Brodelndes Raunen

Kino In „Sunset“ geht eine junge Frau im Budapest der 1910er Jahre einem dunklen Familiengeheimnis nach
Ausgabe 24/2019

"Hinter den schönsten Dingen können sich die schlimmsten Gräuel der Welt verbergen“, raunt ein mysteriöser Mann in Schwarz am Ende von Regisseur László Nemes‘ neuem Film Sunset. Nicht nur entpuppt sich der Satz gewissermaßen als Leitspruch dieses visuell herausragenden Films; die Szene steht auch exemplarisch für den Erzählmodus, den Nemes in seinem Nachfolger zum Oscar-prämierten Spielfilmdebüt Son Of Saul perfektioniert: In Sunset entwirft der Regisseur und Autor eine Vision vom Budapest der Vorkriegsjahre, das von dunklen Geheimnissen durchzogen ist – ständig wird geraunt, getuschelt, gewarnt oder auch nur bedeutungsvoll geschwiegen. So entsteht das Porträt einer paranoiden europäischen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg, das intensive Spannung erzeugt und sich beharrlich weigert, diese aufzulösen.

Sunset ist ein Film der düsteren Andeutungen, des brodelnden Schreckens unter der Oberfläche, gerade außerhalb des Sichtfelds. Wie schon im Holocaust-Drama Son of Saul unterstreicht Nemes diese Stimmung durch einen speziellen Stil: Die Kamera fokussiert das Gesicht der Hauptfigur, folgt ihr in langen Einstellungen auf Schritt und Tritt und lässt den Hintergrund gleichzeitig stark verschwimmen. Die Hauptfigur – das ist in diesem Fall Írisz Leiter (Juli Jakab), deren Eltern in Budapest ein exklusives Hutgeschäft führten, das sogar die Kaiserfamilie ausstattet. Die Eltern kamen vor Jahren bei einem Feuer im Laden ums Leben, Írisz wurde daraufhin von einer Familie in Triest adoptiert. Als junge Frau will sich die Protagonistin nun als Hutmacherin im Familienbetrieb anstellen lassen um die Wahrheit hinter dem Tod der Eltern aufzudecken. Von Beginn an aber schlägt ihr dabei intensives Misstrauen und Abneigung entgegen.

Bald wird deutlich, dass diese Vorurteile vor allem auf dem schlechten Ruf von Írisz‘ Bruder gründen, dessen Treiben in Budapest von allerlei Gerüchten umgeben ist: Nicht nur soll er damals das Feuer im Hutgeschäft gelegt haben, das seine Eltern das Leben kostete, er wird angeblich auch für den brutalen Mord an einem Grafen gesucht. Nemes offenbart diese Informationen mit hypnotischer Langsamkeit, versetzt sein Publikum in ein zunächst unüberschaubares Netz aus Intrigen und Verschwörungen. Neben dem oftmals elliptischen Schnitt und den andeutungsreichen Dialogen trägt zur allgemeinen Rätselhaftigkeit auch die undurchsichtige, schweigsame Protagonistin bei: Zwar gibt es kaum eine Einstellung, in der Juli Jakabs Gesicht nicht zu sehen ist, die Motivation und die Gefühle ihrer Figur aber bleiben verborgen. An ihrer ruhigen Entschlossenheit verzweifelt im Film schließlich auch ein Arzt, der nachdem er sie untersucht hat erklärt: „Aus manchen Menschen wird man nicht klug!“

Wir waren schon einmal hier

Der ungarische Filmemacher erschafft auf diese Weise eine labyrinthische, subjektive Filmwelt und enttäuscht stoisch die Erwartungen, die der detektivische Ausgangspunkt des Films im Publikum wecken mag. Das heißt allerdings nicht, dass Sunset sich in belangloser Mystik ergeht. Wo Son Of Saul sich unnachgiebig ins tiefste Innere des Zivilisationsbruchs der Shoah begab, erzählt Sunset vom Anfang des Endes, vom titelgebenden Sonnenuntergang über Europa, der den Kontinent für die nächsten Jahrzehnte ins tiefe Dunkel führen sollte. Weit mehr als bloß typische historische Rückschau, die dem Publikum eine sichere Distanz zum Geschehen erlauben würde, ist Sunset auch eine Warnung, wenn nicht gar eine filmische Wahrsagung für die Gegenwart: Wir waren schon einmal hier. Wo andere Kostümfilme sich oftmals auf plakative Appelle ans jeweilige Nationalgefühl beschränken, wagt Nemes einen unbequemen Blick auf eine Gesellschaft, die kurz vor der Selbstzerstörung steht.

Dass dieser Balanceakt zwischen Historienfilm, Schauermärchen und politischer Allegorie gelingt, liegt zum einen an Nemes‘ hervorragendem Drehbuch: von Kafka und Borges inspiriert, beschwört der Film eine Atmosphäre des drohenden, namenlosen Schreckens herauf. Diese illustriert er mit Bildern verschlossener Türen, verschwörerischer Blicke und immer wieder mit der verstohlenen Geste des Flüsterns ins Ohr. Jeder hat hier etwas zu verbergen, nichts ist sicher. Hinter den blutigen politischen Intrigen, deuten sich noch viel gewaltigere, unaussprechliche Geheimnisse an: Was geschieht mit den jungen weiblichen Angestellten des Hutgeschäfts, wenn sie mit speziellem Auftrag zum kaiserlichen Hof berufen werden? Welch seltsamer Geheimgesellschaft hat sich Írisz‘ Bruder angeschlossen?

Außerdem überzeugt Sunset mit einer grandiosen Mischung aus Set-, Sound- und Kostümdesign, die trotz aller unheilschwangeren Düsternis für visuelles Vergnügen sorgt. Nemes erzeugt so ein immersives Bild der 1910er Jahre, das sich nicht auf Hollywood-übliche, digitale Rekonstruktionen stützt, sondern durch ständige Bewegung von Statisten im Hintergrund lebendig wirkt. Besonders eine lange Plansequenz im Gewirr eines Jahrmarkts begeistert. Doch hinter diesen schönen Dingen lauern die Gräuel der Welt: Eine Szene macht den drohenden Einbruch des Krieges explizit deutlich, suggeriert, ähnlich wie Michael Hanekes Das Weiße Band, die Verbindung der Mikrohistorie des Films mit dem großen, schrecklichen Ganzen. Der Film endet mit einem letzten eindringlichen Close-Up der Hauptfigur, die sich wie Alice im Wunderland endgültig im Kaninchenbau verloren zu haben scheint.

Info

Sunset László Nemes Ungarn/Frankreich 2018, 142 Minuten

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