Einst war die Aufregung groß in der Mitte Deutschlands. Als in Hessen im September 2013 ein neuer Landtag gewählt wurde, stand schnell fest: Die schwarz-gelbe Koalition hatte ausgedient – doch wer sollte nun regieren? Mit elf Prozent der Stimmen wurden die Grünen zum Zünglein an der Waage. Statt für ein rot-grün-rotes Linksbündnis entschieden sie sich für die zweite schwarz-grüne Koalition auf Landesebene nach einem Intermezzo in Hamburg zwischen 2008 und 2010. Seit bald acht Jahren regieren die Grünen nun mit der ihnen einst verhassten, als besonders nationalkonservativ verschrienen „Stahlhelm“-CDU.
Doch entgegen den Unkenrufen, die dem Bündnis ein baldiges Scheitern voraussagten, erscheint die Zusammenarbeit seit Anbeginn als harmonisch. Weil die ungleichen Partner ihre Meinungsverschiedenheiten lieber intern statt öffentlich austragen. Und weil sie Kompromisse machen müssen.
Doch zu welchem Preis? Was hat die Koalition wirklich erreicht, wo konnten die Grünen Akzente setzen? Wie steht es insbesondere um die das Klima betreffenden Politikbereiche? Taugt Hessen, das schon oft als politisches Versuchslabor der Republik galt, als Blaupause für Schwarz-Grün im Bund?
Energiewende
Sie ist eines der großen Versprechen der Grünen: die Energiewende. Dafür hat die Partei hart mit der CDU verhandelt – im Ergebnis wurden die Bereiche Energie und Verkehr dem (grünen) Wirtschaftsministerium zugeschlagen. Zudem wurde im ersten Koalitionsvertrag vereinbart, dass Hessen seinen Verbrauch an Strom und Wärme bis 2050 komplett aus erneuerbaren Energien decken will.
Zentraler Baustein dieses Wandels ist die Windkraft. Inzwischen werden in Hessen mehr als 1.100 Windkraftanlagen betrieben – Ende 2013 waren es noch 684. In dieser Zeit konnte der Anteil erneuerbarer Energien an der hessischen Stromerzeugung auf über 50 Prozent verdoppelt werden. Allerdings kam der Ausbau der Windkraft in den vergangenen Jahren wie in großen Teilen Deutschlands auch in Hessen ins Stocken. Proteste und lange Gerichtsverfahren waren dafür ebenso verantwortlich wie fehlender Rückenwind aus dem Bund.
Die hessischen Grünen indes versuchen gegenzusteuern: So kann der Mindestabstand von 1.000 Metern zwischen Wohnhäusern und Windanlagen in Hessen im Einzelfall unterschritten werden. Im Interesse der Energiewende haben die Grünen Anfang dieses Jahres sogar den Artenschutz herabgestuft. Seither verhängten Gerichte aber mehrere Baustopps für Windkraftanlagen, da in der Nähe seltene Vögel nisten. Daraufhin kündigten die Grünen im Mai an, das bisher geltende absolute Tötungsverbot von bedrohten Tieren im Einzelfall überdenken zu wollen. Viele Grüne fühlen sich dem Tierschutz verbunden. Ob die Partei unbeschadet aus diesem Dilemma herauskommt?
Umwelt & Natur
Hessen ist grün: Über 42 Prozent des Landes sind mit Wald bedeckt, so viel wie in keinem anderen Bundesland. Damit das so bleibt, haben die Grünen zu Beginn ihrer Regierungszeit auf eine nachhaltige Bewirtschaftung des hessischen Staatswaldes gesetzt. Zehn Prozent dieses Waldes erklärte die grüne Umweltministerin Priska Hinz vor zwei Jahren zu Naturwäldern – dort ist das Holzfällen nun tabu. Zudem wurden zahlreiche Maßnahmen zum Artenschutz ergriffen. Einen Spitzenplatz nimmt Hessen auch beim Ökolandbau ein: Wird bundesweit nur ein Zehntel der Agrarfläche ökologisch bewirtschaftet, konnten die Grünen diesen Anteil in Hessen auf 16 Prozent steigern; bis 2025 sollen es 25 Prozent werden. Selbst die konservative Konrad-Adenauer-Stiftung urteilt, in der Umweltpolitik und der Landwirtschaft sei eine „spezifisch grüne Handschrift“ erkennbar.
Dennoch enden Umweltschutz und Ökologie auch in Hessen meist dort, wo die Interessen der Wirtschaft beginnen. Das zeigt sich am Frankfurter Flughafen, für dessen Ausbau viele Wälder gerodet wurden, und an der Flächenversiegelung. Während der BUND fordert, für jede neu versiegelte Fläche eine andere der Natur zu übergeben, schießen riesige Logistikzentren und Gewerbegebiete aus dem Boden. So werden in Hessen etwa drei Hektar zusätzlich versiegelt – pro Tag. Ebenso kritisiert der hessische BUND-Chef Jörg Nitsch, dass Hessen seinen CO₂-Ausstoß in den vergangenen Jahren „praktisch nicht“ gesenkt habe. „So wird kein angemessener Beitrag zum Erreichen des Pariser Klimaziels geleistet.“
Gesellschaft
Die Grünen geben sich progressiv und weltoffen. Glaubt man aber dem Existenzialisten Jean-Paul Sartre, der notierte, „Wirklichkeit“ gebe es „nur in der Tat“, dann ist die grüne Wirklichkeit weniger progressiv. Zwar existieren ein Aktionsplan für Akzeptanz und Vielfalt, eine Antidiskriminierungsstelle und der Wille, ein Cannabis-Modellprojekt zu unterstützen. Wurde es politisch heikel, blieb davon aber nicht viel übrig.
