Ganz am Rand

Soul Marvin Gaye als Waise, Ostende sein Waisenhaus oder: Jedem Wohnblock wohnt ein Zauber inne. Ausgerechnet in der belgischen Provinz schrieb Gaye seinen größten Hit

Die Schienen fressen sich westwärts durch die flachen Felder, am Himmel treiben Wolken über verfallende Bauernhöfe und über der letzten Autobahn des Kontinents, die parallel zur Bahnstrecke schnurgerade aufs Meer zurast. Die Vegetation geht gebückt unter dem Diktat des Windes. Was soll hiernach noch kommen? Wer über Land anreist, für den ist Ostende die letzte Station. Marvin Gaye dagegen kam damals mit der Fähre aus Dover. Aus dieser Perspektive ist das belgische Seebad ein Anfang, und was für einer. Von weitem schon erheben sich die Blocks der Betonpromenade aus der Nordsee. Einen neuen Anfang hatte der Sänger Anfang der Achtziger bitter nötig. Und Ostende war dessen Kulisse – in der man selbst zu Gayes 25. Todestag am 1. April noch viele Spuren von ihm findet.

„Mein Bruder holte Marvin im Frühjahr 1981 aus London herüber, um zur Ruhe zu kommen“, erinnert sich Restaurantbesitzer Eddy Cousaert im schweren Slang Westflanderns. Freddy, der Bruder, vor drei Jahren verstorben, war ein umtriebiger Avantgardist in dem bodenständigen Seebad. Seit den 60ern ließ er Stars wie Bobby Womack und Rufus Thomas in Ostende auftreten. Später trieb ihn die Jagd nach Soulplatten immer wieder nach London. Das Ergebnis präsentierte er Sonntagnachts im Groove, seinem Club in Ostende. Selbst aus Frankreich reisten damals die Gäste an. Vom Himmel fiel Marvin Gaye also nicht, als er in die Stadt kam. Und doch hatte seine Landung hier etwas astronautisches.

Boxen, Basketball, Beton

Von London in die belgische Provinz, wo das Groove-Publikum nur eine Minderheit war und ein Schwarzer in den Bars der Fischer eine Rarität. „Ein Schritt rückwärts, was das Tempo angeht, vielleicht auch zwei“, sagte der Sänger damals.

Marvin Gaye war zu diesem Zeitpunkt ein Schatten seines schillernden Selbst, menschliches Treibgut, verunsichert vom bröckelnden Erfolg, ohne Label nach der Trennung von Motown, angeschlagen durch seine Scheidung, ausgezehrt vom Koks, auf der Flucht vor dem US-amerikansichen Fiskus. „Eine Waise“, nannte er sich. „Und Ostende ist mein Waisenhaus.“ Anfangs, so Eddy Cousaert, ließ Gaye die Finger von den Drogen, joggte am Strand, boxte und spielte Basketball. Dann machte sich Bruder Freddy daran, ein Comeback zu organisieren. Ein Auftritt im Ostender Kursaal, einem Klotz mit Meerblick. Er arrangierte ein Studio in Brüssel, um das Album Midnight Love aufzunehmen. Gaye hatte neue Songs geschrieben, unter anderem fand er im grauen Ostende die Inspiration zu Sexual Healing, auch wenn er sich in dieser Zeit Enthaltsamkeit verordnet hatte. Die Rückkehr an die Spitze der Charts brachte allerdings auch Gayes koksende Entourage zurück.Visumprobleme setzten seinem Exil ein plötzliches Ende.

Käfer voll fröhlicher Kokser

Eine Reihe von Porträtfotos an den Wänden Ostender Bars führen heute zu den Spuren Marvin Gayes. Zum Jazzcafé Lafayette zum Beispiel, einer Oase inmitten radikalmediokrer Alleinunterhalter für Rentner und Sauftouristen. Zu Marvin‘s Room, einem Lokal am Hafen, dessen Besitzer erst seinem Sohn Gayes Vornamen gab und dann dessen Joggingpartner wurde. Oder zu Jan’s Café, schräg gegenüber vom Kursaal, in dem sich der Sänger oft beköstigen ließ. „Ein Feinschmecker war Marvin nicht“, erinnert sich der Inhaber. „Er kam nur abends zum Essen, tagsüber schlief er viel.“ Als der neue Plattenvertrag einen Vorschuss lieferte, ließ Gaye alte Freunde nach Ostende kommen, und man richtete sich ein in einem Rhythmus, der ein paar Schläge neben dem Takt dieses Ortes lag. Eine urban-polyglotte Musikermeute vor dem Hintergrund des Dämmerzustands, in dem Ostende die Zeit jenseits der Hauptsaison verbringt. Flamboyanz in Flandern.

„Für die hiesigen Normen trieb er es zu bunt.“ Charles Dumolin muss das wissen, er ist schließlich ein Kind der Gegend, war in den frühen Siebzigern als Mitglied der Band Lester and Denwood selbst ein Popstar in Belgien, und legt Wert darauf, „kein durchschnittlicher Westflame“ zu sein. Dieser Menschenschlag, so Dumolin, störte sich etwa an einem VW Käfer voller Afroamerikaner, der ohne Nummernschild herumfuhr und dessen Insassen der Polizei freundlich entgegneten, ein Auto bräuchte doch kein Kennzeichen, um zu fahren. Dumolin grinst. Damals wohnte er mit seiner Familie auf einem Gehöft im Küstenhinterland. Als Gaye in der Stadt für zu viel Ärger sorgte, zog er in Dumolins Nachbarhaus.

