Das Ende des europäischen Binnenmarkts?

EU-Wettbewerb Unabsichtliche Handelshemmnisse bremsen den Binnenmarkt aus

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Es ist der möglicherweise größte wirtschaftspolitische Durchbruch der EU: Der europäische Binnenmarkt. Doch nun bröckelt das Fundament.

Die Geburtsstunde des europäischen Binnenmarkts

Es war ein trüber, grauer Donnerstag , als durch Änderungen am Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zum 31. Dezember 1992 der "Raum ohne Binnengrenzen" in Kraft trat. Was als langweiliger, nüchterner, bürokratischer EU-Verwaltungsakt daherkam, war in Wirklichkeit die Jahrhundert-Revolution im transeuropäischen Handel: Der europäische Binnenmarkt war geboren. Von nun an profitierten EU-Bürger von den so genannten vier Freiheiten: Dem freien Personenverkehr, dem freien Warenverkehr, dem freien Dienstleistungs- und dem freien Kapitalverkehr. Die Freiheiten trugen zur Stärkung einer gemeinsamen europäischen Identität bei und brachten auch kulturelle, soziale, arbeitsrechtliche und touristische Fortschritte mit sich. Besonders aber erfreute der europäische Binnenmarkt die Wirtschaft, denn von nun an waren nicht nur die tarifären Handelshemmnisse vom Tisch, sondern auch nicht-tarifäre Handelshemmnisse wurden weiter abgebaut. So trieb man auch eine Harmonisierung der nationalstaatlichen Rechtsvorschriften voran, um auch an dieser Stelle mögliche verschleierte Handelsbeschränkungen abzubauen und einen echten freien Binnenmarkt zu schaffen.

Gewinner ohne Verlierer?

Die Profiteure: Jedermann! Frei nach dem Theorem der komparativen Kostenvorteile aus den neoklassischen Globalisierungstheorien des 19. Jahrhunderts (u.a. David Ricardo) profitieren nicht nur die Unternehmen mit den geringsten Produktionskosten von Freihandel, sondern auch diejenigen mit höheren Produktionskosten und einem komparativen Kostenvorteil. Das erklärt der Lehrstuhl für VWL an der TU Chemnitz treffend:

„Außenhandel lohnt sich demnach auch, wenn ein Land bei der Produktion aller Güter dem Ausland unterlegen ist. Werden die Produktionskosten zweier Güter für zwei Länder miteinander verglichen, so kann das Land mit den für beide Güter zusammen absolut höheren Produktionskosten trotzdem ein günstigeres Kostenverhältnis haben, nämlich den komparativen Kostenvorteil, der seine Ursache in Produktivitätsunterschieden oder unterschiedlicher Ausstattung mit Produktionsfaktoren haben kann.“ (Quelle)

Auch der Verbraucher ist in der Logik des Freihandels per se Gewinner, denn ein höherer Wettbewerbsdruck auf den Märkten und eine Produktion zu geringeren Kosten führen der ricardianischen Theorie in funktionierenden Märkten zu sinkenden Preisen. Die Nachfrage steigt dadurch, die Produktion weitet sich aus, die Beschäftigung steigt, die Arbeitslosigkeit sinkt, das Volkseinkommen steigt, die Nachfrage steigt, die Unternehmensgewinne sprudeln, … Das klingt doch nach einem tollen wirtschaftsliberalen Plan, wie man ihn im Wahlprogramm der FDP finden könnte. Fraglich bleibt jedoch, ob diese neokapitalistische Theorie in einer digitalisierten Welt und mit Wirtschaftssektoren fast ohne Produktionskapazitätsgrenzen Gültigkeit beanspruchen kann. Man denke an Cloud-Hosting, virtuelle Güter und mehr – wie sollte es in diesem nahezu personallosen und extrem gut skalierbaren Wirtschaftssektor noch komparative Kostenvorteile geben?

... und der Staat?

Hier kommt der Casus knacksus: Durch das Wirtschaftswachstum steigen auch die Unternehmensgewinne und die Steuern darauf. Bedeutsamer für den Staatshaushalt sind allerdings die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer, die beispielsweise im Jahr 2020 in Deutschland fast ein Viertel der Gesamtsteuereinnahmen ausmachten.

