Die Gralshüterin

Viviane Reding Ihr Disput mit Frankreichs Staatschef beförderte sie ins Rampenlicht. Wer ist die Frau, über die Paris zürnt?

Vielleicht hätte Nicolas Sarkozy in letzter Zeit nochmal einen Blick auf die Website der EU-Kommission werfen sollen – dann wäre er zumindest weniger überrascht gewesen. Darüber, dass sich Viviane Reding vergangene Woche der Roma-Politik seiner Regierung in den Weg stellte. Und vor allem über die Vehemenz, mit der sie das tat. Er hätte gewarnt sein können.

Die Vizepräsidentin Reding, eine Liebhaberin randloser Brillen und voluminöser Föhnfrisuren, präsentiert sich im Netz als „Hüterin der Charta der EU-Grundrechte“. Sie, die innerhalb des Gremiums für Justiz, Bürgerschaft und eben besagte Grundrechte zuständig ist, will das Dokument zum „Kompass aller EU- Politik“ machen und besonders die Bewegungsfreiheit innerhalb der Union fördern.

Diesem Bekenntnis stellt die Luxemburgerin noch eine Kampfansage zur Seite: „Null Toleranz“ werde sie aufbringen, sollten die dort zugesicherten Rechte verletzt werden. Die 59-jährige Christdemokratin – und längst nicht nur sie – ist der Ansicht, die Pariser Regierung mache sich mit der Räumung der Roma-Camps und der Abschiebung ihrer Bewohner eines solchen Verstoßes schuldig. Nicht allein aufgrund der im Lissabon-Vertrag garantierten Freizügigkeit von EU-Bürgern, sondern auch wegen einer zunächst verdeckt gehaltenen Anweisung: Die Lager der Roma, so hatte es die Pariser Politik intern angeordnet, hätten demnach beim Vorgehen gegen nicht registrierte Niederlassungen Priorität.

Turbulente Woche

Damit wurde die Ankündigung auf der Website zur Blaupause einer turbulenten Woche in Brüssel: Redings inzwischen legendäre „Genug-ist-genug“-Rede, der drastische Tonfall – „Schande“ – , in dem sie sich die französische Regierung vornimmt und ihr mit einem Strafverfahren droht. Schließlich der Vergleich der Abschiebepraxis mit Deportationen im Zweiten Weltkrieg. Und all das gefolgt von verletzten Pariser Befindlichkeiten auf einem ziemlich hektischen Gipfeltreffen.

Ein gewisser Ruf als harter Knochen ging Viviane Reding schon voraus, als sie 1989 ihren Sitz in der Luxemburger Abgeordnetenkammer gegen einen der blauen Sessel im EU- Parlament eintauschte. In der Chrëschtlech Sozial Vollekspartei (CSV) hatte sie eine steile Karriere hingelegt, war bereits mit Ende 20 ins Parlament eingezogen, saß dort dem Sozialausschuss vor und wäre zehn Jahre darauf eigentlich reif für höhere Weihen gewesen. Doch während der noch etwas jüngere Parteikollege Jean-Claude Juncker es bereits zum Minister gebracht hatte, war Redings Luxemburger Karriere schnell vorbei. Im Großherzogtum hieß es, man hätte die forsch auftretende Jungpolitikerin nach Brüssel entsorgt, da es ihr an den im Kleinstaat so nötigen Konsensqualitäten gemangelt habe. Dafür steht auch der noch heute bekannte Spitzname „Muppeschnöss“ (Hundeschnauze), den ihr eine Satirezeitschrift verpasste.

Schärfe in Inhalt und Ausdruck erwarb sich die an der Pariser Sorbonne promovierte Humanwissenschaftlerin nicht zuletzt als politische Journalistin beim konservativen Luxemburger Wort. In den späten siebziger Jahren agitierte die führende Tageszeitung des Landes heftig gegen die damalige linksliberale Regierung – der einzigen nach dem Zweiten Weltkrieg ohne CSV-Beteiligung. Im Kreis einiger junger Schreiber tat sich besonders die junge Reding, anders als Juncker dem konservativen Parteiflügel zugehörig, dabei hervor, mit den gesellschaftlichen Reformen nach 1968 abzurechnen. Es ist so gesehen nicht ohne Ironie, dass sie dieser Tage noch mit einem weiteren Thema Schlagzeilen macht: der Forderung nach einer Quote für Frauen in Spitzenpositionen. Doch immerhin ist sie heute auch geschiedene dreifache Mutter.

Inventar der europäischen Bühne

Viviane Redings früher Wechsel auf die europäische Bühne brachte es mit sich, dass sie dort inzwischen zum personellen Inventar zählt. In zehn Jahren als EU-Abgeordnete stand sie mehreren Parlamentsausschüssen vor, ehe sie 1999 zur Kommission wechselte. Dort leitet sie als dienstältestes Mitglied inzwischen bereits das dritte Resort: Sie begann unter Romano Prodi mit Bildung, Kultur, Jugend, Medien und Sport. 2004 übernahm sie die Bereiche Informationsgesellschaft und Medien. In dieser Funktion machte sie vor allem von sich reden, als sie 2007 die Initiative zum Euro-Tarif startete, welche die Roaming-Gebühren für Handy-Gespräche innerhalb der EU begrenzt. Die damals erworbene Bekanntheit hat sie nun immerhin übertroffen.

Inwieweit Redings Disput mit Sarkozy politische Folgen haben wird, bleibt vorläufig offen. Zum einen, weil seither auch die Roma- Politik anderer Mitgliedsstaaten wie der Bundesrepublik und Belgien ins Blickfeld gerückt ist. Diese dürfte noch Thema werden, bevor die Kommission tatsächlich Strafmaßnahmen gegen Paris ergreift. Hinzu kommt, dass angesichts der verbreiteten Empörung über die Form der Inhalt von Redings Kritik etwas in den Hintergrund geriet. Und schließlich ist die politische Macht der Kommission aller rhetorischen Drohgebärden zum Trotz nach wie vor begrenzt.

Ausgeschlossen scheint dagegen, dass Viviane Reding mit ihrer Reaktion ein Signal setzen wollte, ihre politische Laufbahn doch noch in Luxemburg beenden zu wollen. Das Kräftemessen mit Paris brachte ihr zwar auch im Großherzogtum einige Schlagzeilen. Als Bewerbung auf eine etwaige Nachfolge von Premierminister Juncker, wie letzte Woche gemutmaßt wurde, war das jedoch nicht zu verstehen. Dafür ist Reding einfach schon zu lange in Brüssel.

Tobias Müller lebt in Amsterdam und berichtet für den Freitag regelmäßig über die Benelux-Staaten und das Brüsseler Geschehen

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden