steht die dänische Bergsteigerin Lene Gammelgaard auf dem höchsten Berg der Welt: Auf dem Mount Everest, in einer Höhe von 8.848 Metern über dem Meeresspiegel. Sie hat für diesen Trip ungefähr 60.000 Dollar berappt. Dafür sind ihre Gefühle erhaben: "Ich hab's geschafft, verdammt noch mal! Ich habe den Gipfel der Welt erreicht! Schnee, Eis und Berge sind unter mir - alles ist unter mir, soweit mein Auge reicht. Bin ich euphorisch, überschwänglich, überwältigt, enttäuscht? Nein, ich bin von der göttlichen Mutter der Erde nicht enttäuscht. Ich bin stolz, stolz. Ruhig, schweigend, ungeheuer zufrieden." (Die letzte Herausforderung, München 1999)
Lene Gammelgaard war zur Zeit der Besteigung 35 Jahre alt, eine mit modernsten Methoden trainierte Sportlerin und mit allem Service einer professionellen Expeditions-Leitung ausgestattet. De Saussure war knapp zwölf Jahre älter, ein Gelehrter der Aufklärung par excellence und belastet mit ungeheuren Gepäckstücken: Barometern, Hygrometern und trigonometrischem Gerät. Auch er hatte einen riesigen Hilfstross bei sich. Auch er hatte für die Expedition erhebliche finanzielle Mittel aufwenden müssen. Erstbesteiger war er nicht, vor ihm war schon eine andere Expedition erfolgreich oben.
Vor Lene Gammelgaard waren vermutlich Tausende anderer Menschen auf dem Gipfel des höchsten Berges der Welt - allein im Frühjahr 1993 zum Beispiel 294 Bergsteiger. Als sie sich 1996 endlich auf dem Gipfel im Stolz sonnte, operierten geschlagene 30 Expeditionen am gleichen Berg. De Saussure hingegen war es auf dem Gipfel nicht nur speiübel, er war auch mürrisch. "Ich war wie ein Gourmet, den man zu einem großartigen Festmahl eingeladen hat und dessen tiefer Abscheu ihn daran hindert, es zu geniessen", notierte er (nach Simon Schama: Der Traum von der Wildnis.Natur als Imagination. München 1996), nachdem er wieder von Berg runter war. Außerdem war die Sicht vom Gipfel nichts - der Montblanc war zu hoch, die Details des Panoramas verschwammen im Dunst. Saussure blieb drei Stunden auf dem Gipfel, sammelte seine Daten ein und machte, mit Gliederschmerzen, Blasen an den Füssen und Herzrasen, dass er wieder runter kam. Lene Gammelgaard hält die Logos (irgendwelche Plastiktüten) ihrer Sponsoren in die Kamera und macht sich nach ein paar Minuten wieder an den Abstieg. In die Katastrophe.
So merkwürdig parallel und so merkwürdig unterschiedlich diese beiden Extremerfahrungen mit einem Zeitunterschied von über 200 Jahren sind, so beredt sind sie auch. Sie illustrieren anscheinend eine Konstante menschlichen Verhaltens, ungeachtet von Geschlecht und kulturellem Kontext: Den Wunsch, sich extremen Erfahrungen auszusetzen. Aber bei genauerem Hinsehen erweist sich die zeitliche Distanz zwischen de Saussure und Gammelgaard (die Unterschiede des intektuellen Zuschnitts der beiden mal beiseitegelassen) auch als Chronologie eines zunehmenden Sinndefizits. Die vordergründige Naivität, mit der Gammelgaard ihren Entschluss begründet, den höchsten Berg der Welt zu besteigen, scheint ihr selbst unheimlich. Zunächst formuliert sie ein Programm: "Das Unverdorbene, das Unbekannte war es, was ich suchte ... und das Bedürfnis, die Beschränkungen des Alltags hinter mir zu lassen." Dann nimmt sie es zurück: "Ich wusste tief in meinem Inneren, dass es absolut dumm war, unter Einsatz meines Lebens zu versuchen, den höchsten Gipfel der Welt zu erklimmen. Ich war nicht der Überzeugung, dass auf der Spitze dieses Berges die Glückseligkeit läge, und ich war auch nicht der Überzeugung, dass ich selbst und mein Leben sich ändern oder bessern würden, wenn ich einmal oben gestanden hätte." Bénédict de Saussures Frust hingegen leitete sich eben genau davon ab: Er war so tief enttäuscht, weil er kein metaphysisches Surplus aus seinem qualvollen Aufstieg saugen konnte, wie es der geistesgeschichtliche Kontext seiner Zeit eigentlich versprach. Ihm war banal übel, anstatt dass er von der Leidenschaft des Erhabenen geschüttelt wurde, wie sie Edmund Burke in seiner einflussreichen, 1757 erschienen Philosophischen Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen versprach.