Als Konsequenz aus dem Behördenversagen im NSU-Komplex, dessen Aufklärung die CDU immer wieder behinderte, sollte der Verfassungsschutz stärker kontrolliert werden – am Ende stimmten die Grünen gegen eine Freigabe der NSU-Akten und für eine Ausweitung der Überwachung samt staatlicher Spionage-Software. Das verärgerte die Basis – da hilft es auch nicht, dass die hessische Polizei jetzt teils mit Elektroautos fährt. Untätig blieb die Partei, als es um die Morddrohungen des „NSU 2.0“, um rechtsextreme Netzwerke in der hessischen Polizei und um Nazi-Chats beim Frankfurter SEK ging.
2015 verließ Mürvet Öztürk, Sprecherin für Integration und Migration, die Grünen-Fraktion – aus Protest gegen die schwarz-grüne Asylpolitik: „Auf Bundesebene fordern die Grünen das Richtige. Doch wichtig ist, was in den Ländern geschieht, wo wir Regierungsverantwortung haben.“ Der umstrittenen Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes stimmten Baden-Württemberg und Hessen 2019 im Bundesrat zu, inklusive einer Kürzung der Bedarfssätze. Und Hessen schiebt Menschen selbst während Corona in Kriegs- und Krisengebiete ab.
Wirtschaft & Finanzen
Bereits im Wahlkampf 2013 setzten die hessischen Grünen im Vergleich zur Bundespartei auffällig stark auf das Thema Wirtschaft. Tarek Al-Wazir kündigte an, „mit grünen Ideen schwarze Zahlen“ schreiben zu wollen, und erhob Anspruch auf das Wirtschaftsministerium. Seither hat der Offenbacher die Wirtschaft weder komplett ruiniert, wovor Hessens CDU warnte, noch hat er eine echte sozialökologische Transformation eingeleitet.
Hessen gehört dank seiner Industrie, dem Verkehrs- und dem Finanzsektor zu den ökonomisch stärksten Ländern, hier gab es 2020 die viertniedrigste Arbeitslosenquote, das fünftgrößte Bruttoinlandsprodukt und die zweithöchsten Löhne. Bei der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung ist das Land vom bundesweit dritten Rang (2010) auf den fünften (2020) abgerutscht. 2019 verzeichnete Hessen unter allen Flächenstaaten die höchsten öffentlichen Bildungsausgaben in Relation zur Bevölkerung.
Ansonsten setzte Schwarz-Grün im Sinne der 2011 beschlossenen Schuldenbremse vor allem bei den Landesbediensteten den Rotstift an und legte 2016 erstmals seit 1969 einen ausgeglichenen Haushalt vor. Um die Einnahmen zu steigern, wurde die Grunderwerbsteuer auf den deutschlandweit zweithöchsten Wert gehoben. Klammen Kommunen bot die Landesregierung mit dem bundesweit einzigartigen Programm „Hessenkasse“ an, ihre Schulden zu übernehmen.
In der Corona-Krise wurde der Sparkurs dann (vorübergehend) gekippt. Dadurch, findet Robert Lippmann von der hessischen Industrie- und Handelskammer, seien „durchaus Impulse gesetzt“ worden.
Verkehrspolitik
Am Flughafen Frankfurt zeigt sich besonders deutlich, wie weit grüner Anspruch und schwarz-grüne Wirklichkeit auseinanderklaffen. Seit den Kämpfen um die Startbahn West in den 1980ern gehörte der Widerstand gegen Deutschlands größten Airport zur grünen Seele. Noch im Wahlkampf 2013 hatte der grüne Spitzenmann Tarek Al-Wazir gesagt, mit ihm werde es kein neues Terminal geben. Zwei Jahre später folgte der Spatenstich. Auch ihre Versprechen eines Nachtflugverbots zwischen 22 und 6 Uhr sowie von weniger Flugbewegungen haben die Grünen nicht eingelöst: Gab es 2013 noch gut 470.000 Starts und Landungen, waren es 2019 schon knapp 514.000. Geht es nach der Luftfahrtindustrie, hat die Corona-Krise diesen Wachstumskurs nicht ge-, sondern nur unterbrochen.
Auch abseits des Flughafens ist die Bilanz grüner Verkehrspolitik durchwachsen. Zwar wurden Fahrradwege massiv ausgebaut und der öffentliche Personennahverkehr gefördert, beim Straßenbau setzen die Grünen eher auf Sanierung statt auf Neubau. Doch zugleich butterte die Landesregierung trotz hoher Defizite und geringer Auslastung viele Millionen in den Regionalflughafen Kassel-Calden. Und dann ist da noch der Bau der Autobahn 49, den sogar die Bundesgrünen ablehnten. Ende 2019 besetzten Umweltaktivistinnen öffentlichkeitswirksam den Dannenröder Wald und versuchten, die Abholzung des 250 Jahre alten Mischwaldes zu verhindern – vergeblich. Es war fast wie damals beim Widerstand gegen die Startbahn West – nur, dass die Grünen diesmal auf der anderen Seite standen.
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