Wenn allerdings durch den freien Binnenmarkt Waren von Drittstaaten an Verbraucher im jeweiligen Land gelangten, fiel durch großzügige Schwellenwerte die Mehrwertsteuerpflicht häufig in das Land des Unternehmers statt dass sie im Land des belieferten Verbrauchers fällig wurde. Dies war insbesondere Staaten mit höheren Mehrwertsteuersätzen als in Deutschland seit Jahren ein Dorn im Auge, bedeutete es doch für die ohnehin wirtschaftlich starken deutschen Unternehmen einen weiteren Wettbewerbsvorteil. Schließlich kann ein deutsches Unternehmen, das vom Verkaufserlös nur 19 % Umsatzsteuer an den Fiskus abführt, einen günstigeren Preis anbieten als ein ungarisches Unternehmen, das 27 % Umsatzsteuer abführen muss. Die Folge: Die Ungarn kaufen lieber – Internet sei dank - im Ausland als auf dem heimischen Markt. Dieses Verhalten schwächt Wirtschaft und Beschäftigung in Ländern mit höheren Mehrwertsteuersätzen und führt nicht nur zu geringen Mehrwertsteuereinnahmen, sondern auch zu geringen Gewinnsteuern von Unternehmen.

Mit einer neuen EU-Verordnung gilt deshalb zur Behebung dieses Missstands seit dem 1. Juli 2021 ein einheitlicher, geringerer gesamteuropäischer Schwellenwert von nur noch 10.000 €, was bedeutet: Überschreitet ein Unternehmen mit seinen Verkäufen an EU-Endverbraucher den Wert von 10.000 €, so ist er im Land seines Kunden und zum Steuersatz des Lands in dem sein Kunde wohnt, steuerpflichtig. Das macht insofern Sinn, dass die Mehrwertsteuer eine Konsumsteuer ist und vom Endverbraucher zu zahlen ist.

Was erstmal fair und sinnvoll klingt, ist in der Umsetzung extrem herausfordernd trotz des neu geschaffenen einheitlichen Dienstes im Portal des Bundeszentralamts für Steuern, "BOP", über das ein registriertes Unternehmen zentral seine Umsätze für alle EU-Exporte melden und seiner Mehrwertsteuerverpflichtung nachkommen kann. Neben dem buchhalterischen Mehraufwand stehen vor allem kleine Onlinehändler künftig vor der Herausforderung der korrekten Preisauszeichnung: „Für Kunden aus Luxemburg zahlen wir nur noch 17 % Mehrwertsteuer, für solche aus Ungarn 27 %. Wie sollen wir auf dieser Basis unsere Brutto-Verkaufspreise kalkulieren? Wenn wir nicht mit einer variablen Gewinnmarge leben können, bleibt uns nur, für jeden EU-Mitgliedsstaat einen unterschiedlichen Preis auszuweisen – oder den Versand in Länder mit höheren Mehrwertsteuersätzen einzustellen“, berichtet Michael Kramer von Surf Shop Windstärke 7 von den Umsetzungsproblemen.

Gerade in der Elektronik-Branche, in der traditionell ein hoher Wettbewerbsdruck und geringe Margen vorzufinden sind, wird diese Herausforderung noch Kopfzerbrechen bereiten. Hinzu kommt, dass nicht nur die Mehrwertsteuersätze EU-weit stark divergieren, auch die Steuerklassen weichen stark voneinander ab, ganz zu schweigen von der unterschiedlichen Zuordnung von Artikelgruppen zu Steuerklassen. Mit einem von unzähligen Praxis-Beispielen bringt der Buchhaltungs-Dienstleister Taxdoo die Komplexität auf den Punkt:

„Diese von vielen Mitgliedstaaten voll ausgenutzte Bandbreite an Steuersätzen macht die Bestimmung des korrekten Steuersatzes im Rahmen der Neuregelung zum 1.7.2021 besonders herausfordernd für den Online-Handel. Das Beispiel Kaffee verdeutlicht das Problem recht gut. In Deutschland wird Kaffee wie viele andere Lebensmittel ermäßigt besteuert: mit 7 Prozent. In Frankreich gilt ebenfalls eine ermäßigte Besteuerung. Allerdings gibt es dort drei Möglichkeiten: 2,1 Prozent, 5,5 Prozent und 10 Prozent. Die Wahrheit liegt in diesem Beispiel in der Mitte: bei 5,5 Prozent. Wie kann nun ein/e Onlinehändler*in mit einem Sortiment von 5.000 Produkten und Steuerpflichten in allen EU-Staaten ab dem 1.7.2021 für alle 5.000 Produkte und alle EU-Staaten rechtssicher die Steuersätze bestimmen?“ (Quelle)

Ist das noch Binnenmarkt?

Angesichts der Komplexität der Thematik und der teils widersprüchlichen Gemengelage zwischen EU-Vorschriften und nationaler Gesetzgebung wird die Mehrwertsteuerreform weiterhin in vielen Unternehmen steuerlichen und rechtlichen Beratungsbedarf auslösen, Technik-Investitionen erfordern und bürokratische Hürden aufbauen – und den einen oder anderen Händler derart überfordern, dass er für das Auslandsgeschäft das sprichwörtliche Handtuch wirft. So gesehen ist die Mehrwertsteuerreform zwar aus Gründen der Steuergerechtigkeit unter den EU-Mitgliedsstaaten legitim. Die Praxisprobleme scheinen allerdings derart umfangreich und komplex, dass man sich fragen muss, ob die Reform nicht unbeabsichtigt zu einer Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit führt, die durch die EU-Verträge gemäß Art. 34 AEUV grundsätzlich verboten ist. Ausgenommen von diesem Verbot sind nur erforderliche Maßnahmen, die dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechen. War die Mehrwertsteuerreform erforderlich, verhältnismäßig und nicht mit weniger Einschränkungen möglich?

Harmonisierung als Voraussetzung

In diese Problematik reiht sich eine allgemeine Tendenz der Entglobalisierung ein, die nicht erst seit der Lieferkettenunterbrechungen durch die Covid-19-Pandemie stattfindet. Auch die nationalstaatlichen Vorgaben zur Verpackungslizensierung stehen unkoordiniert nebeneinander und sorgen für bürokratischen Aufwand und Kosten, die teils pauschal berechnet werden. Warum die EU es nicht schafft, die Regeln zu harmonisieren und hier ein EU-weites einheitliches Verpackungslizensierungssystem zu etablieren oder aber jedes Unternehmen seine Verpackungen vollständig im eigenen Land lizensieren zu lassen, bleibt unverständlich.

Ebenso kann man die Mehrwertsteuerreform als übereilt und zu früh betrachten. Würde man zunächst endlich EU-weit die Mehrwertsteuerregeln und -sätze harmonisieren, würde eine Besteuerung unbürokratischer und effizienter umsetzbar sein. Dieses Ziel der Steuerharmonisierung steht ohnehin seit Jahren auf der Agenda des EU-Parlaments, ohne dass sich hier bisher nennenswerte Fortschritte verzeichnen lassen.

Würde man das Ziel der Steuerharmonisierung endlich konsequent angehen, wäre es denkbar, dass die Notwendigkeit einer Besteuerungsreform entfallen würde, da einheitliche Steuersätze zumindest wettbewerbstechnisch unproblematisch wären.

Auswirkungen für den Verbraucher

Ein Fazit ist für mich jedenfalls ziemlich klar: Die Mehrwertsteuerreform wird zwar zu mehr Steuergerechtigkeit und einem faireren Wettbewerb in der EU führen, sich aber nicht zum Vorteil der Verbraucher auswirken, sondern eher steigende Konsumgüterpreise bewirken: Einerseits dadurch, dass gestiegene Bürokratiekosten der Unternehmen auf die Produktpreise umgelegt werden müssen, andererseits durch eine Extensivierung des Wettbewerbs. Passend zur Fußball-Europameisterschaft der Eigentore reiht sich die EU hier mit einem weiteren Eigentor ein. Hoffen wir, dass es vorerst das letzte bleibt.

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