Denn Burke hatte ausgerechnet das Hochgebirge, das Riesige, das Schrundige, das Nicht-Gerade zu einem bevorzugten Ort des Schreckens ernannt. Und zwar vom Gipfel aus gesehen übrigens: Denn für Burke ist der Abgrund noch schrecklicher (also noch erhabener) als die Höhe. Aber was hat man auf 4.807 Metern, statt des erhabenen Schreckens? Einen würgenden Magen. Und wenn de Saussure schon ästhetisch-affektiv aufs banalste Niveau zurückfiel, stand es umso schlimmer ums moralische. Denn die moralphilosophische Vorlage der Zeit gab Albrecht von Hallers grosses Lehrgedicht Die Alpen, erschienen 1732 und in allen Köpfe der Zeit präsent. Außerdem war de Saussure mit Haller befreundet, und somit (vermutlich) besonders ungnädig, weil er dort, wo Haller die reine, ideale Tugend vermutete, nur Gliederreißen fand. Hallers Alpen versprachen ja in der Tat noch ein Purgatorium für den versauten Zivilisationsmenschen durch frische, klare Bergluft, reines Quellwasser, unberührte Natur.
Natürlich waren Hallers Alpen weniger ein Lob der Bergwelt (denn auch den Zeitgenossen waren, wie Simon Schama anmerkt, die kropfigen, schwachsinnigen inzucht-gebeutelten und bitterarmen Bewohner jener tugendhaften Regionen nicht verborgen geblieben) als eine Kritik der Zivilisation, vornehmlich der städtischen. Aber das Gedicht gab immerhin am Beispiel des Hochgebirges eine utopische Norm oder Möglichkeit vor, die Lene Gammelgaard überhaupt nicht mehr im Blick hat und gar als "dumm" bezeichnet. Sie will nicht moralisch gebessert werden, wohl aber das "Unverdorbene".
Ironischerweise sind alle Attribute, gegen die Aufklärer wie Haller zivilisationskritisch angelaufen waren, ausgerechnet am Event-Point Mount Everest versammelt. Die Expedition, zu der auch Gammelgaard gehörte, wurde sogar, doppelt ironisch, zum Paradigma moralischer Verkommenheit am Berg. Jon Krakauer (In eisigen Höhen, München 1998) und der Filmemacher David Brashear (Bis zum Äußersten, München/Zürich, 1999) haben den Katastrophen-Frühling 1996, bei dem 12 Menschen am Mount Everest ums Leben kamen, minutiös rekonstruiert. Die Skrupellosigkeit von kommerziellen Bergführern, die gegen Geld noch jeden fußkranken Zahnarzt aus dem Mittleren Westen auf den Gipfel zu schleppen versprechen, die Ausbeutung der einheimischen Scherpas, die gefährliche Mediengeilheit irgendwelcher TV-Tussis, die sich schweineteures und sperriges HighTech-Equipment den Berg hochtragen lassen, die Verschmutzung der Natur (Müll allerorten und zugeschissene Hänge, als obs das Paris des 18. Jahrhunderts wäre, um im Bild zu bleiben) oder die leichtfertige Gefährdung anderer bei Rettungsaktionen für durch Dummheit verursachte Unglücke. Von grotesken Bildern und Situationen ganz abgesehen: Die "göttliche Mutter der Erde", mitten im hippieheiligen Shangri-La gelegen, Sagarmatha, der heilige Berg - mittags um zwölfe. Derart überlaufen, dass sich irgendwo zwischen 7.000 und 8.000 Metern der Verkehr staut, Seilschaften aufsteigend und Seilschaften absteigend sich in die Quere kommen, verheddern, veritablen traffic jam erzeugen, bei dem Neid und Missgunst Urständ feiern und ein paar ganz Dreiste Sauerstoffflaschen verstecken und gegenseitige Hilfeleistung verweigern. Ganz wie in der bösen Zivilisation. Und wer all die europäischen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Bergbesteigens als irrelevant abtun möchte und sich dem genius loci entsprechend auf buddhistische Legitimationen berufen mag (Zen ist bei US-Hippies und Outdoor-Freaks besonders beliebt, wie Brashear und Krakauer berichten), der knallt am Mount Everest ebenfalls hart auf den Boden der Tatsachen.
