Zwei Stunden voller politischer Kampfansagen sind an diesem Freitagabend in Frankfurt vergangen, da kommt Janine Wissler noch mal auf die Bühne – und mit ihr die weibliche Politprominenz der Linkspartei: Katja Kipping und Sahra Wagenknecht. Tausend Zuhörerinnen applaudieren. Wissler stellt sich zwischen die zerstrittenen Spitzenfrauen, verteilt Geschenke und ein Lächeln. Kann sie den Riss, der durch ihre Partei geht, kitten?
Eigentlich hat Wissler gerade andere Aufgaben, in ihrer Heimat steckt sie mitten im Wahlkampf. Seit fünf Jahren wird Hessen von einer schwarz-grünen Koalition regiert. Doch laut Demoskopen fehlt ihr zukünftig die Mehrheit, ebenso könnte es für eine Große Koalition nach der Wahl am 28. Oktober knapp werden. Möglich erscheinen in dem Sechs-Parteien-Landtag wiederum Grün-Rot-Rot, eine Ampel oder Jamaika. Es wird also um jede Stimme gekämpft. Mittendrin: Janine Wissler, linke Spitzenkandidatin. Ihre Partei liegt in Umfragen bei acht Prozent – im Vergleich zu anderen westdeutschen Ländern ein Erfolg. Das verdankt die Linke auch ihrer wortgewaltigen Spitzenfrau. Im Wiesbadener Landtag hat niemand so viele Redebeiträge wie sie – und als die CDU sie dort als „Kalaschnikow“ verspottete, entgegnete Wissler beherzt: „Dann hören Sie einmal gut zu, Schrotflinte, was ich Ihnen hier zu sagen habe.“
Janine Wissler hat in Frankfurt Politik studiert und als Aushilfe im Baumarkt gearbeitet, worauf sie besonders Wert legt. Als Studentin wurde sie erstmals in den Landtag gewählt, dem die erst 37-Jährige nun seit über zehn Jahren angehört, genauso lange wie ihre Partei. Wissler war dabei, als die Linke 2008 eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Andrea Ypsilanti tolerieren wollte und vier SPD-Abgeordnete das Vorhaben zunichtemachten. Und sie hat mitverhandelt, als Rot-Grün-Rot vor fünf Jahren erneut scheiterte. Die Grünen sitzen nun mit der einst verfeindeten CDU am Kabinettstisch.
Der Flughafenausbau, die sinkende Zahl von Sozialwohnungen, auch an diesem Abend in Frankfurt bekommen die Grünen ihr Fett weg. Wissler erntet dafür tosenden Applaus. Sie sagt aber auch: „Ein Politikwechsel wird nicht an uns scheitern.“ Je nach Umfrage knabbert Grün-Rot-Rot knapp an einer Mehrheit. Doch können die Beteiligten es noch mal wagen? Wissler gibt sich im Gespräch betont skeptisch: „Die Differenzen sind nicht kleiner geworden.“ Sie würde es trotzdem versuchen, sollte das Bündnis unter grüner oder unter SPD-Führung möglich sein. „Aber nicht um jeden Preis.“
Obwohl Wissler auch innerhalb der Linken als links gilt und der trotzkistischen Plattform Marx21 angehört, ist sie eben auch pragmatisch – aber bisher nur so sehr, dass sie ihre Glaubwürdigkeit nicht verliert. Vor allem pocht sie auf offene Kapitalismuskritik: „Wir müssen wieder mehr Utopien auf die Tagesordnung setzen. Es geht darum, wie sich Gesellschaft und Wirtschaft wirklich demokratisch organisieren lassen, wie Arbeit und Einkommen gerecht verteilt werden und ob wir für den maximalen Ressourcenverbrauch die Umwelt zerstören wollen.“
Klingt gut, doch lässt sich das ins landespolitische Klein-Klein übersetzen? Janine Wissler kann das: „Um die Wohnungsnot zu beenden, muss man die Eigentumsverhältnisse verändern.“ Die Linke setzt im Wahlkampf vor allem auf mehr bezahlbaren Wohnraum, den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und den Kampf gegen Kinderarmut. „Um die Verkehrswende durchzusetzen, muss man sich mit der Autoindustrie anlegen. Und wer das Klima schützen will, darf nicht den Flughafen ausbauen.“ Nur: Lässt sich das in der Opposition beeinflussen?
Auch dort habe die Linke einiges erreicht, findet Wissler, „und die wichtigen gesellschaftlichen Fortschritte sind ohnehin außerparlamentarisch erkämpft worden“. Die FAZ schreibt deshalb, Wissler halte „nicht viel vom Parlamentarismus“. Ganz so trifft das wohl nicht zu, aber die Berufspolitikerin ist den außerparlamentarischen Bewegungen stets treu geblieben. Das macht sie auch bei ihrem Auftritt in Frankfurt deutlich: Am selben Morgen war sie bereits bei den Streikenden von Ryanair. Sie hat keine Berührungsängste, ist auf fast jeder linken Demonstration zu sehen. „Wir als Partei müssen stark auf die Selbstemanzipation der Menschen und auf Bewegungen setzen.“
Apropos: Als Sahra Wagenknecht in Frankfurt für ihre Sammlungsbewegung „Aufstehen“ wirbt, stößt das im Saal auf geteilte Reaktionen – manche stehen auf, die meisten bleiben sitzen. So auch Janine Wissler. Im persönlichen Gespräch zeigt sie sich dabei diplomatisch: „Ich setze mehr auf Bewegungen wie die Seebrücke, die Proteste gegen rechts, Arbeitskämpfe oder Klimaproteste.“
Im innerparteilichen Streit um Migrationspolitik spricht sich Wissler klar für offene Grenzen aus. „Das ist doch auch eine Klassenfrage: Wer mit dem Schlauchboot nach Europa kommt, wird daran gehindert, wer mit dem Privatjet einreist, muss kaum Kontrollen fürchten“, sagt sie und ergänzt: „Ich habe eher Angst vor geschlossenen Grenzen.“
Trotz ihrer klaren Position hat sie es geschafft, bei der Wahl zur stellvertretenden linken Bundesvorsitzenden so gut abzuschneiden wie niemand anders – und das auf einem Parteitag, auf dem der Disput zwischen den Lagern von Wagenknecht und Kipping erneut eskalierte. Auch die Bundespartei setzt große Hoffnungen in Janine Wissler. Sie hat die Fähigkeit, zu bewegen und gleichzeitig zu verbinden: Pragmatismus und Radikalität, große Utopien und Landespolitik – und an diesem Abend sogar Sahra Wagenknecht und Katja Kipping. Vielleicht schafft sie das ja auch noch mit der SPD und den Grünen.
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