Folge 138: Gesine Schwan

Jung & Naiv Ein Gespräch mit Gesine Schwan über Good Governance vs. Bad Governance, was das eigentlich sein soll, und wie unsere Parteien Propaganda machen
Folge 138: Gesine Schwan

Da ist uns eine besondere Episode gelungen: Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance und einstige Herausforderin von Horst Köhler um das Amt des Bundespräsidenten, hatte sich für Jung & Naiv eine Stunde Zeit genommen. Herausgekommen ist ein Gespräch über Good Governance vs. Bad Governance, was das eigentlich sein soll, wie unsere Parteien Propaganda machen, warum das Prinzip "Schwäbische Hausfrau" und die sogenannte Schuldenbremse Unsinn sind, warum die Austeritätspolitik Bildung kaputt macht, warum sie Angela Merkel für eine Opportunistin hält und wie sie die von Gauck, Steinmeier und von der Leyen propagierte neue deutsche Außenpolitik findet. Ein wahres Marmeladenglas einer Folge! (Bitte unterstützt unser aktuelles Crowdfunding "Jung & Naiv goes Europe" https://krautreporter.de/JungNaivEurope)

Zitatehighlights

"Angela Merkel hat ein Politikverständnis, das dem Erfordernis von Demokratie entgegen gesetzt ist, nämlich dass Dinge öffentlich debattiert werden müssen, auch um die negativen Seiten von Entscheidungen, die nicht immer sofort auf der Hand liegen, ans Tageslicht zu bringen. Das ist ja der Sinn von solchen Debatten, um dann eventuell einen anderen Kompromiss zu finden. Das alles macht sie nicht. Und zugleich legt sie großen Wert darauf – und ich würde sagen ohne große innere Skrupel, ohne große innere Probleme –, ihre Konzepte, das was sie tut, das was sie sagt, so anzulegen, dass sie das Gefühl hat, eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung findet das so gut. Das kann ich auch als Macht-Opportunismus bezeichnen. Manche sagen, sie versucht die Opportunitäten, also die Gelegenheiten zu nutzen. Aber ich glaube, es geht noch tiefer, dass ihr Verständnis von Demokratie so etwas wie öffentliche Debatten über Alternativen nicht enthält."

"Das ist ganz simpel: Sie wissen, dass wir Mitverantwortung haben, das wissen auch die Sozialdemokraten. Aber die Kanzlerin – mit einer Beliebtheit von 70, 75 Prozent – verschweigt systematisch und immer wieder, dass wir Mitverantwortung haben. Die hat das nie gesagt. Ich wäre sehr neugierig darauf, einen einzigen Satz von Angela Merkel zu hören, in dem stünde: Wir Deutsche haben unseren Verantwortungs- und sogar einen Schuldanteil daran, dass es so schlecht gelaufen ist. Das hat sie nie gesagt. Sondern sie hat es immer nur so dargestellt: Wir sind tüchtig, deswegen geht es uns besser. Und wir sind schwäbische Hausfrau, was in der Sozialökonomie oder in der Wirtschaft, die sogar über Landesgrenzen hinweggeht, einfach ein unsinniger Begriff ist."

"Und zum Bundespräsident will ich mich jetzt da nicht äußern. Es fällt auf, dass er das jetzt alles sagt, nachdem das schon von der Regierung kommt. Aber gut, das ist natürlich... das ist auch ein Amstverständnis."

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Du sprachst gerade von der Schuldenbremse. Du hast auch gesagt, das Prinzip „schwäbische Hausfrau“ funktioniert im Staat nicht. Warum gibt es dann eine Schuldenbremse?

"Die Schuldenbremse ist eingerichtet worden, um in der Haushaltspolitik das Prinzip der schwäbischen Hausfrau durchzusetzen, die nicht mehr Geld ausgibt, als sie hat."

Du hast gesagt, das ist unsinnig.

"Ja, es ist unsinnig. Dass eine schwäbische Hausfrau, wenn sie Essen vorbereitet, nicht mehr ausgibt, als sie hat, das kann ich nachvollziehen. Dass es aber auch in der Familie sinnvoll sein kann, ein Haus zu kaufen und dafür Schulden zu machen, das rentiert sich immer – wenn die Schulden nicht zu hoch sind. Das habe ich auch gemacht, weil ich nichts geerbt habe. Ich habe zunächst hohe Beiträge gezahlt und nach 30 Jahren ist der Wert vom Haus höher als das, was man bezahlen würde, wenn man dafür Miete zahlt. Also das rentiert sich – auch für eine schwäbische Hausfrau. Die ist ja nicht blöd, wenn sie wirklich eine schwäbische Hausfrau ist. Sondern sie muss auch in die Zukunft denken und darf dabei Schulden machen."

Angela Merkel sagt ja auch immer: Wir dürfen unseren Kindern nicht so viel Schulden hinterlassen und so weiter. Heißt das, wenn sie sagt, man solle den Kindern keine Schulden hinterlassen, man soll den Kindern auch keine Häuser hinterlassen?

(Gesine Schwan lacht laut auf.)

Ich meine,wir bauen ja mit diesen Schulden Infrastruktur. Sie sagt dann also, es gibt auch keine neue Infrastruktur?

"Das war auch bei den Straßen umstritten. Die liegen immer nah: Alle fahren Auto und wollen mit den Straßen was machen. Man könnte auch an Schienen denken. Man könnte auch an neue Medien..."

an DSL-­Leitungen ...

"...an so etwas alles denken. Je weiter weg von der Alltagswelt, desto schwieriger ist es zu erklären. Aber in der Tat: Wenn man nur darauf guckt, dass das Defizit im Haushalt nicht zu groß wird und dann Infrastruktur­ und Investitionsaufgaben vernachlässigt, dann vernachlässigt man auch die Zukunft der Kinder. Schau Dir zum Beispiel die Weltbank in Washington an. Das ist im Grunde keine Bank, sondern eine Entwicklungsinstitution, die Gelder ausreicht in Länder, denen es schlecht geht, und die auf diese Weise die Entwicklung voranbringen müssen. Selbst wenn man da sehr, sehr raffinierte Volkswirte oder Ökonomen fragt, wie hoch darf denn die Verschuldung eines Staates sein, dann gibt es darauf keine Antwort wie, was weiß ich, 70 Prozent oder so etwas. Das ist völlig unsinnig. Die Verschuldung darf so hoch sein, wie ein Land es sich aufgrund seines Reichtums, der Gebildetheit seiner Arbeitnehmer leisten kann und wodurch auch die Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Schulden zurück bezahlt werden. Es kann ein ganz unausgebildetes schwaches Land geben und wenn die auch nur 40 Prozent Staatsverschuldung haben, ist das schlimmer als bei einem reichen, entwickelten, mit guten Arbeitskräften ausgestatteten Land."

Ihr könnt uns ab sofort unterstützen: beim "Jung & Naiv goes Europe" Crowdfunding:

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