Sind in der buddhistischen Ikonographie der "heiligen Berge" die Gipfel die Orte, von denen aus man auf die "immaterielle Essenz des Geistes der Erde" (S. Schama) blickt und per Meditation den Menschen von der sterblichen Hülle befreit, zeigt der Blick auf den Everest in der Tat allenthalben Hüllen. Nämlich sehr sterbliche. Der Berg ist mit Dutzenden von Leichen bedeckt, die zu bergen zu teuer oder zu aufwendig wäre. Es gibt Leichen in Plastiksäcken, Leichen ohne Plastiksäcke und Leichen in Häppchen (tiefgefrorene, die beim Absturz zerborsten sind). Der Mount Everest ist längst zur Morgue Everest geworden.
Selbst noch aus diesem makabren Umstand quetscht die absolut sinndefizitäre Event-Industrie eine aparte Legitimation: Die Extrem-Expedition als nekrophile Veranstaltung, um die Leichen anderer, älterer Epeditionen zu suchen. Darüber berichten in grusliger Naivität Jochen Hemmleb, Larry A. Johnson und Eric R. Simonson in ihrem Buch Die Geister des Mount Everest, (Hamburg 1999). Sucht man bestimmte Leichen (hier die verunglückten Briten Mallory und Irvine, die 1924 abgestürzt waren) findet man garantiert weitere (oder Spuren von Katastrophen) und kann dann die nächste Expedition ausrichten, ad infinitum. So gesehen, würde vermutlich der alte Haller die Tugendhaftigkeit schon fast wieder in den Städten ansiedeln.
Natürlich ist in den 200 Jahren zwischen de Saussure und Gammelgaard in der Legitimation von Extremerfahrungen noch viel mehr passiert: Alles mögliche, vom imperialistisch-kolonialistischen Wettlauf der Nationen bis hin zum sportlichen Wettlauf der "Systeme" - auf die höchsten Gipfel, ins ewigste Eis, auf den tiefsten Grund der Meere. Dazu kamen die diversen wissenschaftlichen Legitimationen, die kaum je wirklich diskutiert worden sind. Dennoch haben solche Legitimationsstrategien (die immer dann nötig zu sein scheinen, wenn es um etwas geht, was als nicht ganz einsichtig empfunden wird) wenigstens noch einen, wenn auch fragwürdigen rationalen Kern. Die massentouristische Explosion der Extremsportarten dagegen, die angeblich der befreienden, emanzipatorischen Entgrenzung des zivilisatorisch eingeengten Individuums dienen, passt geradezu tragisch-komisch zur me-decade, dem egomanen, letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Kaum aber verwechselt sich das zivilisatorisch eingeengte Individuum mit der ganzen Menschheit (der Prozentsatz von Leuten in den westlichen Kulturen, die genug Geld verdienen, um sich "eingeengt" zu fühlen, ist ein statistischer Nullwert), sitzt es als zahlungskräftiges, aber winziges "Marktsegment" den Versprechungen von Nervenkitzel und Risiko auf. Man merkt das immer am scheinheiligen Entsetzen, wenn das Produkt tatsächlich versehentlich hält, was es verspricht: Lebensgefährlich zu sein. Wenn bei Canyoning, Rafting, Extrem-Klettering oder wie all das sonst heißt, hin und wieder wirklich Menschen umkommen, dann werden absurde Sicherungsmaßnahmen ergriffen, die alles noch sensationeller machen. Nach dem Lawinenunglück in Galtür wurden schicke Schutzmauern gebaut, damit noch mehr Leute dort hinfahren, um "authentischen" Lawinenkitzel zu erfahren. So wie Lene Gammelgaards Stolz bei der Jagd nach dem Unberührten in einem Müll- und Leichenfeld. Anscheinend lässt der moderne Erfahrungshaushalt jeden tollen Affekt zu, aber nicht den naheliegendsten: Dass es einem ganz einfach speiübel sein kann. Denn dafür hat man nicht bezahlt.
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