Ausladend liegt die helle Villa mit ihren Seitenflügeln hinter dem Zaun an der kaum befahrenen Dorfstraße. Ein halbes Jahr lang bewohnte Gaye 1982 mit seinen beiden Kindern Bubby und Nona das Anwesen in dem Weiler mit Namen Moere. Kaum mehr als 1.000 Bewohner zählte der Ort damals, sagt Antoon Vermeulen. Sein Laden ist seit 1969 einer der sozialen Knotenpunkte des Dorfs. Zwölf Quadratmeter, bis unter die Decke vollgestopft mit Konserven, Wein, Plastikblumen und Süßigkeiten.

Vermeulen erinnert sich gut an den Sänger im langen, schwarzen Mantel, der hier seine Zigaretten holen kam. „Oft wartete er draußen und ließ seine Freundin die Einkäufe machen, eine große, blonde Holländerin“, sagt der Händler. Gaye hatte die Frau nach einem Konzert in Amsterdam getroffen. In Moere fungierte sie als seine Verbindung zur Außenwelt. Denn, so Vermeulen, „wer konnte damals schon Englisch hier auf dem Land?“

Charles Dumolin, heute 57, hatte diese Probleme nicht. Selbst ein Zugezogener, machte er aus dem Nachbarn schnell einen Freund. „Unsere Kinder spielten zusammen, wir sprachen viel über Politik und Religion. Ich sah in ihm keinen Star, sondern einen Musiker, der Probleme hatte. Er saß echt in der Scheiße, bankrott – haufenweise Alimente, die er zahlen musste. Und dann dachte er sich wahrscheinlich: Was zum Teufel mache ich eigentlich hier?“

Gaye vertrieb sich die Zeit. Er spielte Fußball mit Dumolins Nachwuchs, schrieb Teile von „Sexual Healing“ an dessen Küchentisch. Und er setzte sich gerne ins Baumhaus, das der Nachbar für seine Kinder gebaut hatte. In einer dicken Mappe bewahrt Dumolin heute die Erinnerungen. Briefe, ein wütender Schriftverkehr mit dem Motown-Büro, die Bestätigung des Deals mit der neuen Plattenfirma. Dazu Skizzen von Songtexten, ein Polaroid von Gaye auf einer Kinderparty mit roter Pappnase – und der Entwurf seines Testaments. „Im Falle meines Todes“, beginnt Gaye, und sorgt sich um die Rechte an Songs und unveröffentlichten Masterbändern. „Ich habe Angst davor, was Motown damit macht.“

Ob sich Gaye in Ostende mit Suizidgedanken herum schlug, weiß auch sein alter Freund und Nachbar nicht zu sagen. Sein komplexer Charakter, oft als 'zerrissen' beschrieben, zeigte sich jedenfalls gerade in seinem Ostender Exil deutlich.Charles Dumolin sagt: „Marvin war stolz, er war traurig, er war bescheiden und stark, aber er hatte auch eine gewisse Überheblichkeit.“ All das steht seinem Abbild im Foyer des Kursaals ins Gesicht geschrieben. 2.500 Kilo wiegt die Bronzestatue, die Ostendes Stadtverwaltung 2004 bestellte – bei Dumolin selbst. „Der König des Soul machte Ostende zu seinem Zuhause“, behauptet die Sockelinschrift. Dabei wurde er hier eher angespült, wie so viele, die in Ostende stranden. Saisonarbeiter, Tramps, die Alleinunterhalter in den Spelunken – die Stadt ist voll mit ihren Geschichten. Gaye schaffte noch einmal den Absprung. Aber er kam nicht weit. Im Jahr 1984 wurde Marvin Gaye von seinem Vater erschossen, als er versuchte, einen Streit seiner Eltern zu schlichten.

Marvin Gaye betrat Ostende am Fähranleger. Der Kai liegt in der Stapelhuisstraat in der direkten Verlängerung des Bahnhofs. Auf der anderen Seite der Promenade findet sich das dem Sänger gewidmete Café Marvins Room (St. Petrus Paulusplein 10) am Platz der St. Petrus- und Paulus-Kirche, das von Dirk van der Horst, einem alten Freund Gayes, betrieben wird.

Ein 15minütiger Spaziergang entlang des Strands endent vor dem renovierten Kursaal (Monacoplein), wo Gaye 1982 eines seiner Comeback- Shows absolvierte. Auch der Videoclip zu Sexual Healing wurde hier aufgenommen. Im Foyer erinnert eine Bronzestatue an ihn. Weitere Informationen über den berühmtesten Bewohner Ostendes sind auch beim Toerisme-Büro (Monacoplein 2) schräg gegenüber erhältlich.

Wer von dort der Straße parallel zur Promenade wieder nach rechts folgt, landet nach wenigen Metern bei Jans Café (ehemals Bistro, Van Iseghemlaan 60), eine bevorzugte Adresse, wo Marvin Gaye mit ein paar Drinks den Abend einläutete. Für die gediegenste Musikselektion des ansonsten gewöhnungsbedürftigen Ostende empfiehlt sich die nahe gelegene Jazz Bar Lafayette (Lange Straat 12, im Herzen des kleinen Ausgehviertels).

Für den zweiten Teil von Gayes Leben in der flämischen Peripherie folgt man am Ortsausgang den Schildern nach Gistel. Die Landstraße zieht sich gut 10 Kilometer durch Weiden und Dörfer, bevor sie durch den Weiler Moere führt. Nach wenigen Hundert Metern folgt eine große Kreuzung. Links zweigt dort die Straße Moerdijk ab. Das erste große Anwesen auf der linken Seite ist die ehemalige Villa Marvin Gayes.

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